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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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ein "großer Staatsrat" als Vereinigungspunkt für die innern Landesbehörden
gebildet worden, aber mit so beschränkten Befugnissen, so abhängig vom könig¬
lichen Kabinet, daß Minister vom Stein jede Beteiligung ablehnte und sich mit
Krankheit entschuldigte. Von einer Tätigkeit dieser Behörde hat denn auch nichts
verlautet, Napoleon ersetzte sie schon am 3. November durch eine Gcneral-
administration. Aber auch in der unmittelbaren Umgebung des Königs hatte
unter den erschütternden Ereignissen der Dienst versagt. Es kam vor, so berichtet
Hüffer, daß der König, als er von Küstrin abreiste, die Vollmacht für Zastrow
nicht unterschrieben hatte, sodaß ein Feldjäger mit dem Schriftstück nachgesandt
werden mußte. Sogar die Schlüssel der Chiffern waren in Berlin vergessen
worden, und die eingehenden Depeschen konnten nicht einmal gelesen werden. Das
Schreiben, worin der König dem Kaiser Alexander von dem in Osterode ge¬
faßten Beschluß Kenntnis gab, ging erst fünf Tage nachher nach Petersburg
ab. Es mag dies daran gelegen haben, daß Haugwitz, der immer ein entschiedner
Gegner der Anlehnung an Nußland gewesen war, bis zur Entscheidung vom
21. November den auswärtigen Dienst versah und erst da um seine Ent¬
lassung bat.

Bei den obwaltenden Verhältnissen, unter denen Preußen ganz auf Rußland
angewiesen war, konnte freilich ein Minister nicht im Amte bleiben, gegen den
der Zar seine Abneigung und sein Mißtrauen so oft und so offen ausgesprochen
hatte. Hatte der russische Hof doch schon seit dem September wiederholt, auch
durch die Vermittlung der Königin, die Entfernung von Haugwitz, Beyme und
Lombard herbeizuführen gesucht. Überhaupt gingen neben den sorgenvollen Ent¬
scheidungen auf dem Gebiete der auswärtigen Politik und der militärischen Lage
die Kämpfe um die Gestaltung der obersten Negierungsinstanz in Preußen un¬
ausgesetzt fort. Bei der Entlassung von Haugwitz machten sich die Gegensätze,
die zur Denkschrift vom 2. September geführt hatten, von neuem mit voller
Kraft geltend. Schon am 20. November, also vor der Entscheidung in Osterode,
hatte der König Stein das Ministerium des Auswärtigen interimistisch antragen
lassen, "weil sich Graf Haugwitz um eines Augenleidens willen auf eine Zeit
lang von Geschäften zurückziehen müsse". Stein schlug den Gesandten in Peters¬
burg, Grafen von der Goltz, vor und später auf erneuten Antrag des Königs
Hardenberg, der bei dem Monarchen in voller Ungnade war, fügte aber
hinzu, eine Abhilfe in den Mängeln des Dienstes sei nur möglich, wenn der
König unmittelbar mit einem aus den Ministern zusammengesetzten Staatsrat
die Geschäfte leite. Der König gab zum Teil nach und ließ durch Beyme eine
Denkschrift ausarbeiten, der zufolge an Stelle des von Stein vorgeschlagnen
Staatsrath die Minister des Auswärtigen, des Krieges und ein Minister der
innern Angelegenheiten in einen: Conseil die wichtigsten Staatsangelegenheiten
mit dem König erledigen sollten. Nur die Hilfe eines Kabinetsrats wollte
der König nicht aufgeben und sich von Beyme nicht trennen, der zur Führung
des Protokolls und zur schleunigen Ausfertigung der königlichen Befehle an


ein „großer Staatsrat" als Vereinigungspunkt für die innern Landesbehörden
gebildet worden, aber mit so beschränkten Befugnissen, so abhängig vom könig¬
lichen Kabinet, daß Minister vom Stein jede Beteiligung ablehnte und sich mit
Krankheit entschuldigte. Von einer Tätigkeit dieser Behörde hat denn auch nichts
verlautet, Napoleon ersetzte sie schon am 3. November durch eine Gcneral-
administration. Aber auch in der unmittelbaren Umgebung des Königs hatte
unter den erschütternden Ereignissen der Dienst versagt. Es kam vor, so berichtet
Hüffer, daß der König, als er von Küstrin abreiste, die Vollmacht für Zastrow
nicht unterschrieben hatte, sodaß ein Feldjäger mit dem Schriftstück nachgesandt
werden mußte. Sogar die Schlüssel der Chiffern waren in Berlin vergessen
worden, und die eingehenden Depeschen konnten nicht einmal gelesen werden. Das
Schreiben, worin der König dem Kaiser Alexander von dem in Osterode ge¬
faßten Beschluß Kenntnis gab, ging erst fünf Tage nachher nach Petersburg
ab. Es mag dies daran gelegen haben, daß Haugwitz, der immer ein entschiedner
Gegner der Anlehnung an Nußland gewesen war, bis zur Entscheidung vom
21. November den auswärtigen Dienst versah und erst da um seine Ent¬
lassung bat.

Bei den obwaltenden Verhältnissen, unter denen Preußen ganz auf Rußland
angewiesen war, konnte freilich ein Minister nicht im Amte bleiben, gegen den
der Zar seine Abneigung und sein Mißtrauen so oft und so offen ausgesprochen
hatte. Hatte der russische Hof doch schon seit dem September wiederholt, auch
durch die Vermittlung der Königin, die Entfernung von Haugwitz, Beyme und
Lombard herbeizuführen gesucht. Überhaupt gingen neben den sorgenvollen Ent¬
scheidungen auf dem Gebiete der auswärtigen Politik und der militärischen Lage
die Kämpfe um die Gestaltung der obersten Negierungsinstanz in Preußen un¬
ausgesetzt fort. Bei der Entlassung von Haugwitz machten sich die Gegensätze,
die zur Denkschrift vom 2. September geführt hatten, von neuem mit voller
Kraft geltend. Schon am 20. November, also vor der Entscheidung in Osterode,
hatte der König Stein das Ministerium des Auswärtigen interimistisch antragen
lassen, „weil sich Graf Haugwitz um eines Augenleidens willen auf eine Zeit
lang von Geschäften zurückziehen müsse". Stein schlug den Gesandten in Peters¬
burg, Grafen von der Goltz, vor und später auf erneuten Antrag des Königs
Hardenberg, der bei dem Monarchen in voller Ungnade war, fügte aber
hinzu, eine Abhilfe in den Mängeln des Dienstes sei nur möglich, wenn der
König unmittelbar mit einem aus den Ministern zusammengesetzten Staatsrat
die Geschäfte leite. Der König gab zum Teil nach und ließ durch Beyme eine
Denkschrift ausarbeiten, der zufolge an Stelle des von Stein vorgeschlagnen
Staatsrath die Minister des Auswärtigen, des Krieges und ein Minister der
innern Angelegenheiten in einen: Conseil die wichtigsten Staatsangelegenheiten
mit dem König erledigen sollten. Nur die Hilfe eines Kabinetsrats wollte
der König nicht aufgeben und sich von Beyme nicht trennen, der zur Führung
des Protokolls und zur schleunigen Ausfertigung der königlichen Befehle an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/150>, abgerufen am 23.07.2024.