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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Iustizreform

nötigenfalls unter Zuziehung von Sachverständigen behandelt, gerecht und mit
gesundem Menschenverstande entschieden werden. Die sorgfältige Erledigung der
Rechtssachen verlangt einen hinreichenden Zeitaufwand und setzt voraus, daß
die Gerichte ordnungsmäßig besetzt und nicht übermäßig belastet sind. Für den
durch ungenügende Besetzung und unnötige Belastung mit Schreibwerk und
mechanischem Beiwerk entstehenden Mangel sorgfältiger Erledigung sowie Ver¬
zögerung der Entscheidung sind nicht die Gerichte, sondern die Justizverwaltungen
verantwortlich zu machen. Leider kann die Bemerkung nicht unterdrückt werden,
daß die Justizverwaltung an das Nichterpersonal durch Belastung mit Schreib¬
werk Anforderungen gestellt hat, die die schreibende Hand ermüdet und für den
urteilenden Verstand nicht viel Zeit übrig gelassen haben, ist es doch seinerzeit
einem Oberlandesgerichtsprüsidenten dankbar als ein Verdienst angerechnet worden,
daß er die Vorlegung der Entwürfe zu Versäumnis- und Anerkenntuisurteilen den
Gerichtsschreibern an den größern Amtsgerichten zur Pflicht machte. An den
kleinern Amtsgerichten mußte der Richter die Kanzlistenarbeit nach wie vor
selbst verrichten. Wenn in dieser Weise der Richter zum Kanzlisten herab¬
gewürdigt und unter Schädigung der Staatsfinanzen mit dem teuern Nichter-
personal Verschwendung getrieben wird, dann darf man sich über das Sinken
des richterlichen Ansehens und den Mehrbedarf an Nichterkrüften nicht wundern.
Dank der Verfügung des jetzigen preußischen Justizministers Beseler vom
25. April 1906 ist durch Entlastung vom Schreibwerk endlich Wandel geschafft
worden.

An einer ausreichenden Besetzung der Gerichte hat es in Preußen lange
Jahre gefehlt, was schon allein durch die Tatsache ins helle Licht gesetzt wird,
daß an dem Obcrlandesgerichte zu Köln bis vor einigen Jahren bloß fünf,
jüngst aber nicht weniger als elf Senate vorhanden waren. Es ist ein
Verdienst des Justizministers a. D. Schönstedt, daß er für eine bedeutende
Vermehrung der Richtcrstelleu Sorge getragen hat. Damit wird jedoch
ein Punkt berührt, auf den nicht zum geringsten Teile das Sinken des
Ansehens der Richter zurückzuführen ist. Denn je zahlreicher eine Beamtcn-
kategorie ist, desto mehr sinkt ihr äußeres Ansehen in der Wertschätzung des
Publikums. Aber nicht bloß das äußere Ansehen sinkt, sondern auch der
qualitative Wert wird vermindert, weil die Auswahl der namentlich für die
höhern Stellen geeigneten Personen durch den größern Bedarf erschwert wird.
Nicht gering anzuschlagen ist auch die mit der Vermehrung des Personals ver-
bundne Steigerung der Ausgaben für Gehälter, Pensionen, Geschäftsräume usw.
In Preußen gab es nach dem Terminkalender

Senatspräsidenten Oberlandesgerichtsräte Landgerichtsdirektoren
1880 36 234 176
1906 58 339 306
Land- und Amtsrichter
1880 3368
1906 4408

Zur Iustizreform

nötigenfalls unter Zuziehung von Sachverständigen behandelt, gerecht und mit
gesundem Menschenverstande entschieden werden. Die sorgfältige Erledigung der
Rechtssachen verlangt einen hinreichenden Zeitaufwand und setzt voraus, daß
die Gerichte ordnungsmäßig besetzt und nicht übermäßig belastet sind. Für den
durch ungenügende Besetzung und unnötige Belastung mit Schreibwerk und
mechanischem Beiwerk entstehenden Mangel sorgfältiger Erledigung sowie Ver¬
zögerung der Entscheidung sind nicht die Gerichte, sondern die Justizverwaltungen
verantwortlich zu machen. Leider kann die Bemerkung nicht unterdrückt werden,
daß die Justizverwaltung an das Nichterpersonal durch Belastung mit Schreib¬
werk Anforderungen gestellt hat, die die schreibende Hand ermüdet und für den
urteilenden Verstand nicht viel Zeit übrig gelassen haben, ist es doch seinerzeit
einem Oberlandesgerichtsprüsidenten dankbar als ein Verdienst angerechnet worden,
daß er die Vorlegung der Entwürfe zu Versäumnis- und Anerkenntuisurteilen den
Gerichtsschreibern an den größern Amtsgerichten zur Pflicht machte. An den
kleinern Amtsgerichten mußte der Richter die Kanzlistenarbeit nach wie vor
selbst verrichten. Wenn in dieser Weise der Richter zum Kanzlisten herab¬
gewürdigt und unter Schädigung der Staatsfinanzen mit dem teuern Nichter-
personal Verschwendung getrieben wird, dann darf man sich über das Sinken
des richterlichen Ansehens und den Mehrbedarf an Nichterkrüften nicht wundern.
Dank der Verfügung des jetzigen preußischen Justizministers Beseler vom
25. April 1906 ist durch Entlastung vom Schreibwerk endlich Wandel geschafft
worden.

An einer ausreichenden Besetzung der Gerichte hat es in Preußen lange
Jahre gefehlt, was schon allein durch die Tatsache ins helle Licht gesetzt wird,
daß an dem Obcrlandesgerichte zu Köln bis vor einigen Jahren bloß fünf,
jüngst aber nicht weniger als elf Senate vorhanden waren. Es ist ein
Verdienst des Justizministers a. D. Schönstedt, daß er für eine bedeutende
Vermehrung der Richtcrstelleu Sorge getragen hat. Damit wird jedoch
ein Punkt berührt, auf den nicht zum geringsten Teile das Sinken des
Ansehens der Richter zurückzuführen ist. Denn je zahlreicher eine Beamtcn-
kategorie ist, desto mehr sinkt ihr äußeres Ansehen in der Wertschätzung des
Publikums. Aber nicht bloß das äußere Ansehen sinkt, sondern auch der
qualitative Wert wird vermindert, weil die Auswahl der namentlich für die
höhern Stellen geeigneten Personen durch den größern Bedarf erschwert wird.
Nicht gering anzuschlagen ist auch die mit der Vermehrung des Personals ver-
bundne Steigerung der Ausgaben für Gehälter, Pensionen, Geschäftsräume usw.
In Preußen gab es nach dem Terminkalender

Senatspräsidenten Oberlandesgerichtsräte Landgerichtsdirektoren
1880 36 234 176
1906 58 339 306
Land- und Amtsrichter
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[0142] Zur Iustizreform nötigenfalls unter Zuziehung von Sachverständigen behandelt, gerecht und mit gesundem Menschenverstande entschieden werden. Die sorgfältige Erledigung der Rechtssachen verlangt einen hinreichenden Zeitaufwand und setzt voraus, daß die Gerichte ordnungsmäßig besetzt und nicht übermäßig belastet sind. Für den durch ungenügende Besetzung und unnötige Belastung mit Schreibwerk und mechanischem Beiwerk entstehenden Mangel sorgfältiger Erledigung sowie Ver¬ zögerung der Entscheidung sind nicht die Gerichte, sondern die Justizverwaltungen verantwortlich zu machen. Leider kann die Bemerkung nicht unterdrückt werden, daß die Justizverwaltung an das Nichterpersonal durch Belastung mit Schreib¬ werk Anforderungen gestellt hat, die die schreibende Hand ermüdet und für den urteilenden Verstand nicht viel Zeit übrig gelassen haben, ist es doch seinerzeit einem Oberlandesgerichtsprüsidenten dankbar als ein Verdienst angerechnet worden, daß er die Vorlegung der Entwürfe zu Versäumnis- und Anerkenntuisurteilen den Gerichtsschreibern an den größern Amtsgerichten zur Pflicht machte. An den kleinern Amtsgerichten mußte der Richter die Kanzlistenarbeit nach wie vor selbst verrichten. Wenn in dieser Weise der Richter zum Kanzlisten herab¬ gewürdigt und unter Schädigung der Staatsfinanzen mit dem teuern Nichter- personal Verschwendung getrieben wird, dann darf man sich über das Sinken des richterlichen Ansehens und den Mehrbedarf an Nichterkrüften nicht wundern. Dank der Verfügung des jetzigen preußischen Justizministers Beseler vom 25. April 1906 ist durch Entlastung vom Schreibwerk endlich Wandel geschafft worden. An einer ausreichenden Besetzung der Gerichte hat es in Preußen lange Jahre gefehlt, was schon allein durch die Tatsache ins helle Licht gesetzt wird, daß an dem Obcrlandesgerichte zu Köln bis vor einigen Jahren bloß fünf, jüngst aber nicht weniger als elf Senate vorhanden waren. Es ist ein Verdienst des Justizministers a. D. Schönstedt, daß er für eine bedeutende Vermehrung der Richtcrstelleu Sorge getragen hat. Damit wird jedoch ein Punkt berührt, auf den nicht zum geringsten Teile das Sinken des Ansehens der Richter zurückzuführen ist. Denn je zahlreicher eine Beamtcn- kategorie ist, desto mehr sinkt ihr äußeres Ansehen in der Wertschätzung des Publikums. Aber nicht bloß das äußere Ansehen sinkt, sondern auch der qualitative Wert wird vermindert, weil die Auswahl der namentlich für die höhern Stellen geeigneten Personen durch den größern Bedarf erschwert wird. Nicht gering anzuschlagen ist auch die mit der Vermehrung des Personals ver- bundne Steigerung der Ausgaben für Gehälter, Pensionen, Geschäftsräume usw. In Preußen gab es nach dem Terminkalender Senatspräsidenten Oberlandesgerichtsräte Landgerichtsdirektoren 1880 36 234 176 1906 58 339 306 Land- und Amtsrichter 1880 3368 1906 4408

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/142>, abgerufen am 23.07.2024.