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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Elizabeth percy

Sodom zu schleppen? Ja, allein -- denn Lady Northumberland war zu strenge, zu
weltlich, indolent und alt, als daß sie sich ihrer Enkelin richtig angenommen hätte, und
was Lady Sophia anbetraf, so war sie als Beraterin für ein junges Mädchen schlimmer
als gar keine. Kam Elizabeth erst nach London, so war sie -- das wußte er -- für
ihn auf immer verloren, ja überhaupt verloren. Denn es war ja eine ganz offen¬
kundige Tatsache, daß in des Königs nächstem Kreise keine Frau geduldet wurde,
die sich nicht geschmeichelt fühlte, dem Beispiel der Maitressen Seiner Majestät zu
folgen. Der Begriff Schande existierte nicht mehr in Whitehall, wo die Herzogin
von Cleveland, die schamlose Barbara Palmer und ihre Kumpanin aus Portsmouth,
die, wie die ganze Welt wußte, gekauft und verkauft war, größere Ehren genoß
als Prinzessinnen von Geblüt. Würde es nicht tausendmal besser für sie sein, wenn
er, der sie liebte, und den sie liebte -- wenn er -- solange es noch Zeit war .. .?

Lady Elizabeths Gatte konnte er nicht werden, das wußte Harry sehr wohl
-- die letzte Erbin des Jarls von Northumberland verheiratete sich nicht mit einem
armen Bastard --, aber ihr Geliebter konnte er werden, sobald er nur wollte. Das
war vielleicht mehr, als sie selber wußte -- aber er wußte es. Und die Tausende von
malen, wenn sie -- wie sie es mit einem Ausdruck aus ihrer Kinderzeit nannte --
"mit ihm spielte", hatte er, beschämt über seinen eignen Mangel an Ritterlichkeit
und Beherrschung, sich diese Möglichkeit ausgemalt. Wenn er nur ein einziges mal
seinen Gefühlen Luft machen konnte. ... Er kannte sie. Ach, meine kleine Eliza¬
beth, meine kleine übermütige und sorglose Lady Elizabeth, die da glaubt, daß
Harry Percy nicht viel besser als ein Knecht ist, und daß die Erde lange nicht
gut genug für sie ist, um darauf zu treten, sondern die am liebsten in den Wolken
promenieren möchte, wenn sie es könnte -- wenn es schließlich darauf ankommt,
ist sie doch aus demselben Stoff geschaffen wie ich und die Erde. Nur feiner --
viel feiner. . .

Aber Harry Percy kannte sie nun doch lange nicht so gut, wie er es sich ein¬
bildete, und sie war weder so schuldig noch so unschuldig, wie er glaubte. Während
er so über den innersten Wert ihrer Gefühle grübelte und ihr Benehmen auf alle
möglichen subtilen Beweggründe zurückführte, war sie in Wirklichkeit nicht viel mehr
als ein wildes, ausgelassenes Kätzchen, das blindlings der Natur eines solchen
Kätzchens folgte: es schmiegte sich an seinen Herrn. Denn ihr Herr, das fühlte sie
dunkel, war er -- er und kein andrer. Und sie liebte ihn wohl auch; aber nicht
so sehr, daß sie gelernt hatte, schamhaft zu sein, und auch nicht so wenig, daß sie
Lust hatte zu krausem. Sie war sich nicht klar über sich selbst und wünschte es
auch nicht zu sein; natürlich konnte sie sich nicht mit Harry verheiraten, davon
konnte keine Rede sein, und natürlich mußte sie sich mit einem andern verheiraten,
aber . . . aber . . .

Wenn Lady Elizabeth in ihren kleinen geheimen Betrachtungen so weit ge¬
kommen war, pflegte sie es regelmäßig zu vermeiden, sie weiter zu verfolgen. Es
geschah in der Regel des Abends nach irgendeiner Szene mit Harry, daß "es ihr
einfiel, daran zu denken". Wenn sie ein wenig gedacht hatte, pflegte sie zu lächeln,
die Arme über dem Kopf in die Höhe zu strecken, zu gähnen (nicht recht natürlich)
und zu versuchen, einzuschlafen. Nach einer Weile wandte sie sich dann wieder um
und bohrte den Kopf noch tiefer in das Kissen. Ihre Kammerjungfern behaupteten,
sie schlafe mit einem Grübchen in der Wange, in der einen Wange, die sie sehen
konnten. Sicher ist es, daß sie in der Regel mit einem Lächeln erwachte, und sie
erwachte niemals klüger, als sie eingeschlafen war. Die alte Anna sprach ihr er¬
mahnend zu, wenn sie des Morgens in die Stube der Alten schlich, um einen
Schluck Kaffee zu bekommen, welchen modernen und jetzt so hochgepriesnen Trank


Elizabeth percy

Sodom zu schleppen? Ja, allein — denn Lady Northumberland war zu strenge, zu
weltlich, indolent und alt, als daß sie sich ihrer Enkelin richtig angenommen hätte, und
was Lady Sophia anbetraf, so war sie als Beraterin für ein junges Mädchen schlimmer
als gar keine. Kam Elizabeth erst nach London, so war sie — das wußte er — für
ihn auf immer verloren, ja überhaupt verloren. Denn es war ja eine ganz offen¬
kundige Tatsache, daß in des Königs nächstem Kreise keine Frau geduldet wurde,
die sich nicht geschmeichelt fühlte, dem Beispiel der Maitressen Seiner Majestät zu
folgen. Der Begriff Schande existierte nicht mehr in Whitehall, wo die Herzogin
von Cleveland, die schamlose Barbara Palmer und ihre Kumpanin aus Portsmouth,
die, wie die ganze Welt wußte, gekauft und verkauft war, größere Ehren genoß
als Prinzessinnen von Geblüt. Würde es nicht tausendmal besser für sie sein, wenn
er, der sie liebte, und den sie liebte — wenn er — solange es noch Zeit war .. .?

Lady Elizabeths Gatte konnte er nicht werden, das wußte Harry sehr wohl
— die letzte Erbin des Jarls von Northumberland verheiratete sich nicht mit einem
armen Bastard —, aber ihr Geliebter konnte er werden, sobald er nur wollte. Das
war vielleicht mehr, als sie selber wußte — aber er wußte es. Und die Tausende von
malen, wenn sie — wie sie es mit einem Ausdruck aus ihrer Kinderzeit nannte —
„mit ihm spielte", hatte er, beschämt über seinen eignen Mangel an Ritterlichkeit
und Beherrschung, sich diese Möglichkeit ausgemalt. Wenn er nur ein einziges mal
seinen Gefühlen Luft machen konnte. ... Er kannte sie. Ach, meine kleine Eliza¬
beth, meine kleine übermütige und sorglose Lady Elizabeth, die da glaubt, daß
Harry Percy nicht viel besser als ein Knecht ist, und daß die Erde lange nicht
gut genug für sie ist, um darauf zu treten, sondern die am liebsten in den Wolken
promenieren möchte, wenn sie es könnte — wenn es schließlich darauf ankommt,
ist sie doch aus demselben Stoff geschaffen wie ich und die Erde. Nur feiner —
viel feiner. . .

Aber Harry Percy kannte sie nun doch lange nicht so gut, wie er es sich ein¬
bildete, und sie war weder so schuldig noch so unschuldig, wie er glaubte. Während
er so über den innersten Wert ihrer Gefühle grübelte und ihr Benehmen auf alle
möglichen subtilen Beweggründe zurückführte, war sie in Wirklichkeit nicht viel mehr
als ein wildes, ausgelassenes Kätzchen, das blindlings der Natur eines solchen
Kätzchens folgte: es schmiegte sich an seinen Herrn. Denn ihr Herr, das fühlte sie
dunkel, war er — er und kein andrer. Und sie liebte ihn wohl auch; aber nicht
so sehr, daß sie gelernt hatte, schamhaft zu sein, und auch nicht so wenig, daß sie
Lust hatte zu krausem. Sie war sich nicht klar über sich selbst und wünschte es
auch nicht zu sein; natürlich konnte sie sich nicht mit Harry verheiraten, davon
konnte keine Rede sein, und natürlich mußte sie sich mit einem andern verheiraten,
aber . . . aber . . .

Wenn Lady Elizabeth in ihren kleinen geheimen Betrachtungen so weit ge¬
kommen war, pflegte sie es regelmäßig zu vermeiden, sie weiter zu verfolgen. Es
geschah in der Regel des Abends nach irgendeiner Szene mit Harry, daß „es ihr
einfiel, daran zu denken". Wenn sie ein wenig gedacht hatte, pflegte sie zu lächeln,
die Arme über dem Kopf in die Höhe zu strecken, zu gähnen (nicht recht natürlich)
und zu versuchen, einzuschlafen. Nach einer Weile wandte sie sich dann wieder um
und bohrte den Kopf noch tiefer in das Kissen. Ihre Kammerjungfern behaupteten,
sie schlafe mit einem Grübchen in der Wange, in der einen Wange, die sie sehen
konnten. Sicher ist es, daß sie in der Regel mit einem Lächeln erwachte, und sie
erwachte niemals klüger, als sie eingeschlafen war. Die alte Anna sprach ihr er¬
mahnend zu, wenn sie des Morgens in die Stube der Alten schlich, um einen
Schluck Kaffee zu bekommen, welchen modernen und jetzt so hochgepriesnen Trank


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[0332] Elizabeth percy Sodom zu schleppen? Ja, allein — denn Lady Northumberland war zu strenge, zu weltlich, indolent und alt, als daß sie sich ihrer Enkelin richtig angenommen hätte, und was Lady Sophia anbetraf, so war sie als Beraterin für ein junges Mädchen schlimmer als gar keine. Kam Elizabeth erst nach London, so war sie — das wußte er — für ihn auf immer verloren, ja überhaupt verloren. Denn es war ja eine ganz offen¬ kundige Tatsache, daß in des Königs nächstem Kreise keine Frau geduldet wurde, die sich nicht geschmeichelt fühlte, dem Beispiel der Maitressen Seiner Majestät zu folgen. Der Begriff Schande existierte nicht mehr in Whitehall, wo die Herzogin von Cleveland, die schamlose Barbara Palmer und ihre Kumpanin aus Portsmouth, die, wie die ganze Welt wußte, gekauft und verkauft war, größere Ehren genoß als Prinzessinnen von Geblüt. Würde es nicht tausendmal besser für sie sein, wenn er, der sie liebte, und den sie liebte — wenn er — solange es noch Zeit war .. .? Lady Elizabeths Gatte konnte er nicht werden, das wußte Harry sehr wohl — die letzte Erbin des Jarls von Northumberland verheiratete sich nicht mit einem armen Bastard —, aber ihr Geliebter konnte er werden, sobald er nur wollte. Das war vielleicht mehr, als sie selber wußte — aber er wußte es. Und die Tausende von malen, wenn sie — wie sie es mit einem Ausdruck aus ihrer Kinderzeit nannte — „mit ihm spielte", hatte er, beschämt über seinen eignen Mangel an Ritterlichkeit und Beherrschung, sich diese Möglichkeit ausgemalt. Wenn er nur ein einziges mal seinen Gefühlen Luft machen konnte. ... Er kannte sie. Ach, meine kleine Eliza¬ beth, meine kleine übermütige und sorglose Lady Elizabeth, die da glaubt, daß Harry Percy nicht viel besser als ein Knecht ist, und daß die Erde lange nicht gut genug für sie ist, um darauf zu treten, sondern die am liebsten in den Wolken promenieren möchte, wenn sie es könnte — wenn es schließlich darauf ankommt, ist sie doch aus demselben Stoff geschaffen wie ich und die Erde. Nur feiner — viel feiner. . . Aber Harry Percy kannte sie nun doch lange nicht so gut, wie er es sich ein¬ bildete, und sie war weder so schuldig noch so unschuldig, wie er glaubte. Während er so über den innersten Wert ihrer Gefühle grübelte und ihr Benehmen auf alle möglichen subtilen Beweggründe zurückführte, war sie in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein wildes, ausgelassenes Kätzchen, das blindlings der Natur eines solchen Kätzchens folgte: es schmiegte sich an seinen Herrn. Denn ihr Herr, das fühlte sie dunkel, war er — er und kein andrer. Und sie liebte ihn wohl auch; aber nicht so sehr, daß sie gelernt hatte, schamhaft zu sein, und auch nicht so wenig, daß sie Lust hatte zu krausem. Sie war sich nicht klar über sich selbst und wünschte es auch nicht zu sein; natürlich konnte sie sich nicht mit Harry verheiraten, davon konnte keine Rede sein, und natürlich mußte sie sich mit einem andern verheiraten, aber . . . aber . . . Wenn Lady Elizabeth in ihren kleinen geheimen Betrachtungen so weit ge¬ kommen war, pflegte sie es regelmäßig zu vermeiden, sie weiter zu verfolgen. Es geschah in der Regel des Abends nach irgendeiner Szene mit Harry, daß „es ihr einfiel, daran zu denken". Wenn sie ein wenig gedacht hatte, pflegte sie zu lächeln, die Arme über dem Kopf in die Höhe zu strecken, zu gähnen (nicht recht natürlich) und zu versuchen, einzuschlafen. Nach einer Weile wandte sie sich dann wieder um und bohrte den Kopf noch tiefer in das Kissen. Ihre Kammerjungfern behaupteten, sie schlafe mit einem Grübchen in der Wange, in der einen Wange, die sie sehen konnten. Sicher ist es, daß sie in der Regel mit einem Lächeln erwachte, und sie erwachte niemals klüger, als sie eingeschlafen war. Die alte Anna sprach ihr er¬ mahnend zu, wenn sie des Morgens in die Stube der Alten schlich, um einen Schluck Kaffee zu bekommen, welchen modernen und jetzt so hochgepriesnen Trank

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/332>, abgerufen am 27.12.2024.