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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Luftreisen

für die Bedürfnisse des Luftschiffers vorbereitet hat. 1 Uhr 45 Minuten fliegen
wir über einen fahrenden Zug, das wäre gute Gelegenheit, den Ort festzustellen,
aber der Zug keucht schwer und zeigt nur dürftige Lichter, es ist ein Güterzug auf
der Strecke Holzminden-Kreiensen, denn bald darauf kreuzen wir die Weser.

Noch dreiviertel Stunden, und wir befinden uns über einer dicht bevölkerten
Landschaft, zahlreiche Städte und größere Ortschaften machen ans uns den
Eindruck eines riesigen, auf dunkler Decke unregelmäßig verstreuten Brillant¬
schmuckes. Sogar den Versuch, uns in diesem Gewirr zurechtzufinden, müssen
wir aufgeben. Nachträglich halte ich es für die Gegend zwischen Lemgo und
Rinteln. Unser Ballon lohnt die ihm zugewandte Aufmerksamkeit durch muster¬
hafte Haltung, etwa anderthalbe Stande sind wir ziemlich gleichmäßig in
500 Meter Höhe geblieben. Jetzt sinken wir rasch und mindern die Abwärts¬
bewegung nur so weit, daß wir uicht "durchfallen" -- bis auf die Erde. Daß
wir dieser nahe kommen, ist sehr günstig. Dort auf einer Niederung in einem
Wäldchen sehen wir eine Laterne sich bewegen. Gewiß ein Waldarbeiter, der
uns Auskunft geben kann, wo wir sind. Wir rufen ihn an, einer nach dem
andern, so laut wir können. Keine Antwort, obwohl wir so nahe sind, daß
er uns hören muß. Das Licht bewegt sich lebhaft nach wie vor, ja so lebhaft,
daß es nach unsrer Schützung Sprünge von 5 bis 10 Metern macht. Ein
Mensch kann das schwerlich sein. Wir sehen uns weiter um und nehmen
noch an zehn oder zwölf andern Stellen dieselbe Erscheinung wahr, überall
unter denselben örtlichen Bedingungen: auf einer Niederung in kleinem Walde
oder Busch.

Unwillkürlich kommt uns die Erinnerung an ein Naturphänomen, das
der junge Goethe bei seiner Übersiedlung von Frankfurt nach Weimar, wie
er in Dichtung und Wahrheit berichtet, zwischen Hanau und Gelnhausen beob¬
achtete. In einer Tiefe sah er eine Art von wundersam erleuchteten Amphi¬
theater. Es blinkten in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen
stufenweise übereinander und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davou
geblendet wurde. Dabei saßen sie nicht etwa still, sondern hüpften hin und
wieder, sowohl von oben nach unten als umgekehrt und nach allen Seiten,
andre blieben ruhig und flimmerten fort. Goethe neigte dazu, es für "ein
Pandämonium von Irrlichtern" zu halten. Was wir sehen, sind allerdings
nicht unzählige Lichtchen, auch wird das Auge nicht davon geblendet, aber sie
leuchten doch hell und wechseln fortwährend ihren Ort, jedes innerhalb eines
gewissen Kreises. Eine Täuschung ist vollständig ausgeschlossen, denn wir sehen
die Lichter der eine so deutlich wie der andre, und unsre Phantasie ist nichts
weniger als überreizt. Wir haben es in der Tat mit den Tückbolden, Lüchte-
münnekeus und gleunigen Keerls des Volksaberglaubens zu tun, den Seelen
ungetaufter Kinder, die die Menschen irreführen und in den Sumpf locken.
Schon diese plattdeutschen Bezeichnungen weisen darauf hin, daß man sie in
Norddeutschland besonders viel beobachtet hat. So sah der Astronom Bessel


Luftreisen

für die Bedürfnisse des Luftschiffers vorbereitet hat. 1 Uhr 45 Minuten fliegen
wir über einen fahrenden Zug, das wäre gute Gelegenheit, den Ort festzustellen,
aber der Zug keucht schwer und zeigt nur dürftige Lichter, es ist ein Güterzug auf
der Strecke Holzminden-Kreiensen, denn bald darauf kreuzen wir die Weser.

Noch dreiviertel Stunden, und wir befinden uns über einer dicht bevölkerten
Landschaft, zahlreiche Städte und größere Ortschaften machen ans uns den
Eindruck eines riesigen, auf dunkler Decke unregelmäßig verstreuten Brillant¬
schmuckes. Sogar den Versuch, uns in diesem Gewirr zurechtzufinden, müssen
wir aufgeben. Nachträglich halte ich es für die Gegend zwischen Lemgo und
Rinteln. Unser Ballon lohnt die ihm zugewandte Aufmerksamkeit durch muster¬
hafte Haltung, etwa anderthalbe Stande sind wir ziemlich gleichmäßig in
500 Meter Höhe geblieben. Jetzt sinken wir rasch und mindern die Abwärts¬
bewegung nur so weit, daß wir uicht „durchfallen" — bis auf die Erde. Daß
wir dieser nahe kommen, ist sehr günstig. Dort auf einer Niederung in einem
Wäldchen sehen wir eine Laterne sich bewegen. Gewiß ein Waldarbeiter, der
uns Auskunft geben kann, wo wir sind. Wir rufen ihn an, einer nach dem
andern, so laut wir können. Keine Antwort, obwohl wir so nahe sind, daß
er uns hören muß. Das Licht bewegt sich lebhaft nach wie vor, ja so lebhaft,
daß es nach unsrer Schützung Sprünge von 5 bis 10 Metern macht. Ein
Mensch kann das schwerlich sein. Wir sehen uns weiter um und nehmen
noch an zehn oder zwölf andern Stellen dieselbe Erscheinung wahr, überall
unter denselben örtlichen Bedingungen: auf einer Niederung in kleinem Walde
oder Busch.

Unwillkürlich kommt uns die Erinnerung an ein Naturphänomen, das
der junge Goethe bei seiner Übersiedlung von Frankfurt nach Weimar, wie
er in Dichtung und Wahrheit berichtet, zwischen Hanau und Gelnhausen beob¬
achtete. In einer Tiefe sah er eine Art von wundersam erleuchteten Amphi¬
theater. Es blinkten in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen
stufenweise übereinander und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davou
geblendet wurde. Dabei saßen sie nicht etwa still, sondern hüpften hin und
wieder, sowohl von oben nach unten als umgekehrt und nach allen Seiten,
andre blieben ruhig und flimmerten fort. Goethe neigte dazu, es für „ein
Pandämonium von Irrlichtern" zu halten. Was wir sehen, sind allerdings
nicht unzählige Lichtchen, auch wird das Auge nicht davon geblendet, aber sie
leuchten doch hell und wechseln fortwährend ihren Ort, jedes innerhalb eines
gewissen Kreises. Eine Täuschung ist vollständig ausgeschlossen, denn wir sehen
die Lichter der eine so deutlich wie der andre, und unsre Phantasie ist nichts
weniger als überreizt. Wir haben es in der Tat mit den Tückbolden, Lüchte-
münnekeus und gleunigen Keerls des Volksaberglaubens zu tun, den Seelen
ungetaufter Kinder, die die Menschen irreführen und in den Sumpf locken.
Schon diese plattdeutschen Bezeichnungen weisen darauf hin, daß man sie in
Norddeutschland besonders viel beobachtet hat. So sah der Astronom Bessel


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[0046] Luftreisen für die Bedürfnisse des Luftschiffers vorbereitet hat. 1 Uhr 45 Minuten fliegen wir über einen fahrenden Zug, das wäre gute Gelegenheit, den Ort festzustellen, aber der Zug keucht schwer und zeigt nur dürftige Lichter, es ist ein Güterzug auf der Strecke Holzminden-Kreiensen, denn bald darauf kreuzen wir die Weser. Noch dreiviertel Stunden, und wir befinden uns über einer dicht bevölkerten Landschaft, zahlreiche Städte und größere Ortschaften machen ans uns den Eindruck eines riesigen, auf dunkler Decke unregelmäßig verstreuten Brillant¬ schmuckes. Sogar den Versuch, uns in diesem Gewirr zurechtzufinden, müssen wir aufgeben. Nachträglich halte ich es für die Gegend zwischen Lemgo und Rinteln. Unser Ballon lohnt die ihm zugewandte Aufmerksamkeit durch muster¬ hafte Haltung, etwa anderthalbe Stande sind wir ziemlich gleichmäßig in 500 Meter Höhe geblieben. Jetzt sinken wir rasch und mindern die Abwärts¬ bewegung nur so weit, daß wir uicht „durchfallen" — bis auf die Erde. Daß wir dieser nahe kommen, ist sehr günstig. Dort auf einer Niederung in einem Wäldchen sehen wir eine Laterne sich bewegen. Gewiß ein Waldarbeiter, der uns Auskunft geben kann, wo wir sind. Wir rufen ihn an, einer nach dem andern, so laut wir können. Keine Antwort, obwohl wir so nahe sind, daß er uns hören muß. Das Licht bewegt sich lebhaft nach wie vor, ja so lebhaft, daß es nach unsrer Schützung Sprünge von 5 bis 10 Metern macht. Ein Mensch kann das schwerlich sein. Wir sehen uns weiter um und nehmen noch an zehn oder zwölf andern Stellen dieselbe Erscheinung wahr, überall unter denselben örtlichen Bedingungen: auf einer Niederung in kleinem Walde oder Busch. Unwillkürlich kommt uns die Erinnerung an ein Naturphänomen, das der junge Goethe bei seiner Übersiedlung von Frankfurt nach Weimar, wie er in Dichtung und Wahrheit berichtet, zwischen Hanau und Gelnhausen beob¬ achtete. In einer Tiefe sah er eine Art von wundersam erleuchteten Amphi¬ theater. Es blinkten in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen stufenweise übereinander und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davou geblendet wurde. Dabei saßen sie nicht etwa still, sondern hüpften hin und wieder, sowohl von oben nach unten als umgekehrt und nach allen Seiten, andre blieben ruhig und flimmerten fort. Goethe neigte dazu, es für „ein Pandämonium von Irrlichtern" zu halten. Was wir sehen, sind allerdings nicht unzählige Lichtchen, auch wird das Auge nicht davon geblendet, aber sie leuchten doch hell und wechseln fortwährend ihren Ort, jedes innerhalb eines gewissen Kreises. Eine Täuschung ist vollständig ausgeschlossen, denn wir sehen die Lichter der eine so deutlich wie der andre, und unsre Phantasie ist nichts weniger als überreizt. Wir haben es in der Tat mit den Tückbolden, Lüchte- münnekeus und gleunigen Keerls des Volksaberglaubens zu tun, den Seelen ungetaufter Kinder, die die Menschen irreführen und in den Sumpf locken. Schon diese plattdeutschen Bezeichnungen weisen darauf hin, daß man sie in Norddeutschland besonders viel beobachtet hat. So sah der Astronom Bessel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/46>, abgerufen am 23.07.2024.