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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

Korps zu führen, sobald sie wußten, was der Kaiser von ihnen erwartete,
aber sie versagten meist, sobald sie sich selbständig ihre Aufgaben suchen und
auf eigne Verantwortung im Interesse des Ganzen handeln mußten. Im
Jahre 1813 war Napoleon genötigt, gegen die verschiednen Heere der Ver¬
bündeten Teile seines Heeres selbständig abzuzweigen, und immer wurden diese
geschlagen, so Oudinot bei Großbeeren, Macdonald an der Katzbach, Ney bei
Dennewitz usw. An der Unfähigkeit seiner Marschälle, auch außerhalb des
Schlachtfeldes und ohne unmittelbare Weisungen zu handeln, ist der Kaiser
1813 bis 1815 wesentlich mit gescheitert. In diesem Sinne hat die preußische
Armee unter König Wilhelm das militärische Erbe des Soldaten Napoleon
angetreten, während in der französischen Armee das Verständnis für die
großen Traditionen des Kaisers erlosch. Generale wie die preußischen von 1870,
z. B. Konstantin von Alvensleben, der ohne Zaudern die ungeheure Verant¬
wortung für den Angriff bei Vionville auf seine Schultern nahm und der Armee
damit den größten Dienst erwies, der überhaupt in dieser Lage möglich war,
solche Führer -- und die Feldzüge von 1866 und 1870 haben noch viele ähnliche
gezeigt -- hat weder die Armee Napoleons des Ersten noch die Napoleons des
Dritten aufzuweisen. Diesen Geist der Selbständigkeit und der Verantwortungs¬
freudigkeit dem Offizierkorps zu erhalten, ist das eifrigste Streben des Königs
gewesen. Das Vertrauen auf das Offizierkorps rechtfertigte es auch, ihm im
Jahre 1888 ein Reglement in die Hand zu geben, das frei von Schematis¬
mus für das Gefecht nur leitende Grundsätze enthielt, deren Anwendung für
jeden Fall der Einsicht der Führer überlassen bleiben mußte.

Der ostasiatische Krieg hat nun gezeigt, daß die Bedeutung der untern
Führung im modernen Kampfe noch viel größer ist, als es das Reglement
von 1888 zum Ausdruck gebracht hat. Die Wirkung der modernen Schu߬
waffen macht eine sorgfältige, raffinierte Ausnutzung des Geländes notwendig.
Wie weit man diese treiben kann, haben die Japaner gezeigt. Für den einen
Schützenzug, der ein Getreidefeld vor sich hat, kann ein ganz andres Verhalten
nötig und nützlich sein als für den danebenliegenden, der ein Rübenfeld vor
sich hat, sogar innerhalb desselben Zuges, derselben Gruppe kann eine Furche,
ein Erd- oder Steinhaufen ein verschiedenartiges Verhalten der Schützen herbei¬
führen. So wird es verständlich, wenn das neue Reglement in seinem ersten
Satze betont, daß es "Vorschriften" für die Ausbildung und "Gesichtspunkte"
für das Gefecht der Infanterie gebe, und gleich darauf fortführt: "Der Krieg
fordert eiserne Mannszucht und Anspannung aller Kräfte. Im besondern
verlangt das Gefecht denkende, zur Selbständigkeit erzogne Führer und selbst¬
handelnde Schützen, die aus Hingebung an ihren Kriegsherrn und das Vater¬
land den festen Willen zu siegen auch dann noch betätigen, wenn ihre Führer
gefallen sind."

Eine Besprechung aller einzelnen Neuerungen des Reglements würde den
Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten. Es sei nnr nochmals betont, daß die


Das neue Exerzierreglement für die Infanterie

Korps zu führen, sobald sie wußten, was der Kaiser von ihnen erwartete,
aber sie versagten meist, sobald sie sich selbständig ihre Aufgaben suchen und
auf eigne Verantwortung im Interesse des Ganzen handeln mußten. Im
Jahre 1813 war Napoleon genötigt, gegen die verschiednen Heere der Ver¬
bündeten Teile seines Heeres selbständig abzuzweigen, und immer wurden diese
geschlagen, so Oudinot bei Großbeeren, Macdonald an der Katzbach, Ney bei
Dennewitz usw. An der Unfähigkeit seiner Marschälle, auch außerhalb des
Schlachtfeldes und ohne unmittelbare Weisungen zu handeln, ist der Kaiser
1813 bis 1815 wesentlich mit gescheitert. In diesem Sinne hat die preußische
Armee unter König Wilhelm das militärische Erbe des Soldaten Napoleon
angetreten, während in der französischen Armee das Verständnis für die
großen Traditionen des Kaisers erlosch. Generale wie die preußischen von 1870,
z. B. Konstantin von Alvensleben, der ohne Zaudern die ungeheure Verant¬
wortung für den Angriff bei Vionville auf seine Schultern nahm und der Armee
damit den größten Dienst erwies, der überhaupt in dieser Lage möglich war,
solche Führer — und die Feldzüge von 1866 und 1870 haben noch viele ähnliche
gezeigt — hat weder die Armee Napoleons des Ersten noch die Napoleons des
Dritten aufzuweisen. Diesen Geist der Selbständigkeit und der Verantwortungs¬
freudigkeit dem Offizierkorps zu erhalten, ist das eifrigste Streben des Königs
gewesen. Das Vertrauen auf das Offizierkorps rechtfertigte es auch, ihm im
Jahre 1888 ein Reglement in die Hand zu geben, das frei von Schematis¬
mus für das Gefecht nur leitende Grundsätze enthielt, deren Anwendung für
jeden Fall der Einsicht der Führer überlassen bleiben mußte.

Der ostasiatische Krieg hat nun gezeigt, daß die Bedeutung der untern
Führung im modernen Kampfe noch viel größer ist, als es das Reglement
von 1888 zum Ausdruck gebracht hat. Die Wirkung der modernen Schu߬
waffen macht eine sorgfältige, raffinierte Ausnutzung des Geländes notwendig.
Wie weit man diese treiben kann, haben die Japaner gezeigt. Für den einen
Schützenzug, der ein Getreidefeld vor sich hat, kann ein ganz andres Verhalten
nötig und nützlich sein als für den danebenliegenden, der ein Rübenfeld vor
sich hat, sogar innerhalb desselben Zuges, derselben Gruppe kann eine Furche,
ein Erd- oder Steinhaufen ein verschiedenartiges Verhalten der Schützen herbei¬
führen. So wird es verständlich, wenn das neue Reglement in seinem ersten
Satze betont, daß es „Vorschriften" für die Ausbildung und „Gesichtspunkte"
für das Gefecht der Infanterie gebe, und gleich darauf fortführt: „Der Krieg
fordert eiserne Mannszucht und Anspannung aller Kräfte. Im besondern
verlangt das Gefecht denkende, zur Selbständigkeit erzogne Führer und selbst¬
handelnde Schützen, die aus Hingebung an ihren Kriegsherrn und das Vater¬
land den festen Willen zu siegen auch dann noch betätigen, wenn ihre Führer
gefallen sind."

Eine Besprechung aller einzelnen Neuerungen des Reglements würde den
Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten. Es sei nnr nochmals betont, daß die


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[0502] Das neue Exerzierreglement für die Infanterie Korps zu führen, sobald sie wußten, was der Kaiser von ihnen erwartete, aber sie versagten meist, sobald sie sich selbständig ihre Aufgaben suchen und auf eigne Verantwortung im Interesse des Ganzen handeln mußten. Im Jahre 1813 war Napoleon genötigt, gegen die verschiednen Heere der Ver¬ bündeten Teile seines Heeres selbständig abzuzweigen, und immer wurden diese geschlagen, so Oudinot bei Großbeeren, Macdonald an der Katzbach, Ney bei Dennewitz usw. An der Unfähigkeit seiner Marschälle, auch außerhalb des Schlachtfeldes und ohne unmittelbare Weisungen zu handeln, ist der Kaiser 1813 bis 1815 wesentlich mit gescheitert. In diesem Sinne hat die preußische Armee unter König Wilhelm das militärische Erbe des Soldaten Napoleon angetreten, während in der französischen Armee das Verständnis für die großen Traditionen des Kaisers erlosch. Generale wie die preußischen von 1870, z. B. Konstantin von Alvensleben, der ohne Zaudern die ungeheure Verant¬ wortung für den Angriff bei Vionville auf seine Schultern nahm und der Armee damit den größten Dienst erwies, der überhaupt in dieser Lage möglich war, solche Führer — und die Feldzüge von 1866 und 1870 haben noch viele ähnliche gezeigt — hat weder die Armee Napoleons des Ersten noch die Napoleons des Dritten aufzuweisen. Diesen Geist der Selbständigkeit und der Verantwortungs¬ freudigkeit dem Offizierkorps zu erhalten, ist das eifrigste Streben des Königs gewesen. Das Vertrauen auf das Offizierkorps rechtfertigte es auch, ihm im Jahre 1888 ein Reglement in die Hand zu geben, das frei von Schematis¬ mus für das Gefecht nur leitende Grundsätze enthielt, deren Anwendung für jeden Fall der Einsicht der Führer überlassen bleiben mußte. Der ostasiatische Krieg hat nun gezeigt, daß die Bedeutung der untern Führung im modernen Kampfe noch viel größer ist, als es das Reglement von 1888 zum Ausdruck gebracht hat. Die Wirkung der modernen Schu߬ waffen macht eine sorgfältige, raffinierte Ausnutzung des Geländes notwendig. Wie weit man diese treiben kann, haben die Japaner gezeigt. Für den einen Schützenzug, der ein Getreidefeld vor sich hat, kann ein ganz andres Verhalten nötig und nützlich sein als für den danebenliegenden, der ein Rübenfeld vor sich hat, sogar innerhalb desselben Zuges, derselben Gruppe kann eine Furche, ein Erd- oder Steinhaufen ein verschiedenartiges Verhalten der Schützen herbei¬ führen. So wird es verständlich, wenn das neue Reglement in seinem ersten Satze betont, daß es „Vorschriften" für die Ausbildung und „Gesichtspunkte" für das Gefecht der Infanterie gebe, und gleich darauf fortführt: „Der Krieg fordert eiserne Mannszucht und Anspannung aller Kräfte. Im besondern verlangt das Gefecht denkende, zur Selbständigkeit erzogne Führer und selbst¬ handelnde Schützen, die aus Hingebung an ihren Kriegsherrn und das Vater¬ land den festen Willen zu siegen auch dann noch betätigen, wenn ihre Führer gefallen sind." Eine Besprechung aller einzelnen Neuerungen des Reglements würde den Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten. Es sei nnr nochmals betont, daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/502>, abgerufen am 23.07.2024.