Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Christliche Liebestätigkeit

nicht mehr die politischen Mächte ein Hilfsmittel sind zur Volkshilfe, sondern
die Liebesarbeit ein Hilfsmittel sein soll, zur politischen Macht zu gelangen
-- vielleicht in dem Wahn: "Haben wir nur erst die Macht, so wollen wir
schon alles aufs beste ordnen" --, da geschieht der Sache eine schwere
Schädigung. Denn wenn die Liebesarbeit nicht Selbstzweck ist, ist sie nicht
Liebe und hat ihre wesentliche innere Kraft verloren.

Ich kann ja hier nicht an der großen brennenden Frage unsrer Zeit
vorbei, an dem klaffenden Riß der Stände untereinander, an dem Haß und
Neid der einen, an der Unkenntnis und dem unbekümmerten Genußleben der
andern. "Die höhern Stände werden nicht eher lernen in den persönlichen
Verkehr und die persönliche Bekanntschaft mit den niedern Ständen zu treten,
bis sie ihnen die Fenster einschmeißen", so wurde jüngst von ernst wohl¬
meinender Seite grob aber -- wenn auch mit Einschränkung -- wahr gesagt.
In dieser persönlichen Verständigung der Stände -- nicht bloß in der Ab¬
stellung einzelner Notstände, so wichtig neben vielem andern zum Beispiel die
Wohnungsfrage ist -- sehe ich den Kernpunkt der sozialen Frage und glaube,
daß die Arbeiter ihn darin sehen. Wie sehr die Sozialdemokratie diese Ver¬
ständigung erschwert hat, sodaß manche aus den höhern Ständen nach vieler
vergeblicher Mühe und Geduld die Lust verloren haben, das soll nicht ver¬
schwiegen sein. Nun aber scheint in der Arbeiterschaft etwas aufgehn zu
wollen von der mühsamen Saat, die in unbeachteter stiller Arbeit jahrzehnte¬
lang getan worden ist. In Frankfurt hat der erste deutsche Arbeiterkongreß
getagt, der von den evangelischen und den katholischen Arbeitervereinen, den
christlichen Gewerkschaften und andern Organisationen beschickt 622000 organi¬
sierte Arbeiter vertrat, die der Sozialdemokratie nicht folgen, die nichts vom
Umsturz hoffen und wollen, sondern auf dem Boden des Gesetzes, der be¬
stehenden Staatsordnung und des Christentums die Interessen der Arbeiter¬
schaft vertreten wollen. So ist es also doch zu einem Teile schon gelungen,
die Arbeiterschaft von der unheilvollen Führung blinder Parteifanatiker frei
zu machen. Und -- bezeichnend genug -- dieser erste kleine Schritt, der ja
freilich erst noch künftige große Aufgaben und heißes Ringen anzeigt, das
noch wird getan werden müssen, er ist errungen nicht durch politische Macht¬
mittel, wie Naumann und Goehre wollten, sondern durch die Pflege christ¬
licher Charaktere, christlicher Überzeugungen, lebendigen christlichen Glaubens.
Sind die Personen erst gewonnen, dann gehn auch die Taten voran, dann
gelingen auch die Neuordnungen. Im letzten Grunde kommt alle Hilfe
nicht durch äußere Machtmittel, nicht von außen nach innen, sondern von innen
nach außen.

So bleibt es also doch klar als die größte, die erste und letzte Aufgabe
bestehn auch für unsre Zeit, was Elisabeth Fry mit dem Wort ausgedrückt
hat: "Die Barmherzigkeit mit der Seele ist die Seele der Barmherzigkeit."
Aller Liebesarbeit einiger Meister bleibt darum der, der als die Offenbarung


Christliche Liebestätigkeit

nicht mehr die politischen Mächte ein Hilfsmittel sind zur Volkshilfe, sondern
die Liebesarbeit ein Hilfsmittel sein soll, zur politischen Macht zu gelangen
— vielleicht in dem Wahn: „Haben wir nur erst die Macht, so wollen wir
schon alles aufs beste ordnen" —, da geschieht der Sache eine schwere
Schädigung. Denn wenn die Liebesarbeit nicht Selbstzweck ist, ist sie nicht
Liebe und hat ihre wesentliche innere Kraft verloren.

Ich kann ja hier nicht an der großen brennenden Frage unsrer Zeit
vorbei, an dem klaffenden Riß der Stände untereinander, an dem Haß und
Neid der einen, an der Unkenntnis und dem unbekümmerten Genußleben der
andern. „Die höhern Stände werden nicht eher lernen in den persönlichen
Verkehr und die persönliche Bekanntschaft mit den niedern Ständen zu treten,
bis sie ihnen die Fenster einschmeißen", so wurde jüngst von ernst wohl¬
meinender Seite grob aber — wenn auch mit Einschränkung — wahr gesagt.
In dieser persönlichen Verständigung der Stände — nicht bloß in der Ab¬
stellung einzelner Notstände, so wichtig neben vielem andern zum Beispiel die
Wohnungsfrage ist — sehe ich den Kernpunkt der sozialen Frage und glaube,
daß die Arbeiter ihn darin sehen. Wie sehr die Sozialdemokratie diese Ver¬
ständigung erschwert hat, sodaß manche aus den höhern Ständen nach vieler
vergeblicher Mühe und Geduld die Lust verloren haben, das soll nicht ver¬
schwiegen sein. Nun aber scheint in der Arbeiterschaft etwas aufgehn zu
wollen von der mühsamen Saat, die in unbeachteter stiller Arbeit jahrzehnte¬
lang getan worden ist. In Frankfurt hat der erste deutsche Arbeiterkongreß
getagt, der von den evangelischen und den katholischen Arbeitervereinen, den
christlichen Gewerkschaften und andern Organisationen beschickt 622000 organi¬
sierte Arbeiter vertrat, die der Sozialdemokratie nicht folgen, die nichts vom
Umsturz hoffen und wollen, sondern auf dem Boden des Gesetzes, der be¬
stehenden Staatsordnung und des Christentums die Interessen der Arbeiter¬
schaft vertreten wollen. So ist es also doch zu einem Teile schon gelungen,
die Arbeiterschaft von der unheilvollen Führung blinder Parteifanatiker frei
zu machen. Und — bezeichnend genug — dieser erste kleine Schritt, der ja
freilich erst noch künftige große Aufgaben und heißes Ringen anzeigt, das
noch wird getan werden müssen, er ist errungen nicht durch politische Macht¬
mittel, wie Naumann und Goehre wollten, sondern durch die Pflege christ¬
licher Charaktere, christlicher Überzeugungen, lebendigen christlichen Glaubens.
Sind die Personen erst gewonnen, dann gehn auch die Taten voran, dann
gelingen auch die Neuordnungen. Im letzten Grunde kommt alle Hilfe
nicht durch äußere Machtmittel, nicht von außen nach innen, sondern von innen
nach außen.

So bleibt es also doch klar als die größte, die erste und letzte Aufgabe
bestehn auch für unsre Zeit, was Elisabeth Fry mit dem Wort ausgedrückt
hat: „Die Barmherzigkeit mit der Seele ist die Seele der Barmherzigkeit."
Aller Liebesarbeit einiger Meister bleibt darum der, der als die Offenbarung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0620" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300407"/>
            <fw type="header" place="top"> Christliche Liebestätigkeit</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2449" prev="#ID_2448"> nicht mehr die politischen Mächte ein Hilfsmittel sind zur Volkshilfe, sondern<lb/>
die Liebesarbeit ein Hilfsmittel sein soll, zur politischen Macht zu gelangen<lb/>
&#x2014; vielleicht in dem Wahn: &#x201E;Haben wir nur erst die Macht, so wollen wir<lb/>
schon alles aufs beste ordnen" &#x2014;, da geschieht der Sache eine schwere<lb/>
Schädigung. Denn wenn die Liebesarbeit nicht Selbstzweck ist, ist sie nicht<lb/>
Liebe und hat ihre wesentliche innere Kraft verloren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2450"> Ich kann ja hier nicht an der großen brennenden Frage unsrer Zeit<lb/>
vorbei, an dem klaffenden Riß der Stände untereinander, an dem Haß und<lb/>
Neid der einen, an der Unkenntnis und dem unbekümmerten Genußleben der<lb/>
andern. &#x201E;Die höhern Stände werden nicht eher lernen in den persönlichen<lb/>
Verkehr und die persönliche Bekanntschaft mit den niedern Ständen zu treten,<lb/>
bis sie ihnen die Fenster einschmeißen", so wurde jüngst von ernst wohl¬<lb/>
meinender Seite grob aber &#x2014; wenn auch mit Einschränkung &#x2014; wahr gesagt.<lb/>
In dieser persönlichen Verständigung der Stände &#x2014; nicht bloß in der Ab¬<lb/>
stellung einzelner Notstände, so wichtig neben vielem andern zum Beispiel die<lb/>
Wohnungsfrage ist &#x2014; sehe ich den Kernpunkt der sozialen Frage und glaube,<lb/>
daß die Arbeiter ihn darin sehen. Wie sehr die Sozialdemokratie diese Ver¬<lb/>
ständigung erschwert hat, sodaß manche aus den höhern Ständen nach vieler<lb/>
vergeblicher Mühe und Geduld die Lust verloren haben, das soll nicht ver¬<lb/>
schwiegen sein. Nun aber scheint in der Arbeiterschaft etwas aufgehn zu<lb/>
wollen von der mühsamen Saat, die in unbeachteter stiller Arbeit jahrzehnte¬<lb/>
lang getan worden ist. In Frankfurt hat der erste deutsche Arbeiterkongreß<lb/>
getagt, der von den evangelischen und den katholischen Arbeitervereinen, den<lb/>
christlichen Gewerkschaften und andern Organisationen beschickt 622000 organi¬<lb/>
sierte Arbeiter vertrat, die der Sozialdemokratie nicht folgen, die nichts vom<lb/>
Umsturz hoffen und wollen, sondern auf dem Boden des Gesetzes, der be¬<lb/>
stehenden Staatsordnung und des Christentums die Interessen der Arbeiter¬<lb/>
schaft vertreten wollen. So ist es also doch zu einem Teile schon gelungen,<lb/>
die Arbeiterschaft von der unheilvollen Führung blinder Parteifanatiker frei<lb/>
zu machen. Und &#x2014; bezeichnend genug &#x2014; dieser erste kleine Schritt, der ja<lb/>
freilich erst noch künftige große Aufgaben und heißes Ringen anzeigt, das<lb/>
noch wird getan werden müssen, er ist errungen nicht durch politische Macht¬<lb/>
mittel, wie Naumann und Goehre wollten, sondern durch die Pflege christ¬<lb/>
licher Charaktere, christlicher Überzeugungen, lebendigen christlichen Glaubens.<lb/>
Sind die Personen erst gewonnen, dann gehn auch die Taten voran, dann<lb/>
gelingen auch die Neuordnungen. Im letzten Grunde kommt alle Hilfe<lb/>
nicht durch äußere Machtmittel, nicht von außen nach innen, sondern von innen<lb/>
nach außen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2451" next="#ID_2452"> So bleibt es also doch klar als die größte, die erste und letzte Aufgabe<lb/>
bestehn auch für unsre Zeit, was Elisabeth Fry mit dem Wort ausgedrückt<lb/>
hat: &#x201E;Die Barmherzigkeit mit der Seele ist die Seele der Barmherzigkeit."<lb/>
Aller Liebesarbeit einiger Meister bleibt darum der, der als die Offenbarung</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0620] Christliche Liebestätigkeit nicht mehr die politischen Mächte ein Hilfsmittel sind zur Volkshilfe, sondern die Liebesarbeit ein Hilfsmittel sein soll, zur politischen Macht zu gelangen — vielleicht in dem Wahn: „Haben wir nur erst die Macht, so wollen wir schon alles aufs beste ordnen" —, da geschieht der Sache eine schwere Schädigung. Denn wenn die Liebesarbeit nicht Selbstzweck ist, ist sie nicht Liebe und hat ihre wesentliche innere Kraft verloren. Ich kann ja hier nicht an der großen brennenden Frage unsrer Zeit vorbei, an dem klaffenden Riß der Stände untereinander, an dem Haß und Neid der einen, an der Unkenntnis und dem unbekümmerten Genußleben der andern. „Die höhern Stände werden nicht eher lernen in den persönlichen Verkehr und die persönliche Bekanntschaft mit den niedern Ständen zu treten, bis sie ihnen die Fenster einschmeißen", so wurde jüngst von ernst wohl¬ meinender Seite grob aber — wenn auch mit Einschränkung — wahr gesagt. In dieser persönlichen Verständigung der Stände — nicht bloß in der Ab¬ stellung einzelner Notstände, so wichtig neben vielem andern zum Beispiel die Wohnungsfrage ist — sehe ich den Kernpunkt der sozialen Frage und glaube, daß die Arbeiter ihn darin sehen. Wie sehr die Sozialdemokratie diese Ver¬ ständigung erschwert hat, sodaß manche aus den höhern Ständen nach vieler vergeblicher Mühe und Geduld die Lust verloren haben, das soll nicht ver¬ schwiegen sein. Nun aber scheint in der Arbeiterschaft etwas aufgehn zu wollen von der mühsamen Saat, die in unbeachteter stiller Arbeit jahrzehnte¬ lang getan worden ist. In Frankfurt hat der erste deutsche Arbeiterkongreß getagt, der von den evangelischen und den katholischen Arbeitervereinen, den christlichen Gewerkschaften und andern Organisationen beschickt 622000 organi¬ sierte Arbeiter vertrat, die der Sozialdemokratie nicht folgen, die nichts vom Umsturz hoffen und wollen, sondern auf dem Boden des Gesetzes, der be¬ stehenden Staatsordnung und des Christentums die Interessen der Arbeiter¬ schaft vertreten wollen. So ist es also doch zu einem Teile schon gelungen, die Arbeiterschaft von der unheilvollen Führung blinder Parteifanatiker frei zu machen. Und — bezeichnend genug — dieser erste kleine Schritt, der ja freilich erst noch künftige große Aufgaben und heißes Ringen anzeigt, das noch wird getan werden müssen, er ist errungen nicht durch politische Macht¬ mittel, wie Naumann und Goehre wollten, sondern durch die Pflege christ¬ licher Charaktere, christlicher Überzeugungen, lebendigen christlichen Glaubens. Sind die Personen erst gewonnen, dann gehn auch die Taten voran, dann gelingen auch die Neuordnungen. Im letzten Grunde kommt alle Hilfe nicht durch äußere Machtmittel, nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen. So bleibt es also doch klar als die größte, die erste und letzte Aufgabe bestehn auch für unsre Zeit, was Elisabeth Fry mit dem Wort ausgedrückt hat: „Die Barmherzigkeit mit der Seele ist die Seele der Barmherzigkeit." Aller Liebesarbeit einiger Meister bleibt darum der, der als die Offenbarung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/620
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/620>, abgerufen am 23.07.2024.