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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Rulturbilder aus den Balkanstaatcn

fasse durch die Straßen ziehn, den Salepverkäufer mit seiner samowarartigen
Metallkanne um den Leib, aus der er das dicke, hafergrützenartige, im Winter
sehr erwärmende Getränk verzapft, die Brezelhändler mit ihren kleinen Körben
und den an daraus hervorstehenden Stangen aufgereihter kreisrunden mit
Scham bestreuten Brezeln, dazwischen die Zeitungsjungen und die Stiefelputzer,
meist beides zugleich, die die Blätter der zahlreichen Parteien ausrufen und
wie Heuschreckenschwärme über die Cafehaushocker herfallen, und alle diese
arbeiten gleichsam unter einer eignen musikalischen Begleitung, indem sich das
bald lang herausgezogne, bald kurz heransgestoßne Stichwort ihres Gewerbes
zu einer völligen Melodie auswächst, teils in hohlen Klagetönen wie von einer
Dampfpfeife bei den Braga- und Wasserhändlern, teils in schrillen Diskant¬
lauten wie von einer Lokomotive bei den jungen Brezel- und Zeitungshändlern.
So geht es heulend und kreischend den lieben langen Tag, und es klingt aus
der Ferne wie in unsern Industriestädten das mittägliche Pfeifen der Fabrik-
Pfeifen mit ihren heulenden Tönen.

Doch gibt es auch stumme und seßhafte Gestalten unter den Straßen-
Händlern, die nur durch ihre Erscheinung wirken, ohne von sich reden zu
machen. Da ist zunächst der für die Balkanstädte sehr charakteristische "fliegende
Antiquar", der nicht wie bei uns seine Schätze auf Wagen herumführt, sondern
sich mit Vorliebe der Gitter und der Mauern öffentlicher Gebäude be¬
mächtigt und sie mit seinen ausgeschlagnen Büchern verziert, sodaß man es
im ersten Moment mit Maueranschlägen zu tun zu haben glaubt. Und das
nicht etwa in den Vorstädten, sondern in den feinsten Vierteln, besonders
in der Nähe der Universität. In Athen kann man oft deren ganze Rampe
sowie die Sockel der davor stehenden Denkmäler in einen Büchermarkt ver¬
wandelt finden.

Zu den Stummen und dazu noch Versteckten, aber um so gefährlichern
gehören die Geldwechsler, die man zum Beispiel in den belebter" Straßen
Athens, Sofias und Belgrads in den Haustüren hinter ihren Glaskasten
sitzend auf Beute lauern sehen kann, und die das in diesen Städten fehlende
Börsenleben ersetzen; denn in keiner findet man ein größeres Börsengebäude --
ebenfalls ein Kennzeichen des Orients.

Eine Spezialität des Balkans sind auch die umherziehenden Federvieh¬
händler, die mit einer für unsre Begriffe unerhörten Grausamkeit ihre lebendige
Ware, in Bündeln an den Beinen zusammengebunden, den Kopf der armen
Tiere nach unten, stundenlang durch die Straßen schleppen, ferner die Ziegen¬
hirten, die mit ihren breiten, nur den Oberkörper bedeckenden braunen Um¬
hängen von hinten wie große wandelnde Schildläuse aussehen, zumal mit
ihrem vom vielen Knien watschelnden Gang; denn sie melken dem Käufer die
Milch ihrer Ziegen gleich in das Gefäß, wobei sie sich in eine frei hockende
Stellung niederlassen, die ihnen offenbar gar keine Schwierigkeiten verursacht;
man kann in den Dörfern junge Burschen in dieser Stellung oft eine Stunde


Rulturbilder aus den Balkanstaatcn

fasse durch die Straßen ziehn, den Salepverkäufer mit seiner samowarartigen
Metallkanne um den Leib, aus der er das dicke, hafergrützenartige, im Winter
sehr erwärmende Getränk verzapft, die Brezelhändler mit ihren kleinen Körben
und den an daraus hervorstehenden Stangen aufgereihter kreisrunden mit
Scham bestreuten Brezeln, dazwischen die Zeitungsjungen und die Stiefelputzer,
meist beides zugleich, die die Blätter der zahlreichen Parteien ausrufen und
wie Heuschreckenschwärme über die Cafehaushocker herfallen, und alle diese
arbeiten gleichsam unter einer eignen musikalischen Begleitung, indem sich das
bald lang herausgezogne, bald kurz heransgestoßne Stichwort ihres Gewerbes
zu einer völligen Melodie auswächst, teils in hohlen Klagetönen wie von einer
Dampfpfeife bei den Braga- und Wasserhändlern, teils in schrillen Diskant¬
lauten wie von einer Lokomotive bei den jungen Brezel- und Zeitungshändlern.
So geht es heulend und kreischend den lieben langen Tag, und es klingt aus
der Ferne wie in unsern Industriestädten das mittägliche Pfeifen der Fabrik-
Pfeifen mit ihren heulenden Tönen.

Doch gibt es auch stumme und seßhafte Gestalten unter den Straßen-
Händlern, die nur durch ihre Erscheinung wirken, ohne von sich reden zu
machen. Da ist zunächst der für die Balkanstädte sehr charakteristische „fliegende
Antiquar", der nicht wie bei uns seine Schätze auf Wagen herumführt, sondern
sich mit Vorliebe der Gitter und der Mauern öffentlicher Gebäude be¬
mächtigt und sie mit seinen ausgeschlagnen Büchern verziert, sodaß man es
im ersten Moment mit Maueranschlägen zu tun zu haben glaubt. Und das
nicht etwa in den Vorstädten, sondern in den feinsten Vierteln, besonders
in der Nähe der Universität. In Athen kann man oft deren ganze Rampe
sowie die Sockel der davor stehenden Denkmäler in einen Büchermarkt ver¬
wandelt finden.

Zu den Stummen und dazu noch Versteckten, aber um so gefährlichern
gehören die Geldwechsler, die man zum Beispiel in den belebter» Straßen
Athens, Sofias und Belgrads in den Haustüren hinter ihren Glaskasten
sitzend auf Beute lauern sehen kann, und die das in diesen Städten fehlende
Börsenleben ersetzen; denn in keiner findet man ein größeres Börsengebäude —
ebenfalls ein Kennzeichen des Orients.

Eine Spezialität des Balkans sind auch die umherziehenden Federvieh¬
händler, die mit einer für unsre Begriffe unerhörten Grausamkeit ihre lebendige
Ware, in Bündeln an den Beinen zusammengebunden, den Kopf der armen
Tiere nach unten, stundenlang durch die Straßen schleppen, ferner die Ziegen¬
hirten, die mit ihren breiten, nur den Oberkörper bedeckenden braunen Um¬
hängen von hinten wie große wandelnde Schildläuse aussehen, zumal mit
ihrem vom vielen Knien watschelnden Gang; denn sie melken dem Käufer die
Milch ihrer Ziegen gleich in das Gefäß, wobei sie sich in eine frei hockende
Stellung niederlassen, die ihnen offenbar gar keine Schwierigkeiten verursacht;
man kann in den Dörfern junge Burschen in dieser Stellung oft eine Stunde


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[0103] Rulturbilder aus den Balkanstaatcn fasse durch die Straßen ziehn, den Salepverkäufer mit seiner samowarartigen Metallkanne um den Leib, aus der er das dicke, hafergrützenartige, im Winter sehr erwärmende Getränk verzapft, die Brezelhändler mit ihren kleinen Körben und den an daraus hervorstehenden Stangen aufgereihter kreisrunden mit Scham bestreuten Brezeln, dazwischen die Zeitungsjungen und die Stiefelputzer, meist beides zugleich, die die Blätter der zahlreichen Parteien ausrufen und wie Heuschreckenschwärme über die Cafehaushocker herfallen, und alle diese arbeiten gleichsam unter einer eignen musikalischen Begleitung, indem sich das bald lang herausgezogne, bald kurz heransgestoßne Stichwort ihres Gewerbes zu einer völligen Melodie auswächst, teils in hohlen Klagetönen wie von einer Dampfpfeife bei den Braga- und Wasserhändlern, teils in schrillen Diskant¬ lauten wie von einer Lokomotive bei den jungen Brezel- und Zeitungshändlern. So geht es heulend und kreischend den lieben langen Tag, und es klingt aus der Ferne wie in unsern Industriestädten das mittägliche Pfeifen der Fabrik- Pfeifen mit ihren heulenden Tönen. Doch gibt es auch stumme und seßhafte Gestalten unter den Straßen- Händlern, die nur durch ihre Erscheinung wirken, ohne von sich reden zu machen. Da ist zunächst der für die Balkanstädte sehr charakteristische „fliegende Antiquar", der nicht wie bei uns seine Schätze auf Wagen herumführt, sondern sich mit Vorliebe der Gitter und der Mauern öffentlicher Gebäude be¬ mächtigt und sie mit seinen ausgeschlagnen Büchern verziert, sodaß man es im ersten Moment mit Maueranschlägen zu tun zu haben glaubt. Und das nicht etwa in den Vorstädten, sondern in den feinsten Vierteln, besonders in der Nähe der Universität. In Athen kann man oft deren ganze Rampe sowie die Sockel der davor stehenden Denkmäler in einen Büchermarkt ver¬ wandelt finden. Zu den Stummen und dazu noch Versteckten, aber um so gefährlichern gehören die Geldwechsler, die man zum Beispiel in den belebter» Straßen Athens, Sofias und Belgrads in den Haustüren hinter ihren Glaskasten sitzend auf Beute lauern sehen kann, und die das in diesen Städten fehlende Börsenleben ersetzen; denn in keiner findet man ein größeres Börsengebäude — ebenfalls ein Kennzeichen des Orients. Eine Spezialität des Balkans sind auch die umherziehenden Federvieh¬ händler, die mit einer für unsre Begriffe unerhörten Grausamkeit ihre lebendige Ware, in Bündeln an den Beinen zusammengebunden, den Kopf der armen Tiere nach unten, stundenlang durch die Straßen schleppen, ferner die Ziegen¬ hirten, die mit ihren breiten, nur den Oberkörper bedeckenden braunen Um¬ hängen von hinten wie große wandelnde Schildläuse aussehen, zumal mit ihrem vom vielen Knien watschelnden Gang; denn sie melken dem Käufer die Milch ihrer Ziegen gleich in das Gefäß, wobei sie sich in eine frei hockende Stellung niederlassen, die ihnen offenbar gar keine Schwierigkeiten verursacht; man kann in den Dörfern junge Burschen in dieser Stellung oft eine Stunde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/103>, abgerufen am 23.07.2024.