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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

mischt sein können, jedoch nicht müssen, sodaß entweder das Schöne oder die
Bewegung ganz ausfallen kann. Die Zusammengehörigkeit beider ist keines¬
wegs bloß äußerliche und zufällige Verknüpfung, sondern sie hängt mit dem
tiefsten Sehnen des Menschenherzens zusammen. Alle utopischen Träume und
alle höchsten Ideale wie der christliche Himmel, Dantes Paradiso enthalten
beides: eine Welt absolut schöner Gestalten, aus der alles Häßliche ausge¬
schlossen ist, und ein Leben in völlig freier Tätigkeit, die eben dadurch, daß
sie völlig frei wäre, zum Spiel werden würde. Im gesunden Kinde, das
schön, und dessen Tätigkeit Spiel ist, sieht der Mensch die Verwirklichung
seines Ideals gesinnbildet und verheißen. Aus dem Paradies der Kindheit
wird er ins Leben hineingestoßen, gezogen, gezerrt, das voll von Häßlichen
ist und ihn zu harter Arbeit zwingt, die einem freien und fröhlichen Spiel
meist sehr unähnlich sieht, und durch die Kunst, die ihm bald das Schöne vor
Augen stellt, bald ihn mit seinen Gliedern oder mit Gedanken, Leidenschaften,
Leiden, Kämpfen und Erfolgen nur eben spielen läßt, hält er die Hoffnung
auf den Jdealzustand in sich aufrecht. In den Anfängen der Kultur pflegt
die Religion diese Aufgabe der großen Menschentrostung zu übernehmen und
sich zu diesem Zwecke mit der Kunst zu verbünden; vielen Millionen leistet
sie diesen Dienst noch heute, und an der geistlichen Dichtkunst wie an der
Kirchenmusik sehen wir wieder, wie das Schöne keineswegs an sich ein
Spielzeug und dem Ernst des Lebens entgegengesetzt ist: im Gottesdienst be¬
treibt die Gemeinde, obwohl er ihr eine Feier bereitet, das allerernsthafteste
Geschäft.

Mit dieser ganzen Betrachtung ist nun auch schon die alte Frage be¬
antwortet, wie das Anhören, Schauen und Lesen der traurigen und schrecklichen
Dinge, die in der Tragödie vorkommen, Genuß bereiten könne, und da kommen
wir wieder mit Volkelt zusammen. "Das Tragische, schreibt er, stellt sich stets
an menschlich bedeutungsvollen Inhalt dar; und zwar ist gerade das Tragische
ein Boden, auf dem sich das Menschliche nach seinen tiefsten und mächtigsten
Kräften, nach seinen schwersten und entscheidungsvollsten Kämpfen, nach seinen ge¬
fährlichsten und zugleich segensreichsten Entwicklungen mehr als irgend anderswo
verwirklicht. Das Menschlich-Bedeutungsvolle ist hier zum Menschheitlich-
Bedeutungsvollen gesteigert. Nun wirkt das Menschlich-Bedeutungsvolle überall,
wo es uns entgegentritt, lusterregend. Es ist stets unmittelbar ein Genuß,
Leben und Welt nach bedeutungsvollen Zügen dargestellt, in ihren Triebkräften
und Tiefen offenbart zu sehen. Um wie viel mehr muß dies der Fall sein,
wo, wie im Tragischen, jene Steigerung des menschlich-bedeutungsvollen
Charakters vorliegt. Und diese Genußquelle wird auch durch erschreckenden,
grauenhaften Inhalt nicht ganz verschüttet. Sie kann auch in solchen Fällen
das Überwiegende bilden. Es kommt nur darauf an, daß die dichterische Dar¬
stellung die bedeutsamen Seiten des tragischen Gegenstandes vollkommen zur
Geltung bringe. Dann kann der Erfolg eintreten, daß auch dort, wo uns


Zur Ästhetik des Tragischen

mischt sein können, jedoch nicht müssen, sodaß entweder das Schöne oder die
Bewegung ganz ausfallen kann. Die Zusammengehörigkeit beider ist keines¬
wegs bloß äußerliche und zufällige Verknüpfung, sondern sie hängt mit dem
tiefsten Sehnen des Menschenherzens zusammen. Alle utopischen Träume und
alle höchsten Ideale wie der christliche Himmel, Dantes Paradiso enthalten
beides: eine Welt absolut schöner Gestalten, aus der alles Häßliche ausge¬
schlossen ist, und ein Leben in völlig freier Tätigkeit, die eben dadurch, daß
sie völlig frei wäre, zum Spiel werden würde. Im gesunden Kinde, das
schön, und dessen Tätigkeit Spiel ist, sieht der Mensch die Verwirklichung
seines Ideals gesinnbildet und verheißen. Aus dem Paradies der Kindheit
wird er ins Leben hineingestoßen, gezogen, gezerrt, das voll von Häßlichen
ist und ihn zu harter Arbeit zwingt, die einem freien und fröhlichen Spiel
meist sehr unähnlich sieht, und durch die Kunst, die ihm bald das Schöne vor
Augen stellt, bald ihn mit seinen Gliedern oder mit Gedanken, Leidenschaften,
Leiden, Kämpfen und Erfolgen nur eben spielen läßt, hält er die Hoffnung
auf den Jdealzustand in sich aufrecht. In den Anfängen der Kultur pflegt
die Religion diese Aufgabe der großen Menschentrostung zu übernehmen und
sich zu diesem Zwecke mit der Kunst zu verbünden; vielen Millionen leistet
sie diesen Dienst noch heute, und an der geistlichen Dichtkunst wie an der
Kirchenmusik sehen wir wieder, wie das Schöne keineswegs an sich ein
Spielzeug und dem Ernst des Lebens entgegengesetzt ist: im Gottesdienst be¬
treibt die Gemeinde, obwohl er ihr eine Feier bereitet, das allerernsthafteste
Geschäft.

Mit dieser ganzen Betrachtung ist nun auch schon die alte Frage be¬
antwortet, wie das Anhören, Schauen und Lesen der traurigen und schrecklichen
Dinge, die in der Tragödie vorkommen, Genuß bereiten könne, und da kommen
wir wieder mit Volkelt zusammen. „Das Tragische, schreibt er, stellt sich stets
an menschlich bedeutungsvollen Inhalt dar; und zwar ist gerade das Tragische
ein Boden, auf dem sich das Menschliche nach seinen tiefsten und mächtigsten
Kräften, nach seinen schwersten und entscheidungsvollsten Kämpfen, nach seinen ge¬
fährlichsten und zugleich segensreichsten Entwicklungen mehr als irgend anderswo
verwirklicht. Das Menschlich-Bedeutungsvolle ist hier zum Menschheitlich-
Bedeutungsvollen gesteigert. Nun wirkt das Menschlich-Bedeutungsvolle überall,
wo es uns entgegentritt, lusterregend. Es ist stets unmittelbar ein Genuß,
Leben und Welt nach bedeutungsvollen Zügen dargestellt, in ihren Triebkräften
und Tiefen offenbart zu sehen. Um wie viel mehr muß dies der Fall sein,
wo, wie im Tragischen, jene Steigerung des menschlich-bedeutungsvollen
Charakters vorliegt. Und diese Genußquelle wird auch durch erschreckenden,
grauenhaften Inhalt nicht ganz verschüttet. Sie kann auch in solchen Fällen
das Überwiegende bilden. Es kommt nur darauf an, daß die dichterische Dar¬
stellung die bedeutsamen Seiten des tragischen Gegenstandes vollkommen zur
Geltung bringe. Dann kann der Erfolg eintreten, daß auch dort, wo uns


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[0354] Zur Ästhetik des Tragischen mischt sein können, jedoch nicht müssen, sodaß entweder das Schöne oder die Bewegung ganz ausfallen kann. Die Zusammengehörigkeit beider ist keines¬ wegs bloß äußerliche und zufällige Verknüpfung, sondern sie hängt mit dem tiefsten Sehnen des Menschenherzens zusammen. Alle utopischen Träume und alle höchsten Ideale wie der christliche Himmel, Dantes Paradiso enthalten beides: eine Welt absolut schöner Gestalten, aus der alles Häßliche ausge¬ schlossen ist, und ein Leben in völlig freier Tätigkeit, die eben dadurch, daß sie völlig frei wäre, zum Spiel werden würde. Im gesunden Kinde, das schön, und dessen Tätigkeit Spiel ist, sieht der Mensch die Verwirklichung seines Ideals gesinnbildet und verheißen. Aus dem Paradies der Kindheit wird er ins Leben hineingestoßen, gezogen, gezerrt, das voll von Häßlichen ist und ihn zu harter Arbeit zwingt, die einem freien und fröhlichen Spiel meist sehr unähnlich sieht, und durch die Kunst, die ihm bald das Schöne vor Augen stellt, bald ihn mit seinen Gliedern oder mit Gedanken, Leidenschaften, Leiden, Kämpfen und Erfolgen nur eben spielen läßt, hält er die Hoffnung auf den Jdealzustand in sich aufrecht. In den Anfängen der Kultur pflegt die Religion diese Aufgabe der großen Menschentrostung zu übernehmen und sich zu diesem Zwecke mit der Kunst zu verbünden; vielen Millionen leistet sie diesen Dienst noch heute, und an der geistlichen Dichtkunst wie an der Kirchenmusik sehen wir wieder, wie das Schöne keineswegs an sich ein Spielzeug und dem Ernst des Lebens entgegengesetzt ist: im Gottesdienst be¬ treibt die Gemeinde, obwohl er ihr eine Feier bereitet, das allerernsthafteste Geschäft. Mit dieser ganzen Betrachtung ist nun auch schon die alte Frage be¬ antwortet, wie das Anhören, Schauen und Lesen der traurigen und schrecklichen Dinge, die in der Tragödie vorkommen, Genuß bereiten könne, und da kommen wir wieder mit Volkelt zusammen. „Das Tragische, schreibt er, stellt sich stets an menschlich bedeutungsvollen Inhalt dar; und zwar ist gerade das Tragische ein Boden, auf dem sich das Menschliche nach seinen tiefsten und mächtigsten Kräften, nach seinen schwersten und entscheidungsvollsten Kämpfen, nach seinen ge¬ fährlichsten und zugleich segensreichsten Entwicklungen mehr als irgend anderswo verwirklicht. Das Menschlich-Bedeutungsvolle ist hier zum Menschheitlich- Bedeutungsvollen gesteigert. Nun wirkt das Menschlich-Bedeutungsvolle überall, wo es uns entgegentritt, lusterregend. Es ist stets unmittelbar ein Genuß, Leben und Welt nach bedeutungsvollen Zügen dargestellt, in ihren Triebkräften und Tiefen offenbart zu sehen. Um wie viel mehr muß dies der Fall sein, wo, wie im Tragischen, jene Steigerung des menschlich-bedeutungsvollen Charakters vorliegt. Und diese Genußquelle wird auch durch erschreckenden, grauenhaften Inhalt nicht ganz verschüttet. Sie kann auch in solchen Fällen das Überwiegende bilden. Es kommt nur darauf an, daß die dichterische Dar¬ stellung die bedeutsamen Seiten des tragischen Gegenstandes vollkommen zur Geltung bringe. Dann kann der Erfolg eintreten, daß auch dort, wo uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/354>, abgerufen am 28.12.2024.