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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Tromsö gereift war, und die als besonders schönes Exemplar in einem eignen
Glaszylinder an hervorragender Stelle ausgestellt war.

Noch eindringlicher in ihrer Naivität, ja geradezu ergreifend erzählten -- in
der kulturgeschichtlichen Abteilung vom kalten Norden und dem eisigen
Winter einige Altertümer, eine Reihe von Kruzifixen: der Bildschnitzer hat
auf ihnen den Gekreuzigte" nicht wie nach der Tradition im Lendentuch,
sondern in voller Kleidung, sogar mit einer hohen Mütze auf dem Kopf
dargestellt; es war ihm einfach undenkbar, daß man in der kalten Osterzeit
einen Menschen im Freien entblößen könne, und sei es anch zum Tod am Kreuz.

Und weiter ging es der allernördlichsten Stadt Europas, dem berühmten
Hammerfest entgegen; die Schiffsgesellschaft sprach jetzt nur noch von der
Mitternachtssonne. "Werden wir sie sehen?" Alles andre, was uoch auf
dein Programm stand, schien uns nur Zeitversäumnis, wie einem Kinde die
Tage vor dem Heiligen Abend. Und doch standen uns noch vorher Wunder
über Wunder bevor. Zwischen dem schon ziemlich kahlen Tromsö und dem
uoch kahlem Hammerfest liegt ein kleiner Fjord, zu dessen Schmuck die Nntnr
alles in verschwenderischer Fülle aufgewandt hat, was sie im Norden über¬
haupt vermag. Noch einmal, unter dem siebzigsten Grad nördlicher Breite, sollten
wir vergessen, daß wir den Polarkreis längst hinter uns gelassen hatten.

Bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir in den Lyngenfjord ein und
landeten bei Lhngseidet, dem Mittelpunkt der noch gut bewohnten Gegend. Da
war eine hübsche Kirche, das sehr stattliche Haus des Regierungsbeamten und ein
ebenso stattliches Haus, worin der Landhändler alles zum Verkauf ausstellte,
was der Bauer, der Lappländer und der Tourist irgendwie begehren mochte.
Die ganze Ansiedlung war klein genug, aber wie sie dalag, ganz gebadet in
Licht und Wärme und hineingebaut in den schönsten grünen Rasen, der all¬
mählich in einen frischgrünen Frühlingswald überging, war sie ein wahres
Idyll. Das Merkwürdigste aber war dieser Wald selbst, er bestand nur aus
Birken, Eschen und Vogelbeeren, aber trotzdem waren seine einzelnen frei¬
stehenden Gruppen so mannigfaltig aufgebaut, daß ich die große Zauberin Natur
nie so bewundert habe wie hier, wo sie mit den einfachsten Mitteln ein so
reizvolles Bild zu schaffen verstand. In diesen Nahmen hineingestellt denke
man sich nun eins der fremdartigsten Bilder von urtümlichem Volksleben, ein
Lager von Lappen mit ihren großen Nenntierherden, einen Rest Nomadentum,
mitten im "behausten" Europa.

Für mich, der ich kurz zuvor die Überreste der prähistorischen Renntier¬
menschen auf schwäbischen Boden am Schweizerbild und am Keßlerloch bei
Schaffhausen gesehen hatte, war diese Begegnung doppelt interessant, weil ich
so recht sehen konnte, wie die Unmassen von Geweih- und Knochenabfällen zu¬
stande kommen, die die Schweizer Forscher in metertiefen Schichten in und
unter den alten Wohnstütten ausgehoben und wagenweise zur genauen Durch-
suchung weggeführt haben. Da waren die flachbicnenkorbförmigen fellbedeckten


Tromsö gereift war, und die als besonders schönes Exemplar in einem eignen
Glaszylinder an hervorragender Stelle ausgestellt war.

Noch eindringlicher in ihrer Naivität, ja geradezu ergreifend erzählten — in
der kulturgeschichtlichen Abteilung vom kalten Norden und dem eisigen
Winter einige Altertümer, eine Reihe von Kruzifixen: der Bildschnitzer hat
auf ihnen den Gekreuzigte» nicht wie nach der Tradition im Lendentuch,
sondern in voller Kleidung, sogar mit einer hohen Mütze auf dem Kopf
dargestellt; es war ihm einfach undenkbar, daß man in der kalten Osterzeit
einen Menschen im Freien entblößen könne, und sei es anch zum Tod am Kreuz.

Und weiter ging es der allernördlichsten Stadt Europas, dem berühmten
Hammerfest entgegen; die Schiffsgesellschaft sprach jetzt nur noch von der
Mitternachtssonne. „Werden wir sie sehen?" Alles andre, was uoch auf
dein Programm stand, schien uns nur Zeitversäumnis, wie einem Kinde die
Tage vor dem Heiligen Abend. Und doch standen uns noch vorher Wunder
über Wunder bevor. Zwischen dem schon ziemlich kahlen Tromsö und dem
uoch kahlem Hammerfest liegt ein kleiner Fjord, zu dessen Schmuck die Nntnr
alles in verschwenderischer Fülle aufgewandt hat, was sie im Norden über¬
haupt vermag. Noch einmal, unter dem siebzigsten Grad nördlicher Breite, sollten
wir vergessen, daß wir den Polarkreis längst hinter uns gelassen hatten.

Bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir in den Lyngenfjord ein und
landeten bei Lhngseidet, dem Mittelpunkt der noch gut bewohnten Gegend. Da
war eine hübsche Kirche, das sehr stattliche Haus des Regierungsbeamten und ein
ebenso stattliches Haus, worin der Landhändler alles zum Verkauf ausstellte,
was der Bauer, der Lappländer und der Tourist irgendwie begehren mochte.
Die ganze Ansiedlung war klein genug, aber wie sie dalag, ganz gebadet in
Licht und Wärme und hineingebaut in den schönsten grünen Rasen, der all¬
mählich in einen frischgrünen Frühlingswald überging, war sie ein wahres
Idyll. Das Merkwürdigste aber war dieser Wald selbst, er bestand nur aus
Birken, Eschen und Vogelbeeren, aber trotzdem waren seine einzelnen frei¬
stehenden Gruppen so mannigfaltig aufgebaut, daß ich die große Zauberin Natur
nie so bewundert habe wie hier, wo sie mit den einfachsten Mitteln ein so
reizvolles Bild zu schaffen verstand. In diesen Nahmen hineingestellt denke
man sich nun eins der fremdartigsten Bilder von urtümlichem Volksleben, ein
Lager von Lappen mit ihren großen Nenntierherden, einen Rest Nomadentum,
mitten im „behausten" Europa.

Für mich, der ich kurz zuvor die Überreste der prähistorischen Renntier¬
menschen auf schwäbischen Boden am Schweizerbild und am Keßlerloch bei
Schaffhausen gesehen hatte, war diese Begegnung doppelt interessant, weil ich
so recht sehen konnte, wie die Unmassen von Geweih- und Knochenabfällen zu¬
stande kommen, die die Schweizer Forscher in metertiefen Schichten in und
unter den alten Wohnstütten ausgehoben und wagenweise zur genauen Durch-
suchung weggeführt haben. Da waren die flachbicnenkorbförmigen fellbedeckten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/478>, abgerufen am 29.12.2024.