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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

sodaß die Ansiedlung aufgegeben und 772 nach Schlehdorf an den milden Staffel¬
see verlegt wurde. Von Scharnitz aus steigt die Straße ununterbrochen durch
Wald bis zur Paßhöhe bei Seefeld (1180 Meter), die einen prächtigen Blick
auf das durchmessene Gebirge gewährt; von dort aus senkt sie sich plötzlich mit
der überraschenden Aussicht auf das tief unten liegende Inntal und die Berg¬
riesen der Zentralkette auf seiner Südseite und erreicht es zuletzt in zahlreichen
Schleifen bei Zirl (622 Meter), füllt also auf eine Entfernung, die in der Luft¬
linie nicht ganz 8 Kilometer beträgt, um 558 Meter.

Zirl (Cireola) verrät schon in seiner dichtgedrängten Anlage den romanischen
Ursprung. Gerade hier aber, am Abstieg von der Scharnitz bis zu dem eben¬
falls rütisch-romanischen Telfs hin haben die Bayern zahlreiche Niederlassungen
gegründet und nach den Oberhäuptern der sich ansiedelnden Sippen benannt:
Jnzing (von Jnzo), Hatting (Hatto), Pvlling (Potio), Flcmrling (Flurininga
von Flnrino), Pfaffenhofen (Poapinhova von Poapo) gegenüber Telfs, das
sogar dem ganzen Gau den Namen gab, und auch Innsbruck verdankt ihnen
seine Entstehung. Denn die römische Station am Aufgange der Brennerstraße
war Veldidencr auf dem rechten Ufer des Jnn an der Stelle des heutigen
Willen, wo sich mehrere Meilensteine aus dem dritten und vierten Jahrhundert
gefunden haben, die die Entfernung von Augsburg aus zu 90 oder 110 in. x.
(d. h. 135 oder 165 Kilometern) bemessen, also nicht ganz denselben Straßen-
zug im Auge haben können. Eine Jnnbrücke muß von jeher hier bestanden
haben, da die Straße hier das Ufer wechselte; ein Ort auf der linken Seite
des Inns entstand wohl erst um das Jahr 1000, als die Brennerstraße zur
Kaiserstraße geworden war, und zwar dicht beim heutigen Holting unter der
Bergwand. Bei dem Durchmärsche Kaiser Konrads des Zweiten im Juni 1027
wird er zum erstenmal genannt (Jnespruge). Der Grund und Boden auf der
andern Seite, am Aufstieg der Brennerstraße gehörte dem Bistum Vrixen, das
dort die ausgedehnte Hofmark Wilten neben dem im Anschluß an diesen Hof
entstandnen Dorfe Wilten besaß; beide vereinigte der Bischof Reginbert 1140
als Grundlage des Prämonstratenserstifts Wilten. Vielleicht um dieselbe Zeit
erhielt Innsbruck von seinen Grundherren, den bayrischen Andechsern, das
Marktrecht, und da sich der Ort in seiner alten Lage nicht so ausbreiten konnte,
wie es der rasch zunehmende Verkehr verlangte, so erwirkten die Andechser
Berthold der Dritte und der Vierte, Vater und Sohn, 1180 vom Kloster
Wilten die Erlaubnis, den "Markt" (torno) Innsbruck auf das rechte Ufer
zu verlegen, wobei dem Kloster drei Häuser, ein Anteil am Marktzoll und die
Überfuhr zugestanden wurden; der Markt blieb grundherrlich, doch richtete ein
besondrer Marktrichter (Msx torönsis) mit fünf Geschwornen über leichtere
Vergehn und Zivilsachen, womit der Grund zur städtischen Selbstverwaltung
gelegt wurde. Ein wirkliches Stadtrecht aber erhielt Innsbruck erst 1239 mit
Nicderlagsrecht, Zollfreiheit an allen Zollstütten des Landes, ausgenommen
Klausen und Bozen, mit Gemeindeweide und einer freien Gemeindeverfassung


Über den Brenner

sodaß die Ansiedlung aufgegeben und 772 nach Schlehdorf an den milden Staffel¬
see verlegt wurde. Von Scharnitz aus steigt die Straße ununterbrochen durch
Wald bis zur Paßhöhe bei Seefeld (1180 Meter), die einen prächtigen Blick
auf das durchmessene Gebirge gewährt; von dort aus senkt sie sich plötzlich mit
der überraschenden Aussicht auf das tief unten liegende Inntal und die Berg¬
riesen der Zentralkette auf seiner Südseite und erreicht es zuletzt in zahlreichen
Schleifen bei Zirl (622 Meter), füllt also auf eine Entfernung, die in der Luft¬
linie nicht ganz 8 Kilometer beträgt, um 558 Meter.

Zirl (Cireola) verrät schon in seiner dichtgedrängten Anlage den romanischen
Ursprung. Gerade hier aber, am Abstieg von der Scharnitz bis zu dem eben¬
falls rütisch-romanischen Telfs hin haben die Bayern zahlreiche Niederlassungen
gegründet und nach den Oberhäuptern der sich ansiedelnden Sippen benannt:
Jnzing (von Jnzo), Hatting (Hatto), Pvlling (Potio), Flcmrling (Flurininga
von Flnrino), Pfaffenhofen (Poapinhova von Poapo) gegenüber Telfs, das
sogar dem ganzen Gau den Namen gab, und auch Innsbruck verdankt ihnen
seine Entstehung. Denn die römische Station am Aufgange der Brennerstraße
war Veldidencr auf dem rechten Ufer des Jnn an der Stelle des heutigen
Willen, wo sich mehrere Meilensteine aus dem dritten und vierten Jahrhundert
gefunden haben, die die Entfernung von Augsburg aus zu 90 oder 110 in. x.
(d. h. 135 oder 165 Kilometern) bemessen, also nicht ganz denselben Straßen-
zug im Auge haben können. Eine Jnnbrücke muß von jeher hier bestanden
haben, da die Straße hier das Ufer wechselte; ein Ort auf der linken Seite
des Inns entstand wohl erst um das Jahr 1000, als die Brennerstraße zur
Kaiserstraße geworden war, und zwar dicht beim heutigen Holting unter der
Bergwand. Bei dem Durchmärsche Kaiser Konrads des Zweiten im Juni 1027
wird er zum erstenmal genannt (Jnespruge). Der Grund und Boden auf der
andern Seite, am Aufstieg der Brennerstraße gehörte dem Bistum Vrixen, das
dort die ausgedehnte Hofmark Wilten neben dem im Anschluß an diesen Hof
entstandnen Dorfe Wilten besaß; beide vereinigte der Bischof Reginbert 1140
als Grundlage des Prämonstratenserstifts Wilten. Vielleicht um dieselbe Zeit
erhielt Innsbruck von seinen Grundherren, den bayrischen Andechsern, das
Marktrecht, und da sich der Ort in seiner alten Lage nicht so ausbreiten konnte,
wie es der rasch zunehmende Verkehr verlangte, so erwirkten die Andechser
Berthold der Dritte und der Vierte, Vater und Sohn, 1180 vom Kloster
Wilten die Erlaubnis, den „Markt" (torno) Innsbruck auf das rechte Ufer
zu verlegen, wobei dem Kloster drei Häuser, ein Anteil am Marktzoll und die
Überfuhr zugestanden wurden; der Markt blieb grundherrlich, doch richtete ein
besondrer Marktrichter (Msx torönsis) mit fünf Geschwornen über leichtere
Vergehn und Zivilsachen, womit der Grund zur städtischen Selbstverwaltung
gelegt wurde. Ein wirkliches Stadtrecht aber erhielt Innsbruck erst 1239 mit
Nicderlagsrecht, Zollfreiheit an allen Zollstütten des Landes, ausgenommen
Klausen und Bozen, mit Gemeindeweide und einer freien Gemeindeverfassung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/80>, abgerufen am 27.12.2024.