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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das türkische Schattentheater

In diesem Augenblick wird die Dame sichtbar. Sie ist von ihm entzückt,
und es kostet Karagöz Mühe, ihre wachsende Leidenschaft im Zaume zu halten.
Schließlich geht er in seiner Selbsterniedrigung so weit, sich als einen öffent¬
lichen Sicherheitswächter zu bezeichnen. Aber auch diese freiwillige Erniedrigung
seiner Person vermag auf ihr entflammtes Herz nicht abkühlend zu wirken;
sie will durchaus, daß er sich in ihrem Hause ausruhe. Da, als sie den
Widerstrebenden anfassen will, kommt diesem ein letzter verzweifelter Gedanke;
er bezeichnet sich als unrein. Ich kann ein ehrbares muselmännisches Haus
nicht durch meine Gegenwart beflecken, ich bin besudelt durch die Berührung
eines Hundes.

O, das ist nicht schlimm, gibt die treulose Frau zur Antwort. Dort steht
ein Brunnen, wasche dich und warte, bis ich aus dem Bade zurückkomme.

Karagöz, der den festen Entschluß gefaßt hat, unter allen Umständen
tugendhaft zu bleiben, ergibt sich in sein Schicksal. Nach einer Weile, während
sich die Szene wieder ziemlich bewegt gestaltet, kehrt die Dame zurück, aber
sie ist nicht allein: zahlreiche Hanoums, denen sie im Bade von der Schön¬
heit und dem Auslande des Mannes, den sie auf dem Platze getroffen, er¬
zählt hat, sind in ihrer Begleitung, und sie will diese nun zu Zeuginnen ihres
Sieges über den Gegenstand ihrer Leidenschaft machen. Sie lockert ihre Ge¬
wänder, löst das Haar und spart überhaupt kein Mittel, um endlich zu ihrem
Ziele zu gelangen. Er scheint zu unterliegen. Da, in diesem kritischen Augen¬
blick kommt eine vornehme Karosse angefahren; ein Herr, elegant in Seide
und Sammet gekleidet, den Degen an der Seite, den Dreispitz auf dem ge¬
puderten Kopf entsteigt dem Wagen, um sich nach der Ursache der ungewöhn¬
lichen Szene zu erkundigen; es ist der französische Gesandte. Karagöz bittet
ihn um seinen Schutz gegenüber den Versuchungen, die ihn bedrohen. Der
hohe Herr ladet ihn ein, in seinem Wagen Platz zu nehmen; die Tür wird
zugemacht, die Pferde ziehn an, die Karosse rollt von dannen, und mit ihr
entschwindet der schöne Traum der liebeglühenden Frauen von Stambul.
Hagievad kehrt zurück, höchst erfreut darüber, die Tugend seiner Frau unan¬
getastet zu sehen.

Die starke Wirkung, die diese und ähnliche kleine Komödien auf den Zu¬
schauer ausüben, erklärt sich aus der großen Geschicklichkeit, womit der hinter
der Leinwand auf einem Tische hockende Schattenspieler, der "Karagödschi" zu
Werke geht. Er muß nicht nur über bedeutende rezitatorische Fähigkeiten ver¬
fügen, sondern sein Metier stellt auch an ihn als Artisten hohe Anforderungen,
da sein Bühneninventar neben zahlreichen Versatzstücken aus vierzig bis fünfzig
meist beweglichen Figuren besteht, von denen oft ganze Gruppen zugleich auf
der Szene erscheinen, was nur durch eine eminente Handfertigkeit zu ermög¬
lichen ist. In der Tat gibt es unter den türkischen Karagödschis Künstler,
die durch ihre virtuosen Leistungen bei den Zuschauern die Illusion derart zu
steigern wissen, daß diese vermeinen, keine Silhouetten, sondern lebende Menschen


Das türkische Schattentheater

In diesem Augenblick wird die Dame sichtbar. Sie ist von ihm entzückt,
und es kostet Karagöz Mühe, ihre wachsende Leidenschaft im Zaume zu halten.
Schließlich geht er in seiner Selbsterniedrigung so weit, sich als einen öffent¬
lichen Sicherheitswächter zu bezeichnen. Aber auch diese freiwillige Erniedrigung
seiner Person vermag auf ihr entflammtes Herz nicht abkühlend zu wirken;
sie will durchaus, daß er sich in ihrem Hause ausruhe. Da, als sie den
Widerstrebenden anfassen will, kommt diesem ein letzter verzweifelter Gedanke;
er bezeichnet sich als unrein. Ich kann ein ehrbares muselmännisches Haus
nicht durch meine Gegenwart beflecken, ich bin besudelt durch die Berührung
eines Hundes.

O, das ist nicht schlimm, gibt die treulose Frau zur Antwort. Dort steht
ein Brunnen, wasche dich und warte, bis ich aus dem Bade zurückkomme.

Karagöz, der den festen Entschluß gefaßt hat, unter allen Umständen
tugendhaft zu bleiben, ergibt sich in sein Schicksal. Nach einer Weile, während
sich die Szene wieder ziemlich bewegt gestaltet, kehrt die Dame zurück, aber
sie ist nicht allein: zahlreiche Hanoums, denen sie im Bade von der Schön¬
heit und dem Auslande des Mannes, den sie auf dem Platze getroffen, er¬
zählt hat, sind in ihrer Begleitung, und sie will diese nun zu Zeuginnen ihres
Sieges über den Gegenstand ihrer Leidenschaft machen. Sie lockert ihre Ge¬
wänder, löst das Haar und spart überhaupt kein Mittel, um endlich zu ihrem
Ziele zu gelangen. Er scheint zu unterliegen. Da, in diesem kritischen Augen¬
blick kommt eine vornehme Karosse angefahren; ein Herr, elegant in Seide
und Sammet gekleidet, den Degen an der Seite, den Dreispitz auf dem ge¬
puderten Kopf entsteigt dem Wagen, um sich nach der Ursache der ungewöhn¬
lichen Szene zu erkundigen; es ist der französische Gesandte. Karagöz bittet
ihn um seinen Schutz gegenüber den Versuchungen, die ihn bedrohen. Der
hohe Herr ladet ihn ein, in seinem Wagen Platz zu nehmen; die Tür wird
zugemacht, die Pferde ziehn an, die Karosse rollt von dannen, und mit ihr
entschwindet der schöne Traum der liebeglühenden Frauen von Stambul.
Hagievad kehrt zurück, höchst erfreut darüber, die Tugend seiner Frau unan¬
getastet zu sehen.

Die starke Wirkung, die diese und ähnliche kleine Komödien auf den Zu¬
schauer ausüben, erklärt sich aus der großen Geschicklichkeit, womit der hinter
der Leinwand auf einem Tische hockende Schattenspieler, der „Karagödschi" zu
Werke geht. Er muß nicht nur über bedeutende rezitatorische Fähigkeiten ver¬
fügen, sondern sein Metier stellt auch an ihn als Artisten hohe Anforderungen,
da sein Bühneninventar neben zahlreichen Versatzstücken aus vierzig bis fünfzig
meist beweglichen Figuren besteht, von denen oft ganze Gruppen zugleich auf
der Szene erscheinen, was nur durch eine eminente Handfertigkeit zu ermög¬
lichen ist. In der Tat gibt es unter den türkischen Karagödschis Künstler,
die durch ihre virtuosen Leistungen bei den Zuschauern die Illusion derart zu
steigern wissen, daß diese vermeinen, keine Silhouetten, sondern lebende Menschen


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[0364] Das türkische Schattentheater In diesem Augenblick wird die Dame sichtbar. Sie ist von ihm entzückt, und es kostet Karagöz Mühe, ihre wachsende Leidenschaft im Zaume zu halten. Schließlich geht er in seiner Selbsterniedrigung so weit, sich als einen öffent¬ lichen Sicherheitswächter zu bezeichnen. Aber auch diese freiwillige Erniedrigung seiner Person vermag auf ihr entflammtes Herz nicht abkühlend zu wirken; sie will durchaus, daß er sich in ihrem Hause ausruhe. Da, als sie den Widerstrebenden anfassen will, kommt diesem ein letzter verzweifelter Gedanke; er bezeichnet sich als unrein. Ich kann ein ehrbares muselmännisches Haus nicht durch meine Gegenwart beflecken, ich bin besudelt durch die Berührung eines Hundes. O, das ist nicht schlimm, gibt die treulose Frau zur Antwort. Dort steht ein Brunnen, wasche dich und warte, bis ich aus dem Bade zurückkomme. Karagöz, der den festen Entschluß gefaßt hat, unter allen Umständen tugendhaft zu bleiben, ergibt sich in sein Schicksal. Nach einer Weile, während sich die Szene wieder ziemlich bewegt gestaltet, kehrt die Dame zurück, aber sie ist nicht allein: zahlreiche Hanoums, denen sie im Bade von der Schön¬ heit und dem Auslande des Mannes, den sie auf dem Platze getroffen, er¬ zählt hat, sind in ihrer Begleitung, und sie will diese nun zu Zeuginnen ihres Sieges über den Gegenstand ihrer Leidenschaft machen. Sie lockert ihre Ge¬ wänder, löst das Haar und spart überhaupt kein Mittel, um endlich zu ihrem Ziele zu gelangen. Er scheint zu unterliegen. Da, in diesem kritischen Augen¬ blick kommt eine vornehme Karosse angefahren; ein Herr, elegant in Seide und Sammet gekleidet, den Degen an der Seite, den Dreispitz auf dem ge¬ puderten Kopf entsteigt dem Wagen, um sich nach der Ursache der ungewöhn¬ lichen Szene zu erkundigen; es ist der französische Gesandte. Karagöz bittet ihn um seinen Schutz gegenüber den Versuchungen, die ihn bedrohen. Der hohe Herr ladet ihn ein, in seinem Wagen Platz zu nehmen; die Tür wird zugemacht, die Pferde ziehn an, die Karosse rollt von dannen, und mit ihr entschwindet der schöne Traum der liebeglühenden Frauen von Stambul. Hagievad kehrt zurück, höchst erfreut darüber, die Tugend seiner Frau unan¬ getastet zu sehen. Die starke Wirkung, die diese und ähnliche kleine Komödien auf den Zu¬ schauer ausüben, erklärt sich aus der großen Geschicklichkeit, womit der hinter der Leinwand auf einem Tische hockende Schattenspieler, der „Karagödschi" zu Werke geht. Er muß nicht nur über bedeutende rezitatorische Fähigkeiten ver¬ fügen, sondern sein Metier stellt auch an ihn als Artisten hohe Anforderungen, da sein Bühneninventar neben zahlreichen Versatzstücken aus vierzig bis fünfzig meist beweglichen Figuren besteht, von denen oft ganze Gruppen zugleich auf der Szene erscheinen, was nur durch eine eminente Handfertigkeit zu ermög¬ lichen ist. In der Tat gibt es unter den türkischen Karagödschis Künstler, die durch ihre virtuosen Leistungen bei den Zuschauern die Illusion derart zu steigern wissen, daß diese vermeinen, keine Silhouetten, sondern lebende Menschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/364>, abgerufen am 23.07.2024.