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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Erinnerung an Ibsen

zu hoch davon (im zweiten und im achtzigsten Stück der Dramaturgie); Böckh
erkannte an, daß die Tragödie den Patriotismus geweckt und das Volk beraten
habe; aber er findet es doch schwer begreiflich, wie das Publikum besonders dem
hohen Schwung der Chöre folgen konnte, und meint, es war offenbar nicht
darauf abgesehen, daß jeder alles verstehe. Wir werden ihm wohl beistimmen
müssen, wenn wir uns auch vergegenwärtigen, daß die Darstellung fast opern¬
müßig, jedenfalls langsamer war, als wir es uns beim Lesen gewöhnlich denken.

Uns interessiert gegenwärtig hauptsächlich die Gesellschaft mit ihren
Strömungen und Gegensätzen bis zu dem Grade, daß man, wie Hebbel sagt,
nur ein Mensch zu sein braucht, um ein "Schicksal" zu haben. Wir sind also
über Gottscheds Anschauung hinaus, daß das Hofleben das Original des
Trauerspiels, das Stadtleben das der Komödie, das Landleben das des Schäfer¬
spiels ist. Vielmehr ist uns gezeigt worden, daß das Landleben vor tragischen
Verwicklungen nicht sicher ist, und daß das Hofleben sich zuweilen zum Lust¬
spiel eignet, auch wenn wir dabei nicht gleich an B. Shaws zum Teil recht
amüsantes Stück "Cäsar und Kleopatra" denken. Die Schilderung der Ge¬
sellschaft wird um so lebensvoller oder aktueller sein, je mehr es die gegen¬
wärtige oder, da sie nicht überall gleich ist, eine gegenwärtige ist, so jedoch,
daß diese eine das moderne Leben in seinen allgemeinern oder typischen Zügen
wiedergibt. Welche Eigenschaften zeigt also, fragen wir uns, die Gesellschaft
bei Ibsen, an was für Personen werden diese Eigenschaften dargestellt, und
welche Schicksale erleben sie?

In den "Stützen der Gesellschaft" lernen wir hauptsächlich besitzende und
angesehene Leute kennen; aber ihr Ansehen, besonders das Bernicks, ist im
Grunde unverdient. Trotzdem preisen sie sich mit genügendem Stimmaufwands
gerade als die Stützen. Diese Neigung, uns zu sagen, daß nicht alles Gold
ist, was glänzt, und daß jene Leute eine irgendwie peinliche Vergangenheit
haben, deren Folgen durch die Logik der Tatsachen zutage treten, ist bei Ibsen
stark ausgebildet. Die arme Nora ist sehr unvorsichtig gewesen, als sie Datum
und Namen des Vaters unter den Wechsel setzte. Werkes Geschäfte scheinen
nicht reinlich gewesen zu sein; aber er ist freigesprochen worden, nur Leutnant
Ettal verurteilt. Werte hat auch mit Gina in etwas zu liebevollen Be¬
ziehungen gestanden und sie dann mit Hjalmar verheiratet. Die kleine Hedwig
ist, wie Werle selbst, augenleidend. Düstre Schatten sind in den "Gespenstern"
auf die Ehe der Frau Helene mit Alving gefallen. Zu Borkmanns furcht¬
barem Zusammenbruch kommt noch die der Öffentlichkeit fremde Tatsache, daß
er, von zwei Schwestern geliebt, die eine an den Advokaten Hinket verkaufen
wollte, weil er diesen brauchte. Nebekkas Schuld enthüllt sich uns: um Rosmer
zu gewinnen, suchte sie heimlich Beate in Wahnsinn und Tod zu treiben.
Genug heimliche Schäden! Ihre Konsequenz oder die Rache wird aber nicht
durch eine besondre Menschenklasse, etwa den sogenannten vierten Stand, ver¬
anschaulicht und herbeigeführt. Die "Arbeiter" kündigen sich nur eben an gegen


Zur Erinnerung an Ibsen

zu hoch davon (im zweiten und im achtzigsten Stück der Dramaturgie); Böckh
erkannte an, daß die Tragödie den Patriotismus geweckt und das Volk beraten
habe; aber er findet es doch schwer begreiflich, wie das Publikum besonders dem
hohen Schwung der Chöre folgen konnte, und meint, es war offenbar nicht
darauf abgesehen, daß jeder alles verstehe. Wir werden ihm wohl beistimmen
müssen, wenn wir uns auch vergegenwärtigen, daß die Darstellung fast opern¬
müßig, jedenfalls langsamer war, als wir es uns beim Lesen gewöhnlich denken.

Uns interessiert gegenwärtig hauptsächlich die Gesellschaft mit ihren
Strömungen und Gegensätzen bis zu dem Grade, daß man, wie Hebbel sagt,
nur ein Mensch zu sein braucht, um ein „Schicksal" zu haben. Wir sind also
über Gottscheds Anschauung hinaus, daß das Hofleben das Original des
Trauerspiels, das Stadtleben das der Komödie, das Landleben das des Schäfer¬
spiels ist. Vielmehr ist uns gezeigt worden, daß das Landleben vor tragischen
Verwicklungen nicht sicher ist, und daß das Hofleben sich zuweilen zum Lust¬
spiel eignet, auch wenn wir dabei nicht gleich an B. Shaws zum Teil recht
amüsantes Stück „Cäsar und Kleopatra" denken. Die Schilderung der Ge¬
sellschaft wird um so lebensvoller oder aktueller sein, je mehr es die gegen¬
wärtige oder, da sie nicht überall gleich ist, eine gegenwärtige ist, so jedoch,
daß diese eine das moderne Leben in seinen allgemeinern oder typischen Zügen
wiedergibt. Welche Eigenschaften zeigt also, fragen wir uns, die Gesellschaft
bei Ibsen, an was für Personen werden diese Eigenschaften dargestellt, und
welche Schicksale erleben sie?

In den „Stützen der Gesellschaft" lernen wir hauptsächlich besitzende und
angesehene Leute kennen; aber ihr Ansehen, besonders das Bernicks, ist im
Grunde unverdient. Trotzdem preisen sie sich mit genügendem Stimmaufwands
gerade als die Stützen. Diese Neigung, uns zu sagen, daß nicht alles Gold
ist, was glänzt, und daß jene Leute eine irgendwie peinliche Vergangenheit
haben, deren Folgen durch die Logik der Tatsachen zutage treten, ist bei Ibsen
stark ausgebildet. Die arme Nora ist sehr unvorsichtig gewesen, als sie Datum
und Namen des Vaters unter den Wechsel setzte. Werkes Geschäfte scheinen
nicht reinlich gewesen zu sein; aber er ist freigesprochen worden, nur Leutnant
Ettal verurteilt. Werte hat auch mit Gina in etwas zu liebevollen Be¬
ziehungen gestanden und sie dann mit Hjalmar verheiratet. Die kleine Hedwig
ist, wie Werle selbst, augenleidend. Düstre Schatten sind in den „Gespenstern"
auf die Ehe der Frau Helene mit Alving gefallen. Zu Borkmanns furcht¬
barem Zusammenbruch kommt noch die der Öffentlichkeit fremde Tatsache, daß
er, von zwei Schwestern geliebt, die eine an den Advokaten Hinket verkaufen
wollte, weil er diesen brauchte. Nebekkas Schuld enthüllt sich uns: um Rosmer
zu gewinnen, suchte sie heimlich Beate in Wahnsinn und Tod zu treiben.
Genug heimliche Schäden! Ihre Konsequenz oder die Rache wird aber nicht
durch eine besondre Menschenklasse, etwa den sogenannten vierten Stand, ver¬
anschaulicht und herbeigeführt. Die „Arbeiter" kündigen sich nur eben an gegen


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[0512] Zur Erinnerung an Ibsen zu hoch davon (im zweiten und im achtzigsten Stück der Dramaturgie); Böckh erkannte an, daß die Tragödie den Patriotismus geweckt und das Volk beraten habe; aber er findet es doch schwer begreiflich, wie das Publikum besonders dem hohen Schwung der Chöre folgen konnte, und meint, es war offenbar nicht darauf abgesehen, daß jeder alles verstehe. Wir werden ihm wohl beistimmen müssen, wenn wir uns auch vergegenwärtigen, daß die Darstellung fast opern¬ müßig, jedenfalls langsamer war, als wir es uns beim Lesen gewöhnlich denken. Uns interessiert gegenwärtig hauptsächlich die Gesellschaft mit ihren Strömungen und Gegensätzen bis zu dem Grade, daß man, wie Hebbel sagt, nur ein Mensch zu sein braucht, um ein „Schicksal" zu haben. Wir sind also über Gottscheds Anschauung hinaus, daß das Hofleben das Original des Trauerspiels, das Stadtleben das der Komödie, das Landleben das des Schäfer¬ spiels ist. Vielmehr ist uns gezeigt worden, daß das Landleben vor tragischen Verwicklungen nicht sicher ist, und daß das Hofleben sich zuweilen zum Lust¬ spiel eignet, auch wenn wir dabei nicht gleich an B. Shaws zum Teil recht amüsantes Stück „Cäsar und Kleopatra" denken. Die Schilderung der Ge¬ sellschaft wird um so lebensvoller oder aktueller sein, je mehr es die gegen¬ wärtige oder, da sie nicht überall gleich ist, eine gegenwärtige ist, so jedoch, daß diese eine das moderne Leben in seinen allgemeinern oder typischen Zügen wiedergibt. Welche Eigenschaften zeigt also, fragen wir uns, die Gesellschaft bei Ibsen, an was für Personen werden diese Eigenschaften dargestellt, und welche Schicksale erleben sie? In den „Stützen der Gesellschaft" lernen wir hauptsächlich besitzende und angesehene Leute kennen; aber ihr Ansehen, besonders das Bernicks, ist im Grunde unverdient. Trotzdem preisen sie sich mit genügendem Stimmaufwands gerade als die Stützen. Diese Neigung, uns zu sagen, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, und daß jene Leute eine irgendwie peinliche Vergangenheit haben, deren Folgen durch die Logik der Tatsachen zutage treten, ist bei Ibsen stark ausgebildet. Die arme Nora ist sehr unvorsichtig gewesen, als sie Datum und Namen des Vaters unter den Wechsel setzte. Werkes Geschäfte scheinen nicht reinlich gewesen zu sein; aber er ist freigesprochen worden, nur Leutnant Ettal verurteilt. Werte hat auch mit Gina in etwas zu liebevollen Be¬ ziehungen gestanden und sie dann mit Hjalmar verheiratet. Die kleine Hedwig ist, wie Werle selbst, augenleidend. Düstre Schatten sind in den „Gespenstern" auf die Ehe der Frau Helene mit Alving gefallen. Zu Borkmanns furcht¬ barem Zusammenbruch kommt noch die der Öffentlichkeit fremde Tatsache, daß er, von zwei Schwestern geliebt, die eine an den Advokaten Hinket verkaufen wollte, weil er diesen brauchte. Nebekkas Schuld enthüllt sich uns: um Rosmer zu gewinnen, suchte sie heimlich Beate in Wahnsinn und Tod zu treiben. Genug heimliche Schäden! Ihre Konsequenz oder die Rache wird aber nicht durch eine besondre Menschenklasse, etwa den sogenannten vierten Stand, ver¬ anschaulicht und herbeigeführt. Die „Arbeiter" kündigen sich nur eben an gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/512>, abgerufen am 23.07.2024.