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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

Goethe, indem er zugleich die Vortrefflichkeit der Straße rühmt, und sogar
I, I, Winckelmann, der einundzwanzig Jahre vor ihm, im Oktober 1755 die¬
selbe Straße fuhr und später, als er aus Italien zurückkam, im April 1768
Tirol eine "entsetzliche, schaurige Landschaft" nannte und über die Mühsal des
Reifens klagte, fand damals, daß sich hier "die Mutter Natur in ihrer er¬
staunenden Größe" zeige, und daß "über die höchsten Gebirge ein Weg wie in
der Stube" gehe, daß in den Wirtshäusern "Sauberkeit und Überfluß regiere".
In der Tat waren damals unter Maria Theresia die österreichischen Straßen
den norddeutschen weit voraus, während heute die österreichische Südbahn auf
dieser Weltverkehrsstrecke noch ihre ältesten und schlechtesten Wagen verwendet,
worüber die hier höchst überflüssigen magyarischen Aufschriften neben oder wo¬
möglich über den deutschen nur einen Magyaren zu trösten vermögen. In
Matrei, wo die Eisenbahn auf das linke Ufer hinübergeht, trifft sie mit der
Straße zusammen, in einer offnen sonnigen, von Waldboden umgebnen Tal¬
weitung (992 Meter), in der die römische Station Matrejum lag. Später
wurde der uralte Ort der Mittelpunkt einer weitausgedehnter Pfarre, die auch
noch den obersten Teil des Zillertals umfaßte. Bis zum langgestreckten
Steinach im breiten Wiesentale bleiben Straße und Eisenbahn nebeneinander;
dann nimmt diese in einer mächtigen, nach Osten ausbiegenden Schleife bei
Se. Jodok die nächste Steigung, während die Straße tief unten die kürzere
Linie zieht. Allmählich wird die Luft schärfer, der Frühlingsschnee bedeckt die
Abhänge bis zur Straße herab und dann diese selbst, der kleine Brennersee
verschwindet unter einer Eisdecke, von der westlichen steilen Felswand hängt
der Wasserfall des jungen Eisack als Eismasse herab. Die Paßhöhe (1370 Meter)
ist erreicht, ein breites Waldtal, über dessen Höhen kahle Spitzen und Kämme
aufragen. Dort unter dem Eisackfall steht neben dem romanischen Glockenturm
das alte Brennerposthaus, wo Goethe einkehrte, weiterhin ein großes Hotel,
die Dependance der Post, denn diese Höhe mit ihrer reinen frischen Luft und
den bequemen Verbindungen auf- und abwärts ist längst eine bevorzugte
Sommerfrische geworden. Was könnten diese Felsen erzählen, wenn sie reden
könnten! Hier zogen römische Legionen vorüber und Scharen blauäugiger
Barbaren, die nach dem sonnigen Süden strebten, die eisenklirrenden Reiter-
geschwader der deutschen Kaiser, buntausstaffierte Landsknechtsfähnlein mit ihren
langen Spießen, dazwischen lange Reihen knarrender Frachtwagen und hoch¬
bepackter Saumtiere, fromme Pilger mit Stab und Kürbisflasche, ernste Gelehrte
und leichtgeschürzte Künstler zu Fuß und zu Roß, dann die wohlgeordneten
Kolonnen moderner Heere vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zum
Italienischen Kriege von 1859. Heute ergießt sich im Frühjahr und Herbst,
in endlosen Eilzügen von keuchenden Riesenlokvmotiven gezogen, eine wahre
Völkerwanderung von Tausenden über den Brenner, die drüben Erholung suchen
oder den Genuß der Kunstwerke und der historischen Erinnerungen, in deren
Verbindung kein Land der Welt Italien auch nur im entferntesten zu ver¬
gleichen ist.


Über den Brenner

Goethe, indem er zugleich die Vortrefflichkeit der Straße rühmt, und sogar
I, I, Winckelmann, der einundzwanzig Jahre vor ihm, im Oktober 1755 die¬
selbe Straße fuhr und später, als er aus Italien zurückkam, im April 1768
Tirol eine „entsetzliche, schaurige Landschaft" nannte und über die Mühsal des
Reifens klagte, fand damals, daß sich hier „die Mutter Natur in ihrer er¬
staunenden Größe" zeige, und daß „über die höchsten Gebirge ein Weg wie in
der Stube" gehe, daß in den Wirtshäusern „Sauberkeit und Überfluß regiere".
In der Tat waren damals unter Maria Theresia die österreichischen Straßen
den norddeutschen weit voraus, während heute die österreichische Südbahn auf
dieser Weltverkehrsstrecke noch ihre ältesten und schlechtesten Wagen verwendet,
worüber die hier höchst überflüssigen magyarischen Aufschriften neben oder wo¬
möglich über den deutschen nur einen Magyaren zu trösten vermögen. In
Matrei, wo die Eisenbahn auf das linke Ufer hinübergeht, trifft sie mit der
Straße zusammen, in einer offnen sonnigen, von Waldboden umgebnen Tal¬
weitung (992 Meter), in der die römische Station Matrejum lag. Später
wurde der uralte Ort der Mittelpunkt einer weitausgedehnter Pfarre, die auch
noch den obersten Teil des Zillertals umfaßte. Bis zum langgestreckten
Steinach im breiten Wiesentale bleiben Straße und Eisenbahn nebeneinander;
dann nimmt diese in einer mächtigen, nach Osten ausbiegenden Schleife bei
Se. Jodok die nächste Steigung, während die Straße tief unten die kürzere
Linie zieht. Allmählich wird die Luft schärfer, der Frühlingsschnee bedeckt die
Abhänge bis zur Straße herab und dann diese selbst, der kleine Brennersee
verschwindet unter einer Eisdecke, von der westlichen steilen Felswand hängt
der Wasserfall des jungen Eisack als Eismasse herab. Die Paßhöhe (1370 Meter)
ist erreicht, ein breites Waldtal, über dessen Höhen kahle Spitzen und Kämme
aufragen. Dort unter dem Eisackfall steht neben dem romanischen Glockenturm
das alte Brennerposthaus, wo Goethe einkehrte, weiterhin ein großes Hotel,
die Dependance der Post, denn diese Höhe mit ihrer reinen frischen Luft und
den bequemen Verbindungen auf- und abwärts ist längst eine bevorzugte
Sommerfrische geworden. Was könnten diese Felsen erzählen, wenn sie reden
könnten! Hier zogen römische Legionen vorüber und Scharen blauäugiger
Barbaren, die nach dem sonnigen Süden strebten, die eisenklirrenden Reiter-
geschwader der deutschen Kaiser, buntausstaffierte Landsknechtsfähnlein mit ihren
langen Spießen, dazwischen lange Reihen knarrender Frachtwagen und hoch¬
bepackter Saumtiere, fromme Pilger mit Stab und Kürbisflasche, ernste Gelehrte
und leichtgeschürzte Künstler zu Fuß und zu Roß, dann die wohlgeordneten
Kolonnen moderner Heere vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zum
Italienischen Kriege von 1859. Heute ergießt sich im Frühjahr und Herbst,
in endlosen Eilzügen von keuchenden Riesenlokvmotiven gezogen, eine wahre
Völkerwanderung von Tausenden über den Brenner, die drüben Erholung suchen
oder den Genuß der Kunstwerke und der historischen Erinnerungen, in deren
Verbindung kein Land der Welt Italien auch nur im entferntesten zu ver¬
gleichen ist.


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[0082] Über den Brenner Goethe, indem er zugleich die Vortrefflichkeit der Straße rühmt, und sogar I, I, Winckelmann, der einundzwanzig Jahre vor ihm, im Oktober 1755 die¬ selbe Straße fuhr und später, als er aus Italien zurückkam, im April 1768 Tirol eine „entsetzliche, schaurige Landschaft" nannte und über die Mühsal des Reifens klagte, fand damals, daß sich hier „die Mutter Natur in ihrer er¬ staunenden Größe" zeige, und daß „über die höchsten Gebirge ein Weg wie in der Stube" gehe, daß in den Wirtshäusern „Sauberkeit und Überfluß regiere". In der Tat waren damals unter Maria Theresia die österreichischen Straßen den norddeutschen weit voraus, während heute die österreichische Südbahn auf dieser Weltverkehrsstrecke noch ihre ältesten und schlechtesten Wagen verwendet, worüber die hier höchst überflüssigen magyarischen Aufschriften neben oder wo¬ möglich über den deutschen nur einen Magyaren zu trösten vermögen. In Matrei, wo die Eisenbahn auf das linke Ufer hinübergeht, trifft sie mit der Straße zusammen, in einer offnen sonnigen, von Waldboden umgebnen Tal¬ weitung (992 Meter), in der die römische Station Matrejum lag. Später wurde der uralte Ort der Mittelpunkt einer weitausgedehnter Pfarre, die auch noch den obersten Teil des Zillertals umfaßte. Bis zum langgestreckten Steinach im breiten Wiesentale bleiben Straße und Eisenbahn nebeneinander; dann nimmt diese in einer mächtigen, nach Osten ausbiegenden Schleife bei Se. Jodok die nächste Steigung, während die Straße tief unten die kürzere Linie zieht. Allmählich wird die Luft schärfer, der Frühlingsschnee bedeckt die Abhänge bis zur Straße herab und dann diese selbst, der kleine Brennersee verschwindet unter einer Eisdecke, von der westlichen steilen Felswand hängt der Wasserfall des jungen Eisack als Eismasse herab. Die Paßhöhe (1370 Meter) ist erreicht, ein breites Waldtal, über dessen Höhen kahle Spitzen und Kämme aufragen. Dort unter dem Eisackfall steht neben dem romanischen Glockenturm das alte Brennerposthaus, wo Goethe einkehrte, weiterhin ein großes Hotel, die Dependance der Post, denn diese Höhe mit ihrer reinen frischen Luft und den bequemen Verbindungen auf- und abwärts ist längst eine bevorzugte Sommerfrische geworden. Was könnten diese Felsen erzählen, wenn sie reden könnten! Hier zogen römische Legionen vorüber und Scharen blauäugiger Barbaren, die nach dem sonnigen Süden strebten, die eisenklirrenden Reiter- geschwader der deutschen Kaiser, buntausstaffierte Landsknechtsfähnlein mit ihren langen Spießen, dazwischen lange Reihen knarrender Frachtwagen und hoch¬ bepackter Saumtiere, fromme Pilger mit Stab und Kürbisflasche, ernste Gelehrte und leichtgeschürzte Künstler zu Fuß und zu Roß, dann die wohlgeordneten Kolonnen moderner Heere vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zum Italienischen Kriege von 1859. Heute ergießt sich im Frühjahr und Herbst, in endlosen Eilzügen von keuchenden Riesenlokvmotiven gezogen, eine wahre Völkerwanderung von Tausenden über den Brenner, die drüben Erholung suchen oder den Genuß der Kunstwerke und der historischen Erinnerungen, in deren Verbindung kein Land der Welt Italien auch nur im entferntesten zu ver¬ gleichen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/82>, abgerufen am 27.12.2024.