Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Über den Brenner

nördlich und höher auf dem AbHange lief als heute, heißt das Örtchen Klais
(1324 Chios) vom lat. Äausura, Wegenge. Auch sonst war die Gegend römisch
besiedelt. Der zwischen hohen Waldbergen eingebettete tiefe, dunkle Walchensee,
der oft ganz plötzlich aufwallt (so beim Erdbeben von Lissabon am 1. No¬
vember 1755) und namentlich bei bewölktem Himmel etwas unheimliches hat,
verdankt den Römern, den Walchen, seinen Namen wie die kleine Insel Sassau
(8Ä880, saxum, Fels) an der Ostseite. Im Mittelalter wurde das Tal wieder
zur Wildnis, bis sich 1098 Mönche von Benediktbeuern und Schlehdorf an
der Westseite niederließen; im zwölften Jahrhundert legte der Abt Konrad
von Benediktbeuern den Ort Walchensee an, 1290 baute der Abt Otto die
Kirche mit Meierhof und Fischerhaus. An diese Tätigkeit des Klosters erinnert
noch das Örtchen Klösterl auf der Halbinsel südlich von Walchensee, wo noch
ein Mauerring von dem Klösterlein übrig ist. Eine römische Niederlassung ist
ebenso das Dorf Walgau sudlich davon in einer ganz abgeschlossenen breiten
Talebene, das die Bayern verödet vorfanden und Römerfeld (^alnoZoi) nannten,
später ein bayrischer Grundherr okkupierte und 763 Neginbert mitsamt dem
dazu gehörenden Walchensee seiner Klosterstiftung Scharnitz (als xaZum äe-
ssrwm) schenkte, wobei die Flur wohl vom Kloster nach deutscher Weise neu
eingeteilt wurde (300 Tagewerk auf 22 Bauernstellen). Römisch benannt ist
auch Krümm südlich von Walgau (881 Gerün vom romanischen esruug,, Grieß,
Sand). Südlich von Krümm mündet die Straße vom Walchensee her, die den
steilen Kesselberg vom Kochelsee hinauf 1492 unter Herzog Albrecht dem Vierten
von Bayern angelegt wurde, seitdem ein wichtiger Übergang war und noch 1703
wie 1809 eine Rolle spielte, in die von Partenkirchen nach Mittenwald. Diese
Straße kam auch Goethe am 7. September 1786 herauf, in Mittenwald blieb
er im PostHause die Nacht. Dicht gedrängt stehn dort die breiten Giebelhäuser
in engen Gassen, in Eisengittern und Steinarbeit frühern Reichtum verratend,
denn hier war ein Markt und Mittelpunkt für den Warentransport auf dieser
Straße. Seitdem diese verödete, lebt es besonders von der Fabrikation musi¬
kalischer Instrumente, die Michael Klotz (gestorben 1743) eingeführt hat, und
von der Fremdenindustrie, denn an Pracht der Lage im weiten Tal der Jsar
am Fuße der starrenden Wand des Karwendelgebirges und der Wetterstein¬
gruppe kann es sich mit jedem Orte der nördlichen Kalkalpen messen. Eine
gute Stunde südwärts dicht M der Grenze schließen sich die Felswände von
beiden Seiten zu einem Engpaß, der Porta Claudia, der im Dreißigjährigen
Kriege von Claudia, der Witwe des Erzherzogs Leopold des Fünften, gegen
die Schweden befestigt wurde und noch die Reste dieser von den Franzosen 1805
Zerstörten Anlagen zeigt; dahinter liegt das Dorf Scharnitz (963 Meter). Hier
gründeten bei der längst verlassenen römischen Station Scardia, die auch durch
einen Meilenstein bezeugt ist, "in der Einöde" (in soliwäws 8(-aranei6v8<z) 743
die Edeln Reginbert und Jrminfried ein Benediktinerkloster, doch vermochten es
die Mönche in dieser rauhen, einsamen Lage auf die Dauer nicht auszuhalten,


Über den Brenner

nördlich und höher auf dem AbHange lief als heute, heißt das Örtchen Klais
(1324 Chios) vom lat. Äausura, Wegenge. Auch sonst war die Gegend römisch
besiedelt. Der zwischen hohen Waldbergen eingebettete tiefe, dunkle Walchensee,
der oft ganz plötzlich aufwallt (so beim Erdbeben von Lissabon am 1. No¬
vember 1755) und namentlich bei bewölktem Himmel etwas unheimliches hat,
verdankt den Römern, den Walchen, seinen Namen wie die kleine Insel Sassau
(8Ä880, saxum, Fels) an der Ostseite. Im Mittelalter wurde das Tal wieder
zur Wildnis, bis sich 1098 Mönche von Benediktbeuern und Schlehdorf an
der Westseite niederließen; im zwölften Jahrhundert legte der Abt Konrad
von Benediktbeuern den Ort Walchensee an, 1290 baute der Abt Otto die
Kirche mit Meierhof und Fischerhaus. An diese Tätigkeit des Klosters erinnert
noch das Örtchen Klösterl auf der Halbinsel südlich von Walchensee, wo noch
ein Mauerring von dem Klösterlein übrig ist. Eine römische Niederlassung ist
ebenso das Dorf Walgau sudlich davon in einer ganz abgeschlossenen breiten
Talebene, das die Bayern verödet vorfanden und Römerfeld (^alnoZoi) nannten,
später ein bayrischer Grundherr okkupierte und 763 Neginbert mitsamt dem
dazu gehörenden Walchensee seiner Klosterstiftung Scharnitz (als xaZum äe-
ssrwm) schenkte, wobei die Flur wohl vom Kloster nach deutscher Weise neu
eingeteilt wurde (300 Tagewerk auf 22 Bauernstellen). Römisch benannt ist
auch Krümm südlich von Walgau (881 Gerün vom romanischen esruug,, Grieß,
Sand). Südlich von Krümm mündet die Straße vom Walchensee her, die den
steilen Kesselberg vom Kochelsee hinauf 1492 unter Herzog Albrecht dem Vierten
von Bayern angelegt wurde, seitdem ein wichtiger Übergang war und noch 1703
wie 1809 eine Rolle spielte, in die von Partenkirchen nach Mittenwald. Diese
Straße kam auch Goethe am 7. September 1786 herauf, in Mittenwald blieb
er im PostHause die Nacht. Dicht gedrängt stehn dort die breiten Giebelhäuser
in engen Gassen, in Eisengittern und Steinarbeit frühern Reichtum verratend,
denn hier war ein Markt und Mittelpunkt für den Warentransport auf dieser
Straße. Seitdem diese verödete, lebt es besonders von der Fabrikation musi¬
kalischer Instrumente, die Michael Klotz (gestorben 1743) eingeführt hat, und
von der Fremdenindustrie, denn an Pracht der Lage im weiten Tal der Jsar
am Fuße der starrenden Wand des Karwendelgebirges und der Wetterstein¬
gruppe kann es sich mit jedem Orte der nördlichen Kalkalpen messen. Eine
gute Stunde südwärts dicht M der Grenze schließen sich die Felswände von
beiden Seiten zu einem Engpaß, der Porta Claudia, der im Dreißigjährigen
Kriege von Claudia, der Witwe des Erzherzogs Leopold des Fünften, gegen
die Schweden befestigt wurde und noch die Reste dieser von den Franzosen 1805
Zerstörten Anlagen zeigt; dahinter liegt das Dorf Scharnitz (963 Meter). Hier
gründeten bei der längst verlassenen römischen Station Scardia, die auch durch
einen Meilenstein bezeugt ist, „in der Einöde" (in soliwäws 8(-aranei6v8<z) 743
die Edeln Reginbert und Jrminfried ein Benediktinerkloster, doch vermochten es
die Mönche in dieser rauhen, einsamen Lage auf die Dauer nicht auszuhalten,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299866"/>
          <fw type="header" place="top"> Über den Brenner</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_242" prev="#ID_241" next="#ID_243"> nördlich und höher auf dem AbHange lief als heute, heißt das Örtchen Klais<lb/>
(1324 Chios) vom lat. Äausura, Wegenge. Auch sonst war die Gegend römisch<lb/>
besiedelt. Der zwischen hohen Waldbergen eingebettete tiefe, dunkle Walchensee,<lb/>
der oft ganz plötzlich aufwallt (so beim Erdbeben von Lissabon am 1. No¬<lb/>
vember 1755) und namentlich bei bewölktem Himmel etwas unheimliches hat,<lb/>
verdankt den Römern, den Walchen, seinen Namen wie die kleine Insel Sassau<lb/>
(8Ä880, saxum, Fels) an der Ostseite. Im Mittelalter wurde das Tal wieder<lb/>
zur Wildnis, bis sich 1098 Mönche von Benediktbeuern und Schlehdorf an<lb/>
der Westseite niederließen; im zwölften Jahrhundert legte der Abt Konrad<lb/>
von Benediktbeuern den Ort Walchensee an, 1290 baute der Abt Otto die<lb/>
Kirche mit Meierhof und Fischerhaus. An diese Tätigkeit des Klosters erinnert<lb/>
noch das Örtchen Klösterl auf der Halbinsel südlich von Walchensee, wo noch<lb/>
ein Mauerring von dem Klösterlein übrig ist. Eine römische Niederlassung ist<lb/>
ebenso das Dorf Walgau sudlich davon in einer ganz abgeschlossenen breiten<lb/>
Talebene, das die Bayern verödet vorfanden und Römerfeld (^alnoZoi) nannten,<lb/>
später ein bayrischer Grundherr okkupierte und 763 Neginbert mitsamt dem<lb/>
dazu gehörenden Walchensee seiner Klosterstiftung Scharnitz (als xaZum äe-<lb/>
ssrwm) schenkte, wobei die Flur wohl vom Kloster nach deutscher Weise neu<lb/>
eingeteilt wurde (300 Tagewerk auf 22 Bauernstellen). Römisch benannt ist<lb/>
auch Krümm südlich von Walgau (881 Gerün vom romanischen esruug,, Grieß,<lb/>
Sand). Südlich von Krümm mündet die Straße vom Walchensee her, die den<lb/>
steilen Kesselberg vom Kochelsee hinauf 1492 unter Herzog Albrecht dem Vierten<lb/>
von Bayern angelegt wurde, seitdem ein wichtiger Übergang war und noch 1703<lb/>
wie 1809 eine Rolle spielte, in die von Partenkirchen nach Mittenwald. Diese<lb/>
Straße kam auch Goethe am 7. September 1786 herauf, in Mittenwald blieb<lb/>
er im PostHause die Nacht. Dicht gedrängt stehn dort die breiten Giebelhäuser<lb/>
in engen Gassen, in Eisengittern und Steinarbeit frühern Reichtum verratend,<lb/>
denn hier war ein Markt und Mittelpunkt für den Warentransport auf dieser<lb/>
Straße. Seitdem diese verödete, lebt es besonders von der Fabrikation musi¬<lb/>
kalischer Instrumente, die Michael Klotz (gestorben 1743) eingeführt hat, und<lb/>
von der Fremdenindustrie, denn an Pracht der Lage im weiten Tal der Jsar<lb/>
am Fuße der starrenden Wand des Karwendelgebirges und der Wetterstein¬<lb/>
gruppe kann es sich mit jedem Orte der nördlichen Kalkalpen messen. Eine<lb/>
gute Stunde südwärts dicht M der Grenze schließen sich die Felswände von<lb/>
beiden Seiten zu einem Engpaß, der Porta Claudia, der im Dreißigjährigen<lb/>
Kriege von Claudia, der Witwe des Erzherzogs Leopold des Fünften, gegen<lb/>
die Schweden befestigt wurde und noch die Reste dieser von den Franzosen 1805<lb/>
Zerstörten Anlagen zeigt; dahinter liegt das Dorf Scharnitz (963 Meter). Hier<lb/>
gründeten bei der längst verlassenen römischen Station Scardia, die auch durch<lb/>
einen Meilenstein bezeugt ist, &#x201E;in der Einöde" (in soliwäws 8(-aranei6v8&lt;z) 743<lb/>
die Edeln Reginbert und Jrminfried ein Benediktinerkloster, doch vermochten es<lb/>
die Mönche in dieser rauhen, einsamen Lage auf die Dauer nicht auszuhalten,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0079] Über den Brenner nördlich und höher auf dem AbHange lief als heute, heißt das Örtchen Klais (1324 Chios) vom lat. Äausura, Wegenge. Auch sonst war die Gegend römisch besiedelt. Der zwischen hohen Waldbergen eingebettete tiefe, dunkle Walchensee, der oft ganz plötzlich aufwallt (so beim Erdbeben von Lissabon am 1. No¬ vember 1755) und namentlich bei bewölktem Himmel etwas unheimliches hat, verdankt den Römern, den Walchen, seinen Namen wie die kleine Insel Sassau (8Ä880, saxum, Fels) an der Ostseite. Im Mittelalter wurde das Tal wieder zur Wildnis, bis sich 1098 Mönche von Benediktbeuern und Schlehdorf an der Westseite niederließen; im zwölften Jahrhundert legte der Abt Konrad von Benediktbeuern den Ort Walchensee an, 1290 baute der Abt Otto die Kirche mit Meierhof und Fischerhaus. An diese Tätigkeit des Klosters erinnert noch das Örtchen Klösterl auf der Halbinsel südlich von Walchensee, wo noch ein Mauerring von dem Klösterlein übrig ist. Eine römische Niederlassung ist ebenso das Dorf Walgau sudlich davon in einer ganz abgeschlossenen breiten Talebene, das die Bayern verödet vorfanden und Römerfeld (^alnoZoi) nannten, später ein bayrischer Grundherr okkupierte und 763 Neginbert mitsamt dem dazu gehörenden Walchensee seiner Klosterstiftung Scharnitz (als xaZum äe- ssrwm) schenkte, wobei die Flur wohl vom Kloster nach deutscher Weise neu eingeteilt wurde (300 Tagewerk auf 22 Bauernstellen). Römisch benannt ist auch Krümm südlich von Walgau (881 Gerün vom romanischen esruug,, Grieß, Sand). Südlich von Krümm mündet die Straße vom Walchensee her, die den steilen Kesselberg vom Kochelsee hinauf 1492 unter Herzog Albrecht dem Vierten von Bayern angelegt wurde, seitdem ein wichtiger Übergang war und noch 1703 wie 1809 eine Rolle spielte, in die von Partenkirchen nach Mittenwald. Diese Straße kam auch Goethe am 7. September 1786 herauf, in Mittenwald blieb er im PostHause die Nacht. Dicht gedrängt stehn dort die breiten Giebelhäuser in engen Gassen, in Eisengittern und Steinarbeit frühern Reichtum verratend, denn hier war ein Markt und Mittelpunkt für den Warentransport auf dieser Straße. Seitdem diese verödete, lebt es besonders von der Fabrikation musi¬ kalischer Instrumente, die Michael Klotz (gestorben 1743) eingeführt hat, und von der Fremdenindustrie, denn an Pracht der Lage im weiten Tal der Jsar am Fuße der starrenden Wand des Karwendelgebirges und der Wetterstein¬ gruppe kann es sich mit jedem Orte der nördlichen Kalkalpen messen. Eine gute Stunde südwärts dicht M der Grenze schließen sich die Felswände von beiden Seiten zu einem Engpaß, der Porta Claudia, der im Dreißigjährigen Kriege von Claudia, der Witwe des Erzherzogs Leopold des Fünften, gegen die Schweden befestigt wurde und noch die Reste dieser von den Franzosen 1805 Zerstörten Anlagen zeigt; dahinter liegt das Dorf Scharnitz (963 Meter). Hier gründeten bei der längst verlassenen römischen Station Scardia, die auch durch einen Meilenstein bezeugt ist, „in der Einöde" (in soliwäws 8(-aranei6v8<z) 743 die Edeln Reginbert und Jrminfried ein Benediktinerkloster, doch vermochten es die Mönche in dieser rauhen, einsamen Lage auf die Dauer nicht auszuhalten,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/79
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/79>, abgerufen am 23.07.2024.