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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Zur Iustizreform

Es ist schon erwähnt worden, daß die Gerichte durch die Einführung des
Bürgerlichen Gesetzbuches und durch sonstige Veränderungen auf weiten und
wichtigen Gebieten des Rechts vor eine neue, schwierige und außergewöhnliche
Aufgabe gestellt worden sind. Die Neuheit des Rechts hat natürlich während
einer Übergangszeit eine gewisse Unsicherheit in seiner Handhabung zur Folge,
die in der Natur der Verhältnisse ihre Erklärung und Entschuldigung findet.
Dazu kommt, daß sich das Volk schwer von altgewohnten und liebgewonnenen
Rechtseinrichtungen trennt und sich an neues Recht gewöhnt, daß der Wechsel
des Rechts eine Zeit lang unangenehm empfunden wird, und daß diese Empfindung
auch gegenüber den das Recht handhabenden Organen ihre Rückwirkung äußert.
Neben der Neugestaltung des Rechts ist in den letzten Jahrzehnten eine gro߬
artige Umwandlung des wirtschaftlichen Lebens vor sich gegangen, das durch
die Hebung des Verkehrs und durch Schaffung mannigfacher neuer Gebilde
einen so komplizierten Umfang angenommen hat, daß sogar der, der Zeit und
Muße hat, der Entwicklung der Verhältnisse zu folgen, nur mit Mühe auf der
Höhe bleibt. Von allen diesen Neuerungen wird das Rechtsleben und damit
die Tätigkeit der Gerichte berührt; sie alle soll der Richter kennen und auf
alle das Recht anwenden. Durch die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der
Rechtsverhältnisse ist die Aufgabe der Rechtsprechung natürlich viel schwieriger
geworden, als zu der Zeit, wo sich Leben und Verkehr noch in einfachen, alt¬
bekannten Bahnen bewegten. Darum kann es nicht wundernehmen, daß sich
über die Richtigkeit einer Entscheidung in vielen zweifelhaften Fällen streiten
läßt, und daß auch Fehlsprüche nicht ausgeschlossen sind. Fehlsprüche werden
auch nicht ausgeschlossen sein, mag der Richterstuhl besetzt sein, wie er will, so
lange Irren menschlich bleibt. Übrigens darf nicht übersehen werden, daß an
die Rechtsprechung nicht selten ungerechtfertigte und übertriebne Anforderungen
gestellt werden. Zutreffend sagt Laband in dem erwähnten Aufsatze:

"Wenn man von der Rechtspflege verlangt, daß sie jedem neu hervor¬
tretenden Bedürfnis des Augenblicks, jedem in einem bestimmten Interessenten¬
kreise sich geltend machenden Verlangen, jeder durch das bestehende Recht ge¬
schaffnen Schwierigkeit prompte Abhilfe verschaffe, so verkennt man das Wesen
des Rechts und der Rechtsprechung. Das Recht bedarf der Festigkeit, mit
welcher ein gewisser Grad von Sprödigkeit und Unbiegsamkeit verbunden ist.
Das Recht muß eine Widerstandskraft haben; was zu nachgiebig ist, kann keine
Stütze sein. Die Rechtspflege darf sich nicht von den wechselnden Tages-
strömungeu und den sich aufdrängenden Tendenzen bestimmter wirtschaftlicher,
gesellschaftlicher, politischer Klassen oder Gruppen hin und her bewegen lassen,
wie die Halme vom Winde; sie muß unbeirrt durch das Murren derjenigen,
welche sie vergeblich für ihre Zwecke mißbrauchen wollen, ruhig ihre erhabne
Bahn weiter wandeln."

Was von einer auf der Höhe ihrer Aufgabe stehenden Rechtsprechung
erwartet werden kann, ist nur das. daß die Sachen sorgfältig und gründlich,


Zur Iustizreform

Es ist schon erwähnt worden, daß die Gerichte durch die Einführung des
Bürgerlichen Gesetzbuches und durch sonstige Veränderungen auf weiten und
wichtigen Gebieten des Rechts vor eine neue, schwierige und außergewöhnliche
Aufgabe gestellt worden sind. Die Neuheit des Rechts hat natürlich während
einer Übergangszeit eine gewisse Unsicherheit in seiner Handhabung zur Folge,
die in der Natur der Verhältnisse ihre Erklärung und Entschuldigung findet.
Dazu kommt, daß sich das Volk schwer von altgewohnten und liebgewonnenen
Rechtseinrichtungen trennt und sich an neues Recht gewöhnt, daß der Wechsel
des Rechts eine Zeit lang unangenehm empfunden wird, und daß diese Empfindung
auch gegenüber den das Recht handhabenden Organen ihre Rückwirkung äußert.
Neben der Neugestaltung des Rechts ist in den letzten Jahrzehnten eine gro߬
artige Umwandlung des wirtschaftlichen Lebens vor sich gegangen, das durch
die Hebung des Verkehrs und durch Schaffung mannigfacher neuer Gebilde
einen so komplizierten Umfang angenommen hat, daß sogar der, der Zeit und
Muße hat, der Entwicklung der Verhältnisse zu folgen, nur mit Mühe auf der
Höhe bleibt. Von allen diesen Neuerungen wird das Rechtsleben und damit
die Tätigkeit der Gerichte berührt; sie alle soll der Richter kennen und auf
alle das Recht anwenden. Durch die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der
Rechtsverhältnisse ist die Aufgabe der Rechtsprechung natürlich viel schwieriger
geworden, als zu der Zeit, wo sich Leben und Verkehr noch in einfachen, alt¬
bekannten Bahnen bewegten. Darum kann es nicht wundernehmen, daß sich
über die Richtigkeit einer Entscheidung in vielen zweifelhaften Fällen streiten
läßt, und daß auch Fehlsprüche nicht ausgeschlossen sind. Fehlsprüche werden
auch nicht ausgeschlossen sein, mag der Richterstuhl besetzt sein, wie er will, so
lange Irren menschlich bleibt. Übrigens darf nicht übersehen werden, daß an
die Rechtsprechung nicht selten ungerechtfertigte und übertriebne Anforderungen
gestellt werden. Zutreffend sagt Laband in dem erwähnten Aufsatze:

„Wenn man von der Rechtspflege verlangt, daß sie jedem neu hervor¬
tretenden Bedürfnis des Augenblicks, jedem in einem bestimmten Interessenten¬
kreise sich geltend machenden Verlangen, jeder durch das bestehende Recht ge¬
schaffnen Schwierigkeit prompte Abhilfe verschaffe, so verkennt man das Wesen
des Rechts und der Rechtsprechung. Das Recht bedarf der Festigkeit, mit
welcher ein gewisser Grad von Sprödigkeit und Unbiegsamkeit verbunden ist.
Das Recht muß eine Widerstandskraft haben; was zu nachgiebig ist, kann keine
Stütze sein. Die Rechtspflege darf sich nicht von den wechselnden Tages-
strömungeu und den sich aufdrängenden Tendenzen bestimmter wirtschaftlicher,
gesellschaftlicher, politischer Klassen oder Gruppen hin und her bewegen lassen,
wie die Halme vom Winde; sie muß unbeirrt durch das Murren derjenigen,
welche sie vergeblich für ihre Zwecke mißbrauchen wollen, ruhig ihre erhabne
Bahn weiter wandeln."

Was von einer auf der Höhe ihrer Aufgabe stehenden Rechtsprechung
erwartet werden kann, ist nur das. daß die Sachen sorgfältig und gründlich,


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[0141] Zur Iustizreform Es ist schon erwähnt worden, daß die Gerichte durch die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches und durch sonstige Veränderungen auf weiten und wichtigen Gebieten des Rechts vor eine neue, schwierige und außergewöhnliche Aufgabe gestellt worden sind. Die Neuheit des Rechts hat natürlich während einer Übergangszeit eine gewisse Unsicherheit in seiner Handhabung zur Folge, die in der Natur der Verhältnisse ihre Erklärung und Entschuldigung findet. Dazu kommt, daß sich das Volk schwer von altgewohnten und liebgewonnenen Rechtseinrichtungen trennt und sich an neues Recht gewöhnt, daß der Wechsel des Rechts eine Zeit lang unangenehm empfunden wird, und daß diese Empfindung auch gegenüber den das Recht handhabenden Organen ihre Rückwirkung äußert. Neben der Neugestaltung des Rechts ist in den letzten Jahrzehnten eine gro߬ artige Umwandlung des wirtschaftlichen Lebens vor sich gegangen, das durch die Hebung des Verkehrs und durch Schaffung mannigfacher neuer Gebilde einen so komplizierten Umfang angenommen hat, daß sogar der, der Zeit und Muße hat, der Entwicklung der Verhältnisse zu folgen, nur mit Mühe auf der Höhe bleibt. Von allen diesen Neuerungen wird das Rechtsleben und damit die Tätigkeit der Gerichte berührt; sie alle soll der Richter kennen und auf alle das Recht anwenden. Durch die Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit der Rechtsverhältnisse ist die Aufgabe der Rechtsprechung natürlich viel schwieriger geworden, als zu der Zeit, wo sich Leben und Verkehr noch in einfachen, alt¬ bekannten Bahnen bewegten. Darum kann es nicht wundernehmen, daß sich über die Richtigkeit einer Entscheidung in vielen zweifelhaften Fällen streiten läßt, und daß auch Fehlsprüche nicht ausgeschlossen sind. Fehlsprüche werden auch nicht ausgeschlossen sein, mag der Richterstuhl besetzt sein, wie er will, so lange Irren menschlich bleibt. Übrigens darf nicht übersehen werden, daß an die Rechtsprechung nicht selten ungerechtfertigte und übertriebne Anforderungen gestellt werden. Zutreffend sagt Laband in dem erwähnten Aufsatze: „Wenn man von der Rechtspflege verlangt, daß sie jedem neu hervor¬ tretenden Bedürfnis des Augenblicks, jedem in einem bestimmten Interessenten¬ kreise sich geltend machenden Verlangen, jeder durch das bestehende Recht ge¬ schaffnen Schwierigkeit prompte Abhilfe verschaffe, so verkennt man das Wesen des Rechts und der Rechtsprechung. Das Recht bedarf der Festigkeit, mit welcher ein gewisser Grad von Sprödigkeit und Unbiegsamkeit verbunden ist. Das Recht muß eine Widerstandskraft haben; was zu nachgiebig ist, kann keine Stütze sein. Die Rechtspflege darf sich nicht von den wechselnden Tages- strömungeu und den sich aufdrängenden Tendenzen bestimmter wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer Klassen oder Gruppen hin und her bewegen lassen, wie die Halme vom Winde; sie muß unbeirrt durch das Murren derjenigen, welche sie vergeblich für ihre Zwecke mißbrauchen wollen, ruhig ihre erhabne Bahn weiter wandeln." Was von einer auf der Höhe ihrer Aufgabe stehenden Rechtsprechung erwartet werden kann, ist nur das. daß die Sachen sorgfältig und gründlich,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/141>, abgerufen am 23.07.2024.