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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Polen und die Polen im heutigen Luropa

Nationalstaats kommen sollte, so wird das jetzt ganz nationalpolnisch ver¬
waltete Galizien der Kristallisationskern sein. Die österreichisch-ungarische Re¬
gierung kennt die Hoffnungen und die Bestrebungen der Polen sehr gut und
hält sich mit mancherlei wichtigen Gründen ihrer Treue versichert. Sie bilden
parlamentarisch geradezu eine Prütoricmergarde für sie. Gegen den Habs¬
burgischen Kaiserstaat werden die Polen nicht leicht etwas unternehmen. Viel
eher kann man am Himmel der Zukunftsträume ein Polen sehen, das in
Personalunion oder in Sekundogenitur mit dem Donaureich eng verbunden ist.
Wie in einem selbständigen Galizien -- von weiter bemessenen Grenzen ganz
zu schweigen -- die Polen mit den Ruthenen fertig werden wollen, ist eine
ungelöste Frage. Die Polen machen nur wenig mehr als die Hälfte der dortigen
Bevölkerung aus. Ende 1900 wurden nach der Umgangssprache 54,75 vom
Hundert Polen, 42,20 vom Hundert Ruthenen gezählt. Der Rest von 3,05 vom
Hundert verteilt sich auf Deutsche, Rumänen, Slowaken, Magyaren usw.
Die polnische Mehrheit fällt ungefähr zusammen mit der sich zur römisch¬
katholischen Kirche bekennenden Mehrheit. Diese zählt 3350000 Anhänger,
während 3104000 griechisch-katholisch (uniert), 45000 protestantisch und nicht
weniger als 810000 israelitisch sind. Die konfessionelle Spaltung erschwert
die Lösung des Problems. Oder sollen auch die galizischen Ruthenen von
dem Polenreiche der Zukunft ausgeschlossen sein? Meist vernimmt man doch,
daß das eigentliche Ziel der Polen die Wiederherstellung des Jagellonenreichs
in seiner größten Glanzzeit sei. Es solle von "Meer zu Meer", von der
Weichselmündung bis zur Pruthmündung gehn. Doch ist rückhaltlos anzu¬
erkennen, daß die schon erwähnte Frage viel enger und besonnener gestellt ist.
Sie spricht nur von dem heutigen polnischen Sprachgebiet und schließt die
Litauer und die Ruthenen aus.

Was heißt heutiges Sprachgebiet? Das führt uns auf das, was für
uns Deutsche allein von Bedeutung ist, und weshalb es auch für uns einen ge¬
wissen Zweck hat, auf die Frage einzugehn. Betrachten die Polen Westpreußen
als polnisches Sprachgebiet?

Unter je 1000 Personen ortsanwesender Bevölkerung wurden am 1. De¬
zember 1900, ermittelt nach der Muttersprache, gezählt:

im Regierungsbezirk Danzig im Regierungsbezirk Marienwerder
deutsch.......717,11 690,21
deutsch und anderssprachig 8,61 13,43
polnisch...... 139,67 384,21
kassubisch...... 143,43 11,69

Kann man diese Provinz, kann man auch nur einen einzigen Regierungs¬
bezirk als polnisches Sprachgebiet in Anspruch nehmen? In dem einen machen
die Polen ein Siebentel der Bevölkerung aus und sogar mit den Kassuben
noch nicht ein Drittel. In dem andern kommen sie auch mit den Kassuben
noch nicht auf zwei Fünftel.


Polen und die Polen im heutigen Luropa

Nationalstaats kommen sollte, so wird das jetzt ganz nationalpolnisch ver¬
waltete Galizien der Kristallisationskern sein. Die österreichisch-ungarische Re¬
gierung kennt die Hoffnungen und die Bestrebungen der Polen sehr gut und
hält sich mit mancherlei wichtigen Gründen ihrer Treue versichert. Sie bilden
parlamentarisch geradezu eine Prütoricmergarde für sie. Gegen den Habs¬
burgischen Kaiserstaat werden die Polen nicht leicht etwas unternehmen. Viel
eher kann man am Himmel der Zukunftsträume ein Polen sehen, das in
Personalunion oder in Sekundogenitur mit dem Donaureich eng verbunden ist.
Wie in einem selbständigen Galizien — von weiter bemessenen Grenzen ganz
zu schweigen — die Polen mit den Ruthenen fertig werden wollen, ist eine
ungelöste Frage. Die Polen machen nur wenig mehr als die Hälfte der dortigen
Bevölkerung aus. Ende 1900 wurden nach der Umgangssprache 54,75 vom
Hundert Polen, 42,20 vom Hundert Ruthenen gezählt. Der Rest von 3,05 vom
Hundert verteilt sich auf Deutsche, Rumänen, Slowaken, Magyaren usw.
Die polnische Mehrheit fällt ungefähr zusammen mit der sich zur römisch¬
katholischen Kirche bekennenden Mehrheit. Diese zählt 3350000 Anhänger,
während 3104000 griechisch-katholisch (uniert), 45000 protestantisch und nicht
weniger als 810000 israelitisch sind. Die konfessionelle Spaltung erschwert
die Lösung des Problems. Oder sollen auch die galizischen Ruthenen von
dem Polenreiche der Zukunft ausgeschlossen sein? Meist vernimmt man doch,
daß das eigentliche Ziel der Polen die Wiederherstellung des Jagellonenreichs
in seiner größten Glanzzeit sei. Es solle von „Meer zu Meer", von der
Weichselmündung bis zur Pruthmündung gehn. Doch ist rückhaltlos anzu¬
erkennen, daß die schon erwähnte Frage viel enger und besonnener gestellt ist.
Sie spricht nur von dem heutigen polnischen Sprachgebiet und schließt die
Litauer und die Ruthenen aus.

Was heißt heutiges Sprachgebiet? Das führt uns auf das, was für
uns Deutsche allein von Bedeutung ist, und weshalb es auch für uns einen ge¬
wissen Zweck hat, auf die Frage einzugehn. Betrachten die Polen Westpreußen
als polnisches Sprachgebiet?

Unter je 1000 Personen ortsanwesender Bevölkerung wurden am 1. De¬
zember 1900, ermittelt nach der Muttersprache, gezählt:

im Regierungsbezirk Danzig im Regierungsbezirk Marienwerder
deutsch.......717,11 690,21
deutsch und anderssprachig 8,61 13,43
polnisch...... 139,67 384,21
kassubisch...... 143,43 11,69

Kann man diese Provinz, kann man auch nur einen einzigen Regierungs¬
bezirk als polnisches Sprachgebiet in Anspruch nehmen? In dem einen machen
die Polen ein Siebentel der Bevölkerung aus und sogar mit den Kassuben
noch nicht ein Drittel. In dem andern kommen sie auch mit den Kassuben
noch nicht auf zwei Fünftel.


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[0066] Polen und die Polen im heutigen Luropa Nationalstaats kommen sollte, so wird das jetzt ganz nationalpolnisch ver¬ waltete Galizien der Kristallisationskern sein. Die österreichisch-ungarische Re¬ gierung kennt die Hoffnungen und die Bestrebungen der Polen sehr gut und hält sich mit mancherlei wichtigen Gründen ihrer Treue versichert. Sie bilden parlamentarisch geradezu eine Prütoricmergarde für sie. Gegen den Habs¬ burgischen Kaiserstaat werden die Polen nicht leicht etwas unternehmen. Viel eher kann man am Himmel der Zukunftsträume ein Polen sehen, das in Personalunion oder in Sekundogenitur mit dem Donaureich eng verbunden ist. Wie in einem selbständigen Galizien — von weiter bemessenen Grenzen ganz zu schweigen — die Polen mit den Ruthenen fertig werden wollen, ist eine ungelöste Frage. Die Polen machen nur wenig mehr als die Hälfte der dortigen Bevölkerung aus. Ende 1900 wurden nach der Umgangssprache 54,75 vom Hundert Polen, 42,20 vom Hundert Ruthenen gezählt. Der Rest von 3,05 vom Hundert verteilt sich auf Deutsche, Rumänen, Slowaken, Magyaren usw. Die polnische Mehrheit fällt ungefähr zusammen mit der sich zur römisch¬ katholischen Kirche bekennenden Mehrheit. Diese zählt 3350000 Anhänger, während 3104000 griechisch-katholisch (uniert), 45000 protestantisch und nicht weniger als 810000 israelitisch sind. Die konfessionelle Spaltung erschwert die Lösung des Problems. Oder sollen auch die galizischen Ruthenen von dem Polenreiche der Zukunft ausgeschlossen sein? Meist vernimmt man doch, daß das eigentliche Ziel der Polen die Wiederherstellung des Jagellonenreichs in seiner größten Glanzzeit sei. Es solle von „Meer zu Meer", von der Weichselmündung bis zur Pruthmündung gehn. Doch ist rückhaltlos anzu¬ erkennen, daß die schon erwähnte Frage viel enger und besonnener gestellt ist. Sie spricht nur von dem heutigen polnischen Sprachgebiet und schließt die Litauer und die Ruthenen aus. Was heißt heutiges Sprachgebiet? Das führt uns auf das, was für uns Deutsche allein von Bedeutung ist, und weshalb es auch für uns einen ge¬ wissen Zweck hat, auf die Frage einzugehn. Betrachten die Polen Westpreußen als polnisches Sprachgebiet? Unter je 1000 Personen ortsanwesender Bevölkerung wurden am 1. De¬ zember 1900, ermittelt nach der Muttersprache, gezählt: im Regierungsbezirk Danzig im Regierungsbezirk Marienwerder deutsch.......717,11 690,21 deutsch und anderssprachig 8,61 13,43 polnisch...... 139,67 384,21 kassubisch...... 143,43 11,69 Kann man diese Provinz, kann man auch nur einen einzigen Regierungs¬ bezirk als polnisches Sprachgebiet in Anspruch nehmen? In dem einen machen die Polen ein Siebentel der Bevölkerung aus und sogar mit den Kassuben noch nicht ein Drittel. In dem andern kommen sie auch mit den Kassuben noch nicht auf zwei Fünftel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/66>, abgerufen am 23.07.2024.