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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Russische Bauernhochzeit

In der Hütte weint sie weiter -- es würde zu weit führen, all die Un¬
menge Verse wiederzugeben. Sie weint, daß sie zum letztenmal im Hause ist, daß
die Freundinnen bald nicht mehr bei ihr sind. Kommen dann die Gäste, so sitzt
sie mit ihnen am Tisch. Die Braut sitzt auf einem Kissen, das Gesicht die ganze
Zeit mit einem Tuche bedeckt. Wahrend die Gäste essen und trinken, weint die
Braut "mit der Stimme"; sie darf erst später mit den Freundinnen zusammen
etwas genießen. Da ihr Gesicht bedeckt ist, sieht sie natürlich nichts; da sagen ihr
die Freundinnen immer, wenn jemand neues hereintritt, den die Braut dann mit
Weinen empfängt. Nach einiger Zeit wird eine Bank in die Mitte des Zimmers
gerückt, worauf sich die Braut mit ihren Freundinnen setzt. Nun tritt ein Gast
nach dem andern -- oft mehr als hundert -- ans sie zu und kämmt ihr das
Haar. Auf die Knie legt er ihr Geschenke: Geld, Tücher, Stoff usw. Die ganze
Nacht durch gehts hoch her, da viel Logierbesuch im Hanse ist. Am andern
Morgen wird die Braut in Gegenwart der Gäste angezogen -- das Kleid muß,
wenn die Braut keine Waise ist, möglichst grell sein, am beliebtesten ist feuerrot.
Die Gäste setzen sich in ihre Wagen, und ein langer Zug setzt sich in Bewegung.
Ein hübsches Bild! Die Pferde sind mit Glöckchen und bunten Bändern geschmückt,
an die Deichseln find gestickte Handtücher gebunden. Die Trauung wird feierlich
vom Dorfpopeu in der Kirche vollzogen, wobei der Kirchenchor die monotonen, aber
in ihren Harmonien wunderbaren Kirchenlieder singt. Nach der Trauung fahren
alle, begleitet von dem Konzert der hohen und der tiefen Glocken, zu deu Eltern
der Braut, .d. h. wenn es eine Braut "mit Mittagessen" ist. Alle werden reichlich
bewirtet, und es wird bis zum Abend getanzt. Darauf begeben sich alle in das
neue Heini, wo verschiedne Scherze inszeniert werden. Wenn die Braut hinkommt,
wird sie in dicke Plaids gehüllt, in denen sie so lange sitzen muß, bis ihr die
Schwiegermutter ein Brot auf den Kopf legt. Das ist eine Art Begrüßung im
neuen Heim. Die Scherze sind sehr harmloser Natur. Es werden zum Beispiel
Braut und Bräutigam in die Mitte des Zimmers gesetzt, und dann wird der Braut
zugerufen, ihr Liebster habe keine Ohren, keine Nase usw., dann muß sie ihm das
betreffende Glied küssen; er habe keine Füße, dann muß sie vor ihm nieder¬
fallen usw. Darauf bringen ihr die Bauernmädchen Holzscheite -- jede soviel sie
tragen kann, die Braut ist verpflichtet, jedes Bündel mit einem Handtuch zu um¬
winden, das dann die Holzträgerin als Geschenk erhält. Schenken muß die Braut
den Gästen überhaupt viel, und die Geschenke werden eingehend und ungeniert
laut kritisiert. Die Scherze dauern bis tief in die Nacht und sind oft etwas derber
Natur. Der Hochzeitstrubel dauert eine ganze Woche. Es ist interessant, einen
Blick in das Volksleben der Russen zu werfen -- eigentümlich sind ihre Sitten
und Gebräuche, die sich aus frühester Zeit her erhalte" haben. Ein kindliches,
gutmütiges Volk, dessen tiefste Kräfte aber noch schlummern, und das bange und
sehnsüchtig der Erlösung von seinen schweren Leiden harrt.




Russische Bauernhochzeit

In der Hütte weint sie weiter — es würde zu weit führen, all die Un¬
menge Verse wiederzugeben. Sie weint, daß sie zum letztenmal im Hause ist, daß
die Freundinnen bald nicht mehr bei ihr sind. Kommen dann die Gäste, so sitzt
sie mit ihnen am Tisch. Die Braut sitzt auf einem Kissen, das Gesicht die ganze
Zeit mit einem Tuche bedeckt. Wahrend die Gäste essen und trinken, weint die
Braut „mit der Stimme"; sie darf erst später mit den Freundinnen zusammen
etwas genießen. Da ihr Gesicht bedeckt ist, sieht sie natürlich nichts; da sagen ihr
die Freundinnen immer, wenn jemand neues hereintritt, den die Braut dann mit
Weinen empfängt. Nach einiger Zeit wird eine Bank in die Mitte des Zimmers
gerückt, worauf sich die Braut mit ihren Freundinnen setzt. Nun tritt ein Gast
nach dem andern — oft mehr als hundert — ans sie zu und kämmt ihr das
Haar. Auf die Knie legt er ihr Geschenke: Geld, Tücher, Stoff usw. Die ganze
Nacht durch gehts hoch her, da viel Logierbesuch im Hanse ist. Am andern
Morgen wird die Braut in Gegenwart der Gäste angezogen — das Kleid muß,
wenn die Braut keine Waise ist, möglichst grell sein, am beliebtesten ist feuerrot.
Die Gäste setzen sich in ihre Wagen, und ein langer Zug setzt sich in Bewegung.
Ein hübsches Bild! Die Pferde sind mit Glöckchen und bunten Bändern geschmückt,
an die Deichseln find gestickte Handtücher gebunden. Die Trauung wird feierlich
vom Dorfpopeu in der Kirche vollzogen, wobei der Kirchenchor die monotonen, aber
in ihren Harmonien wunderbaren Kirchenlieder singt. Nach der Trauung fahren
alle, begleitet von dem Konzert der hohen und der tiefen Glocken, zu deu Eltern
der Braut, .d. h. wenn es eine Braut „mit Mittagessen" ist. Alle werden reichlich
bewirtet, und es wird bis zum Abend getanzt. Darauf begeben sich alle in das
neue Heini, wo verschiedne Scherze inszeniert werden. Wenn die Braut hinkommt,
wird sie in dicke Plaids gehüllt, in denen sie so lange sitzen muß, bis ihr die
Schwiegermutter ein Brot auf den Kopf legt. Das ist eine Art Begrüßung im
neuen Heim. Die Scherze sind sehr harmloser Natur. Es werden zum Beispiel
Braut und Bräutigam in die Mitte des Zimmers gesetzt, und dann wird der Braut
zugerufen, ihr Liebster habe keine Ohren, keine Nase usw., dann muß sie ihm das
betreffende Glied küssen; er habe keine Füße, dann muß sie vor ihm nieder¬
fallen usw. Darauf bringen ihr die Bauernmädchen Holzscheite — jede soviel sie
tragen kann, die Braut ist verpflichtet, jedes Bündel mit einem Handtuch zu um¬
winden, das dann die Holzträgerin als Geschenk erhält. Schenken muß die Braut
den Gästen überhaupt viel, und die Geschenke werden eingehend und ungeniert
laut kritisiert. Die Scherze dauern bis tief in die Nacht und sind oft etwas derber
Natur. Der Hochzeitstrubel dauert eine ganze Woche. Es ist interessant, einen
Blick in das Volksleben der Russen zu werfen — eigentümlich sind ihre Sitten
und Gebräuche, die sich aus frühester Zeit her erhalte» haben. Ein kindliches,
gutmütiges Volk, dessen tiefste Kräfte aber noch schlummern, und das bange und
sehnsüchtig der Erlösung von seinen schweren Leiden harrt.




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[0690] Russische Bauernhochzeit In der Hütte weint sie weiter — es würde zu weit führen, all die Un¬ menge Verse wiederzugeben. Sie weint, daß sie zum letztenmal im Hause ist, daß die Freundinnen bald nicht mehr bei ihr sind. Kommen dann die Gäste, so sitzt sie mit ihnen am Tisch. Die Braut sitzt auf einem Kissen, das Gesicht die ganze Zeit mit einem Tuche bedeckt. Wahrend die Gäste essen und trinken, weint die Braut „mit der Stimme"; sie darf erst später mit den Freundinnen zusammen etwas genießen. Da ihr Gesicht bedeckt ist, sieht sie natürlich nichts; da sagen ihr die Freundinnen immer, wenn jemand neues hereintritt, den die Braut dann mit Weinen empfängt. Nach einiger Zeit wird eine Bank in die Mitte des Zimmers gerückt, worauf sich die Braut mit ihren Freundinnen setzt. Nun tritt ein Gast nach dem andern — oft mehr als hundert — ans sie zu und kämmt ihr das Haar. Auf die Knie legt er ihr Geschenke: Geld, Tücher, Stoff usw. Die ganze Nacht durch gehts hoch her, da viel Logierbesuch im Hanse ist. Am andern Morgen wird die Braut in Gegenwart der Gäste angezogen — das Kleid muß, wenn die Braut keine Waise ist, möglichst grell sein, am beliebtesten ist feuerrot. Die Gäste setzen sich in ihre Wagen, und ein langer Zug setzt sich in Bewegung. Ein hübsches Bild! Die Pferde sind mit Glöckchen und bunten Bändern geschmückt, an die Deichseln find gestickte Handtücher gebunden. Die Trauung wird feierlich vom Dorfpopeu in der Kirche vollzogen, wobei der Kirchenchor die monotonen, aber in ihren Harmonien wunderbaren Kirchenlieder singt. Nach der Trauung fahren alle, begleitet von dem Konzert der hohen und der tiefen Glocken, zu deu Eltern der Braut, .d. h. wenn es eine Braut „mit Mittagessen" ist. Alle werden reichlich bewirtet, und es wird bis zum Abend getanzt. Darauf begeben sich alle in das neue Heini, wo verschiedne Scherze inszeniert werden. Wenn die Braut hinkommt, wird sie in dicke Plaids gehüllt, in denen sie so lange sitzen muß, bis ihr die Schwiegermutter ein Brot auf den Kopf legt. Das ist eine Art Begrüßung im neuen Heim. Die Scherze sind sehr harmloser Natur. Es werden zum Beispiel Braut und Bräutigam in die Mitte des Zimmers gesetzt, und dann wird der Braut zugerufen, ihr Liebster habe keine Ohren, keine Nase usw., dann muß sie ihm das betreffende Glied küssen; er habe keine Füße, dann muß sie vor ihm nieder¬ fallen usw. Darauf bringen ihr die Bauernmädchen Holzscheite — jede soviel sie tragen kann, die Braut ist verpflichtet, jedes Bündel mit einem Handtuch zu um¬ winden, das dann die Holzträgerin als Geschenk erhält. Schenken muß die Braut den Gästen überhaupt viel, und die Geschenke werden eingehend und ungeniert laut kritisiert. Die Scherze dauern bis tief in die Nacht und sind oft etwas derber Natur. Der Hochzeitstrubel dauert eine ganze Woche. Es ist interessant, einen Blick in das Volksleben der Russen zu werfen — eigentümlich sind ihre Sitten und Gebräuche, die sich aus frühester Zeit her erhalte» haben. Ein kindliches, gutmütiges Volk, dessen tiefste Kräfte aber noch schlummern, und das bange und sehnsüchtig der Erlösung von seinen schweren Leiden harrt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/690>, abgerufen am 23.07.2024.