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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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führen zu können? Das ist das große Geheimnis unsrer Unentschlossenheit
und aller unsrer Verlegenheiten. Die preußische Monarchie ist nicht organisiert
wie andre Staaten. Bei uns müssen zur Kriegszeit alle Regierungszweige in
der Armee ihren Mittelpunkt finden. Der König kann demnach den Oberbefehl
keinem andern anvertrauen, er wäre nichts mehr, wenn er nicht an der Spitze
seiner Truppen erschiene. Nun wohl dieser König, den niemand so sehr schätzt
und anbetet wie ich, hat das Unglück, kein geborner General zu sein. So gut
wie andre sah auch er seit langer Zeit, daß der gegenwärtige Stand der Dinge
nicht dauern könne, daß er gern oder ungern den Degen ziehen müsse. Aber
er hat immer mit sich selbst kapituliert, immer hat er sich geschmeichelt, daß
irgendeine Katastrophe, unabhängig von seinen Entschlüssen, das Problem lösen
würde. Endlich, als die Verlegenheiten sich mehrten, als das ganze Land mit
lauter Stimme ein verändertes System forderte, als er den Augenblick kommen
sah, wo er mit seiner Meinung allein stehn würde, da gab er nach, doch ganz
gegen seinen Willen; dafür stehe ich ein." Lombard fügte weiter hinzu, daß
er von den düstersten Ahnungen gequält sei. Das Heer sei schön und tapfer,
doch wo sei der mächtige Geist, seine Bewegungen zu leiten. Zum Herzog von
Braunschweig könne man nicht länger Vertrauen haben, welche Vorstellung könne
man sich von seinen Plänen machen? Lombard war damals schwer leidend, an
Händen und Füßen gelähmt, sodaß er sich nur mühsam vou einem Stuhl zum
andern schleppen konnte. Er war darum einigermaßen im Recht, wenn er hinzu¬
fügte, er wünsche sich bei seiner Besorgnis über den Ausgang fast Glück wegen
seiner Gebrechen, weil sie ihm eine ehrenvolle Veranlassung gäben, sich zu ent¬
fernen. Vielleicht habe seine körperliche Schwäche auch Mut und Hoffnung in ihm
vernichtet, aber wie es auch sei, er wolle uicht bei der Explosion zugegen sein.
Das erste Unglück sei hinreichend, ihn zu töten; sich in Berlin begraben zu
lassen, sei alles, was er wünsche. Gentz fügt hinzu, Lombard habe diese letzten
Worte in höchster Aufregung gesprochen: "Ich sah ihn völlig erschöpft und war
nicht willens, ein Gespräch fortzusetzen, aus dem ich nur zuviel schon erfahren
hatte, deshalb ergriff ich den ersten Vorwand, ihn zu verlassen." Am 11. Oktober
trat das ganze diplomatische Hauptquartier die Rückreise nach Berlin an, Lom¬
bard mit ihm, am 15. abends traf er in Berlin ein. General von Knobelsdorf
war mit dem Briefe des Königs an Napoleon gesandt worden, er sollte ihn
zugleich mit einer Note übergeben, die den Rückzug der französischen Truppen
aus Süddeutschland und volle Freiheit für die Bildung eines norddeutschen
Bundes forderte; im Falle der Verweigerung sollten die Feindseligkeiten am
8. Oktober beginnen. Talleyrand nahm die Schriftstücke am 5. Oktober in
Mainz in Empfang, am 7. Oktober nahm Napoleon sie in Bamberg entgegen,
er war am 24. September zur Armee nach Deutschland abgereist. Schnell die
Situation erfassend, umging er die preußische Armee in der linken Flanke, um sie
nicht allein von ihren Magazinen in Naumburg, Merseburg und Halle, sondern
auch von Berlin und den östlichen Provinzen abzuschneiden. Am 10. Oktober


Jena

führen zu können? Das ist das große Geheimnis unsrer Unentschlossenheit
und aller unsrer Verlegenheiten. Die preußische Monarchie ist nicht organisiert
wie andre Staaten. Bei uns müssen zur Kriegszeit alle Regierungszweige in
der Armee ihren Mittelpunkt finden. Der König kann demnach den Oberbefehl
keinem andern anvertrauen, er wäre nichts mehr, wenn er nicht an der Spitze
seiner Truppen erschiene. Nun wohl dieser König, den niemand so sehr schätzt
und anbetet wie ich, hat das Unglück, kein geborner General zu sein. So gut
wie andre sah auch er seit langer Zeit, daß der gegenwärtige Stand der Dinge
nicht dauern könne, daß er gern oder ungern den Degen ziehen müsse. Aber
er hat immer mit sich selbst kapituliert, immer hat er sich geschmeichelt, daß
irgendeine Katastrophe, unabhängig von seinen Entschlüssen, das Problem lösen
würde. Endlich, als die Verlegenheiten sich mehrten, als das ganze Land mit
lauter Stimme ein verändertes System forderte, als er den Augenblick kommen
sah, wo er mit seiner Meinung allein stehn würde, da gab er nach, doch ganz
gegen seinen Willen; dafür stehe ich ein." Lombard fügte weiter hinzu, daß
er von den düstersten Ahnungen gequält sei. Das Heer sei schön und tapfer,
doch wo sei der mächtige Geist, seine Bewegungen zu leiten. Zum Herzog von
Braunschweig könne man nicht länger Vertrauen haben, welche Vorstellung könne
man sich von seinen Plänen machen? Lombard war damals schwer leidend, an
Händen und Füßen gelähmt, sodaß er sich nur mühsam vou einem Stuhl zum
andern schleppen konnte. Er war darum einigermaßen im Recht, wenn er hinzu¬
fügte, er wünsche sich bei seiner Besorgnis über den Ausgang fast Glück wegen
seiner Gebrechen, weil sie ihm eine ehrenvolle Veranlassung gäben, sich zu ent¬
fernen. Vielleicht habe seine körperliche Schwäche auch Mut und Hoffnung in ihm
vernichtet, aber wie es auch sei, er wolle uicht bei der Explosion zugegen sein.
Das erste Unglück sei hinreichend, ihn zu töten; sich in Berlin begraben zu
lassen, sei alles, was er wünsche. Gentz fügt hinzu, Lombard habe diese letzten
Worte in höchster Aufregung gesprochen: „Ich sah ihn völlig erschöpft und war
nicht willens, ein Gespräch fortzusetzen, aus dem ich nur zuviel schon erfahren
hatte, deshalb ergriff ich den ersten Vorwand, ihn zu verlassen." Am 11. Oktober
trat das ganze diplomatische Hauptquartier die Rückreise nach Berlin an, Lom¬
bard mit ihm, am 15. abends traf er in Berlin ein. General von Knobelsdorf
war mit dem Briefe des Königs an Napoleon gesandt worden, er sollte ihn
zugleich mit einer Note übergeben, die den Rückzug der französischen Truppen
aus Süddeutschland und volle Freiheit für die Bildung eines norddeutschen
Bundes forderte; im Falle der Verweigerung sollten die Feindseligkeiten am
8. Oktober beginnen. Talleyrand nahm die Schriftstücke am 5. Oktober in
Mainz in Empfang, am 7. Oktober nahm Napoleon sie in Bamberg entgegen,
er war am 24. September zur Armee nach Deutschland abgereist. Schnell die
Situation erfassend, umging er die preußische Armee in der linken Flanke, um sie
nicht allein von ihren Magazinen in Naumburg, Merseburg und Halle, sondern
auch von Berlin und den östlichen Provinzen abzuschneiden. Am 10. Oktober


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[0146] Jena führen zu können? Das ist das große Geheimnis unsrer Unentschlossenheit und aller unsrer Verlegenheiten. Die preußische Monarchie ist nicht organisiert wie andre Staaten. Bei uns müssen zur Kriegszeit alle Regierungszweige in der Armee ihren Mittelpunkt finden. Der König kann demnach den Oberbefehl keinem andern anvertrauen, er wäre nichts mehr, wenn er nicht an der Spitze seiner Truppen erschiene. Nun wohl dieser König, den niemand so sehr schätzt und anbetet wie ich, hat das Unglück, kein geborner General zu sein. So gut wie andre sah auch er seit langer Zeit, daß der gegenwärtige Stand der Dinge nicht dauern könne, daß er gern oder ungern den Degen ziehen müsse. Aber er hat immer mit sich selbst kapituliert, immer hat er sich geschmeichelt, daß irgendeine Katastrophe, unabhängig von seinen Entschlüssen, das Problem lösen würde. Endlich, als die Verlegenheiten sich mehrten, als das ganze Land mit lauter Stimme ein verändertes System forderte, als er den Augenblick kommen sah, wo er mit seiner Meinung allein stehn würde, da gab er nach, doch ganz gegen seinen Willen; dafür stehe ich ein." Lombard fügte weiter hinzu, daß er von den düstersten Ahnungen gequält sei. Das Heer sei schön und tapfer, doch wo sei der mächtige Geist, seine Bewegungen zu leiten. Zum Herzog von Braunschweig könne man nicht länger Vertrauen haben, welche Vorstellung könne man sich von seinen Plänen machen? Lombard war damals schwer leidend, an Händen und Füßen gelähmt, sodaß er sich nur mühsam vou einem Stuhl zum andern schleppen konnte. Er war darum einigermaßen im Recht, wenn er hinzu¬ fügte, er wünsche sich bei seiner Besorgnis über den Ausgang fast Glück wegen seiner Gebrechen, weil sie ihm eine ehrenvolle Veranlassung gäben, sich zu ent¬ fernen. Vielleicht habe seine körperliche Schwäche auch Mut und Hoffnung in ihm vernichtet, aber wie es auch sei, er wolle uicht bei der Explosion zugegen sein. Das erste Unglück sei hinreichend, ihn zu töten; sich in Berlin begraben zu lassen, sei alles, was er wünsche. Gentz fügt hinzu, Lombard habe diese letzten Worte in höchster Aufregung gesprochen: „Ich sah ihn völlig erschöpft und war nicht willens, ein Gespräch fortzusetzen, aus dem ich nur zuviel schon erfahren hatte, deshalb ergriff ich den ersten Vorwand, ihn zu verlassen." Am 11. Oktober trat das ganze diplomatische Hauptquartier die Rückreise nach Berlin an, Lom¬ bard mit ihm, am 15. abends traf er in Berlin ein. General von Knobelsdorf war mit dem Briefe des Königs an Napoleon gesandt worden, er sollte ihn zugleich mit einer Note übergeben, die den Rückzug der französischen Truppen aus Süddeutschland und volle Freiheit für die Bildung eines norddeutschen Bundes forderte; im Falle der Verweigerung sollten die Feindseligkeiten am 8. Oktober beginnen. Talleyrand nahm die Schriftstücke am 5. Oktober in Mainz in Empfang, am 7. Oktober nahm Napoleon sie in Bamberg entgegen, er war am 24. September zur Armee nach Deutschland abgereist. Schnell die Situation erfassend, umging er die preußische Armee in der linken Flanke, um sie nicht allein von ihren Magazinen in Naumburg, Merseburg und Halle, sondern auch von Berlin und den östlichen Provinzen abzuschneiden. Am 10. Oktober

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/146>, abgerufen am 23.07.2024.