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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

ein Mitglied erklärte, es habe "Fremde im Hause erspäht". Bei den Ver¬
handlungen herrscht das strengste Zeremoniell. Es existiert keine Rednerliste.
Wer sprechen will, steht auf und sucht w LateK ins s^s ok los LvsaKsr.
Dieser benennt den, den er zuerst hat aufstehn sehen, und läßt immer ab¬
wechselnd einen für und einen gegen den Antrag sprechen. Der Redner spricht
von seinem Platze, zum speaker gewandt, den er anredet. Zwischen ihm und
dem speaker -- etwa im Quergange, der die Bankreihen in eine obere und
eine untere Abteilung scheidet -- darf sich niemand bewegen. Jeder Abgeordnete
darf nur einmal sprechen und darf nicht unterbrochen werden. Weder ein
Zwiegespräch ist möglich noch Anhäufung der Abgeordneten in Gruppen. Das
feierliche altmodische Zeremoniell verleiht der Verhandlung Würde. Vor dem
speaker, wenn er aus und ein geht, wird das Zepter einhergetragen, das, so¬
lange er seinen Thron einnimmt, auf dem Tische des Hauses liegt. Wer dem
speaker naht, hat sich ehrfurchtsvoll vor ihm zu verbeugen, und auch die
Einbringung eines Antrags, der vorher angemeldet und dann als Schriftstück
auf den Tisch des Hauses niedergelegt werden muß, vollzieht sich mit zeremoniöser
Feierlichkeit. Das Mitglied, das den Antrag auf Erwiderung der Thronrede
durch eine Adresse stellt, und das zweite, das ihn unterstützt, erscheinen beide
in Hoftracht. Für den Schriftwechsel der beiden Häuser und für die Formeln,
in denen der König mit dem Parlament verkehrt, ist die anglonormännische
Hofsprache gebräuchlich. ^ osseo bills g-vssMö ass amönclölliöiits los ssiAnsurs
saut Ässsnws, schreiben die Lords den Commons. Die Redefreiheit der Ab¬
geordneten ist keine Schimpffreiheit, und ihr Privileg, im Hause frei ihre
Meinung auszusprechen, schützt sie nicht, wenn sie Anfechtbares durch den Druck
außer dem Hause verbreiten. Gegen beleidigende oder gar hochverräterische
Äußerungen schreitet der speaker mit Rügen und Strafen ein. Doch bemerkt
Redlich: "Wer Entscheidungen aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten im Zu¬
sammenhange liest, wird den Eindruck gewinnen, daß die Judikatur des Speakers
zwar sehr sorgfältig im Sinne des Schutzes persönlicher Ehre wirkt, daß aber
dennoch dem scharfen Worte, dem kräftigen Ausdruck der Überzeugung und der
für die parlamentarische Polemik bis zu einem gewissen Grade unentbehrlichen
persönlichen Aggression genügend Raum gelassen wird. Die neuere Praxis
des deutschen Neichstagspräsidiums, die sozusagen jeder kräftigen sprachlichen
Lebensäußerung im Hause mit dem Ordnungsruf entgegentritt, sticht dagegen
deutlich ab." Und läßt der Redner eine Rede, die Beleidigungen enthält,
drucken, so gilt diese Druckschrift als Ilidsl und kann als solches verfolgt
werden. Vollends unmöglich ist in England die Praxis österreichischer Ab¬
geordneter, konfiszierte Schmähschriften im Reichstage zur Begründung einer
Jnterpellation vorzulesen und sie dann als Bestandteil eines Parlamentsberichts
in die Öffentlichkeit zu bringen. Der speaker, dessen Amt seit 1377 urkundlich
bezeugt ist, nimmt eine Stellung ein, die ihm zwar außerordentlich schwierige
Verpflichtungen auferlegt, zugleich aber die Erfüllung dieser Pflichten durch


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

ein Mitglied erklärte, es habe „Fremde im Hause erspäht". Bei den Ver¬
handlungen herrscht das strengste Zeremoniell. Es existiert keine Rednerliste.
Wer sprechen will, steht auf und sucht w LateK ins s^s ok los LvsaKsr.
Dieser benennt den, den er zuerst hat aufstehn sehen, und läßt immer ab¬
wechselnd einen für und einen gegen den Antrag sprechen. Der Redner spricht
von seinem Platze, zum speaker gewandt, den er anredet. Zwischen ihm und
dem speaker — etwa im Quergange, der die Bankreihen in eine obere und
eine untere Abteilung scheidet — darf sich niemand bewegen. Jeder Abgeordnete
darf nur einmal sprechen und darf nicht unterbrochen werden. Weder ein
Zwiegespräch ist möglich noch Anhäufung der Abgeordneten in Gruppen. Das
feierliche altmodische Zeremoniell verleiht der Verhandlung Würde. Vor dem
speaker, wenn er aus und ein geht, wird das Zepter einhergetragen, das, so¬
lange er seinen Thron einnimmt, auf dem Tische des Hauses liegt. Wer dem
speaker naht, hat sich ehrfurchtsvoll vor ihm zu verbeugen, und auch die
Einbringung eines Antrags, der vorher angemeldet und dann als Schriftstück
auf den Tisch des Hauses niedergelegt werden muß, vollzieht sich mit zeremoniöser
Feierlichkeit. Das Mitglied, das den Antrag auf Erwiderung der Thronrede
durch eine Adresse stellt, und das zweite, das ihn unterstützt, erscheinen beide
in Hoftracht. Für den Schriftwechsel der beiden Häuser und für die Formeln,
in denen der König mit dem Parlament verkehrt, ist die anglonormännische
Hofsprache gebräuchlich. ^ osseo bills g-vssMö ass amönclölliöiits los ssiAnsurs
saut Ässsnws, schreiben die Lords den Commons. Die Redefreiheit der Ab¬
geordneten ist keine Schimpffreiheit, und ihr Privileg, im Hause frei ihre
Meinung auszusprechen, schützt sie nicht, wenn sie Anfechtbares durch den Druck
außer dem Hause verbreiten. Gegen beleidigende oder gar hochverräterische
Äußerungen schreitet der speaker mit Rügen und Strafen ein. Doch bemerkt
Redlich: „Wer Entscheidungen aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten im Zu¬
sammenhange liest, wird den Eindruck gewinnen, daß die Judikatur des Speakers
zwar sehr sorgfältig im Sinne des Schutzes persönlicher Ehre wirkt, daß aber
dennoch dem scharfen Worte, dem kräftigen Ausdruck der Überzeugung und der
für die parlamentarische Polemik bis zu einem gewissen Grade unentbehrlichen
persönlichen Aggression genügend Raum gelassen wird. Die neuere Praxis
des deutschen Neichstagspräsidiums, die sozusagen jeder kräftigen sprachlichen
Lebensäußerung im Hause mit dem Ordnungsruf entgegentritt, sticht dagegen
deutlich ab." Und läßt der Redner eine Rede, die Beleidigungen enthält,
drucken, so gilt diese Druckschrift als Ilidsl und kann als solches verfolgt
werden. Vollends unmöglich ist in England die Praxis österreichischer Ab¬
geordneter, konfiszierte Schmähschriften im Reichstage zur Begründung einer
Jnterpellation vorzulesen und sie dann als Bestandteil eines Parlamentsberichts
in die Öffentlichkeit zu bringen. Der speaker, dessen Amt seit 1377 urkundlich
bezeugt ist, nimmt eine Stellung ein, die ihm zwar außerordentlich schwierige
Verpflichtungen auferlegt, zugleich aber die Erfüllung dieser Pflichten durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/564>, abgerufen am 23.07.2024.