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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

bliebnen englischen Volksstaat wiederhergestellt; seine ursprüngliche Natur ist
wieder zum Durchbruch gekommen und hat die Verderbnis überwunden. Der
Staat ist nicht mehr ein Schmarotzergewüchs am Volkskörper, sondern der
organisierte Volkskörper. Das Unterhaus ist wieder das Organ, mittelst dessen
das Volk sich selbst Gesetze gibt, sich selbst regiert. Oder vielmehr, nicht das
Unterhaus selbst ist es, weil ja, wie Redlich bemerkt, eine Körperschaft von
670 Köpfen nicht regieren kann, sondern die technisch sogenannte Regierung
ist es, das Kabinett, das die Mehrheit des Unterhauses aus sich heraus
gebiert, sodaß man als die Hauptaufgabe des Unterhauses ansehen kann, als
Wahlkollegium die Regierung einzusetzen. Um dieser Aufgabe und seinen übrigen
Aufgaben genügen zu können, muß das Unterhaus zunächst sich selbst regieren,
denn es hat keinen Herrn über sich, der ihm sein Verhalten vorschriebe. Es
hat sich auch nicht selbst in der Weise gebunden, daß es in einer geschriebnen
Geschäftsordnung sein Verhalten für alle ewigen Zeiten bestimmt hätte. Wie
das englische Volk keine geschriebn? Verfassung hat, so hat auch sein Parlament
keine in einem bestimmten Moment abgefaßte Geschäftsordnung. Sondern wie
jenes sich selbst durch das Parlament in jedem Augenblick die Gesetze gibt, die
es gerade braucht, so gibt sich das Unterhaus jederzeit die neuen Orders (welches
Wort hier Befehle, nicht Ordnungen bedeutet), deren es zur glatten Erledigung
seiner Geschäfte bedarf. Und so ist denn der englische Staat der Idealstaat,
weil in ihm weder ein persönlicher noch ein papierner Tyrann dem Volke sein
Verhalten vorschreibt. Sondern das Volk tut dies selbst durch seine Vertreter
in der Weise, daß sich die Gesetzgebung dem wechselnden Bedürfnis, der
wachsenden Volkszahl, der sich wandelnden Struktur des sozialen Körpers, den
sich verändernden äußern Umständen jederzeit anpaßt. Und dieselbe Anpassungs¬
fähigkeit wie der Volkskörper im ganzen bewährt auch das Parlament in
Beziehung auf seine eignen Bedürfnisse und innern Angelegenheiten. Wie
dieser Anpassungsprozeß bis jetzt verlaufen ist, zeigt Nedlichs Buch. Um nun
die gegenwärtige Geschäftsführung in einem dürftigen Auszuge aus dem Werke
einigermaßen verstündlich machen zu können, müssen wir vorher nach seiner
Anleitung die Geschichte des Parlaments flüchtig überblicken.

Die Versammlung der geistlichen und weltlichen Lords im dreizehnten
Jahrhundert war noch nicht das heutige Parlament. Sie war der große Rat
des Königs und der höchste Gerichtshof. Sie wird der Keim des Parlaments
durch die Heranziehung der Lommovs, der Gemeinden. Deren Mitwirkung bei
der Beschlußfassung über die Steuern wird von Eduard dem Ersten als zu
Recht bestehend anerkannt, indem er "in der Einberufung zu seinem großen
Parlament 1295 den aus dem Oorxus Mris oivilis durch das kanonische Recht
vermittelten Satz feierlich als politische Maxime verkündigt: ut auoä orrmss
tiMAit, ad owruvus oomxrodswr". Die gewöhnlichen laufenden Bedürfnisse
seines Haushalts und des Staats hatte der König aus seinem Grundbesitz,
aus den Gerichtsgebühren und den lehnsrechtlichen Leistungen zu bestreiten. In


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

bliebnen englischen Volksstaat wiederhergestellt; seine ursprüngliche Natur ist
wieder zum Durchbruch gekommen und hat die Verderbnis überwunden. Der
Staat ist nicht mehr ein Schmarotzergewüchs am Volkskörper, sondern der
organisierte Volkskörper. Das Unterhaus ist wieder das Organ, mittelst dessen
das Volk sich selbst Gesetze gibt, sich selbst regiert. Oder vielmehr, nicht das
Unterhaus selbst ist es, weil ja, wie Redlich bemerkt, eine Körperschaft von
670 Köpfen nicht regieren kann, sondern die technisch sogenannte Regierung
ist es, das Kabinett, das die Mehrheit des Unterhauses aus sich heraus
gebiert, sodaß man als die Hauptaufgabe des Unterhauses ansehen kann, als
Wahlkollegium die Regierung einzusetzen. Um dieser Aufgabe und seinen übrigen
Aufgaben genügen zu können, muß das Unterhaus zunächst sich selbst regieren,
denn es hat keinen Herrn über sich, der ihm sein Verhalten vorschriebe. Es
hat sich auch nicht selbst in der Weise gebunden, daß es in einer geschriebnen
Geschäftsordnung sein Verhalten für alle ewigen Zeiten bestimmt hätte. Wie
das englische Volk keine geschriebn? Verfassung hat, so hat auch sein Parlament
keine in einem bestimmten Moment abgefaßte Geschäftsordnung. Sondern wie
jenes sich selbst durch das Parlament in jedem Augenblick die Gesetze gibt, die
es gerade braucht, so gibt sich das Unterhaus jederzeit die neuen Orders (welches
Wort hier Befehle, nicht Ordnungen bedeutet), deren es zur glatten Erledigung
seiner Geschäfte bedarf. Und so ist denn der englische Staat der Idealstaat,
weil in ihm weder ein persönlicher noch ein papierner Tyrann dem Volke sein
Verhalten vorschreibt. Sondern das Volk tut dies selbst durch seine Vertreter
in der Weise, daß sich die Gesetzgebung dem wechselnden Bedürfnis, der
wachsenden Volkszahl, der sich wandelnden Struktur des sozialen Körpers, den
sich verändernden äußern Umständen jederzeit anpaßt. Und dieselbe Anpassungs¬
fähigkeit wie der Volkskörper im ganzen bewährt auch das Parlament in
Beziehung auf seine eignen Bedürfnisse und innern Angelegenheiten. Wie
dieser Anpassungsprozeß bis jetzt verlaufen ist, zeigt Nedlichs Buch. Um nun
die gegenwärtige Geschäftsführung in einem dürftigen Auszuge aus dem Werke
einigermaßen verstündlich machen zu können, müssen wir vorher nach seiner
Anleitung die Geschichte des Parlaments flüchtig überblicken.

Die Versammlung der geistlichen und weltlichen Lords im dreizehnten
Jahrhundert war noch nicht das heutige Parlament. Sie war der große Rat
des Königs und der höchste Gerichtshof. Sie wird der Keim des Parlaments
durch die Heranziehung der Lommovs, der Gemeinden. Deren Mitwirkung bei
der Beschlußfassung über die Steuern wird von Eduard dem Ersten als zu
Recht bestehend anerkannt, indem er „in der Einberufung zu seinem großen
Parlament 1295 den aus dem Oorxus Mris oivilis durch das kanonische Recht
vermittelten Satz feierlich als politische Maxime verkündigt: ut auoä orrmss
tiMAit, ad owruvus oomxrodswr". Die gewöhnlichen laufenden Bedürfnisse
seines Haushalts und des Staats hatte der König aus seinem Grundbesitz,
aus den Gerichtsgebühren und den lehnsrechtlichen Leistungen zu bestreiten. In


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[0458] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments bliebnen englischen Volksstaat wiederhergestellt; seine ursprüngliche Natur ist wieder zum Durchbruch gekommen und hat die Verderbnis überwunden. Der Staat ist nicht mehr ein Schmarotzergewüchs am Volkskörper, sondern der organisierte Volkskörper. Das Unterhaus ist wieder das Organ, mittelst dessen das Volk sich selbst Gesetze gibt, sich selbst regiert. Oder vielmehr, nicht das Unterhaus selbst ist es, weil ja, wie Redlich bemerkt, eine Körperschaft von 670 Köpfen nicht regieren kann, sondern die technisch sogenannte Regierung ist es, das Kabinett, das die Mehrheit des Unterhauses aus sich heraus gebiert, sodaß man als die Hauptaufgabe des Unterhauses ansehen kann, als Wahlkollegium die Regierung einzusetzen. Um dieser Aufgabe und seinen übrigen Aufgaben genügen zu können, muß das Unterhaus zunächst sich selbst regieren, denn es hat keinen Herrn über sich, der ihm sein Verhalten vorschriebe. Es hat sich auch nicht selbst in der Weise gebunden, daß es in einer geschriebnen Geschäftsordnung sein Verhalten für alle ewigen Zeiten bestimmt hätte. Wie das englische Volk keine geschriebn? Verfassung hat, so hat auch sein Parlament keine in einem bestimmten Moment abgefaßte Geschäftsordnung. Sondern wie jenes sich selbst durch das Parlament in jedem Augenblick die Gesetze gibt, die es gerade braucht, so gibt sich das Unterhaus jederzeit die neuen Orders (welches Wort hier Befehle, nicht Ordnungen bedeutet), deren es zur glatten Erledigung seiner Geschäfte bedarf. Und so ist denn der englische Staat der Idealstaat, weil in ihm weder ein persönlicher noch ein papierner Tyrann dem Volke sein Verhalten vorschreibt. Sondern das Volk tut dies selbst durch seine Vertreter in der Weise, daß sich die Gesetzgebung dem wechselnden Bedürfnis, der wachsenden Volkszahl, der sich wandelnden Struktur des sozialen Körpers, den sich verändernden äußern Umständen jederzeit anpaßt. Und dieselbe Anpassungs¬ fähigkeit wie der Volkskörper im ganzen bewährt auch das Parlament in Beziehung auf seine eignen Bedürfnisse und innern Angelegenheiten. Wie dieser Anpassungsprozeß bis jetzt verlaufen ist, zeigt Nedlichs Buch. Um nun die gegenwärtige Geschäftsführung in einem dürftigen Auszuge aus dem Werke einigermaßen verstündlich machen zu können, müssen wir vorher nach seiner Anleitung die Geschichte des Parlaments flüchtig überblicken. Die Versammlung der geistlichen und weltlichen Lords im dreizehnten Jahrhundert war noch nicht das heutige Parlament. Sie war der große Rat des Königs und der höchste Gerichtshof. Sie wird der Keim des Parlaments durch die Heranziehung der Lommovs, der Gemeinden. Deren Mitwirkung bei der Beschlußfassung über die Steuern wird von Eduard dem Ersten als zu Recht bestehend anerkannt, indem er „in der Einberufung zu seinem großen Parlament 1295 den aus dem Oorxus Mris oivilis durch das kanonische Recht vermittelten Satz feierlich als politische Maxime verkündigt: ut auoä orrmss tiMAit, ad owruvus oomxrodswr". Die gewöhnlichen laufenden Bedürfnisse seines Haushalts und des Staats hatte der König aus seinem Grundbesitz, aus den Gerichtsgebühren und den lehnsrechtlichen Leistungen zu bestreiten. In

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/458>, abgerufen am 29.12.2024.