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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Elizabeth Percy

schütteln und einen Tropfen Wein abbekommen. Gegen untergeordnete Personen
"ohne Prätentionen" war Lady Northumberland immer freundlich.

Die alte Anna war das Faktotum des Hauses, und wenn man es genau besah,
seine eigentliche Herrin. Sie war von französischer Abstammung -- aus La Rochelle --
und war lange eine vertraute Dienerin der Prinzessin von Oranien gewesen, der
Schwester des Königs und der Mutter des jetzigen Prinzen Wilhelm, der sich kürzlich
-- zu der alten Anna unverhohlner Freude -- ebenfalls mit einer Prinzessin Mary
Stuart verheiratet hatte. Nach der Restauration war Anna auch mit ihrer Herrin
nach England gekommen und nach deren Tode -- sie starb sehr bald an den Pocken --
bei der alten Gräfin von Northumberland gestrandet und hatte wahrend der letzten
zwanzig Jahre den Posten einer Haushälterin auf Alnwick bekleidet. Sie war treu
wie Gold, klug, feinfühlend und gut und prächtig, hatte noch immer eine schöne
Singstimme und konnte die lustigsten Geschichten in ihrem köstlichen französisch¬
englischen Dialekt erzählen. Da sie ja ihre ganze Erziehung am Hofe im Haag
empfangen hatte, war sie bedeutend verfeinerter als Engländerinnen aus demselben
Stande, und Lady Elizabeth und Henry Percy war sie viele Jahre lang eine wahre
Mutter gewesen. Fast in ihrer ganzen einsamen Kindheit war deswegen auch ihre
Vorstellung von einem Heim immer mit der alten Anna sonniger Stube verknüpft
gewesen; dort lagen die Bratäpfel in der heißen Asche des Kamins, vor dem der
Rocken stand, in der Fensternische hing die Guitarre, und an der Wand hingen die
Kupferstiche vom Prinzen und von der Prinzessin von Oranien. Durch ihre lebhafte
Art und Weise des Erzählens gab sie ihnen schon früh eine Vorstellung von fremden
Ländern, von Hollands Reichtum, von König Ludwigs stolzem Frankreich, le. v"za,u
dessen sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Auf dem Schemel zu ihren Füßen
nähte die kleine Lady Elizabeth ihr erstes Namentuch (es lag jetzt in ein kleines
seidnes Tuch gewickelt in Annas Truhe), oder sie erhielt zur Belohnung für ihren
Fleiß Erlaubnis, einen Haufen alter Modejournale aus der Zeit des vorigen Königs
Ol-us-of mulisbris ^NAlioMus zu besehen. Anna selber thronte immer in dem roten
Lehnstuhl, während sie, das Strickzeug auf dem Schoß und das Buch in der aus¬
gestreckten Hand vor sich hinhaltend, dem zwölfjährigen langbeinigen Harry, der
mit gefalteten Händen und aus die Schulter herabfallenden Haar vor ihr stand, seine
Aufgabe in den Fabeln des Äsop überhörte. Sie verfertigte ihr Spielzeug, wickelte
Spinnengewebe um die Wunde, wenn sie sich in den Finger geschnitten hatten, rieb
ihre Nasen mit Hammeltalg ein und gab ihnen warnies Bier mit Kardamomen,
wenn sie sich erkältet hatten. Harry -- oder Monsieur Henri, wie Anna nie unterließ,
ihn zu nennen -- war vor allem ihr Liebling, sie hatte ihn fast ebenso lieb wie
den kleinen Prinzen Wilhelm, ehe sie Holland verließ, und es schnitt ihr ins Herz,
wenn sie daran dachte, daß er auf Grund seiner Geburt ausgeschlossen war, den
reichen Preis zu erringen, nach dem die adliche Jugend von halb England strebte:
Lady Elizabeths Hand und die großen Percyschen Baronien -- er, der doch eigentlich
zunächst ein Anrecht auf das alles hatte! Wenn man in ihrer Gegenwart den
ältesten der unehelichen Söhne des Königs, den Herzog von Monmouth, nannte,
der mit Lady Anna Scott, Erbin des edeln Hauses Buccleugh, vermählt war, so
sagte sie mehr als einmal zu ihrem Vertrauten, dem Haushofmeister, daß es beim
lebendigen Gott Sünde und Schande sei, daß ein königlicher Bastard auf die Weise
einen Vorzug vor allen edelgebornen Herren im Reiche haben solle, während der
Sohn eines Lords nur als ganz gewöhnlicher bürgerlicher und gemeiner Soldat
betrachtet würde, wenn er das Unglück habe, einen Querbalken in dem Wappen zu
führen, das er geerbt habe.

Der Haushofmeister sagte, Mistreß Anna habe ja so unbedingt Recht, namentlich
da Master Harry, wenn es darauf ankomme, von mindestens ebenso edelm Blut


Elizabeth Percy

schütteln und einen Tropfen Wein abbekommen. Gegen untergeordnete Personen
„ohne Prätentionen" war Lady Northumberland immer freundlich.

Die alte Anna war das Faktotum des Hauses, und wenn man es genau besah,
seine eigentliche Herrin. Sie war von französischer Abstammung — aus La Rochelle —
und war lange eine vertraute Dienerin der Prinzessin von Oranien gewesen, der
Schwester des Königs und der Mutter des jetzigen Prinzen Wilhelm, der sich kürzlich
— zu der alten Anna unverhohlner Freude — ebenfalls mit einer Prinzessin Mary
Stuart verheiratet hatte. Nach der Restauration war Anna auch mit ihrer Herrin
nach England gekommen und nach deren Tode — sie starb sehr bald an den Pocken —
bei der alten Gräfin von Northumberland gestrandet und hatte wahrend der letzten
zwanzig Jahre den Posten einer Haushälterin auf Alnwick bekleidet. Sie war treu
wie Gold, klug, feinfühlend und gut und prächtig, hatte noch immer eine schöne
Singstimme und konnte die lustigsten Geschichten in ihrem köstlichen französisch¬
englischen Dialekt erzählen. Da sie ja ihre ganze Erziehung am Hofe im Haag
empfangen hatte, war sie bedeutend verfeinerter als Engländerinnen aus demselben
Stande, und Lady Elizabeth und Henry Percy war sie viele Jahre lang eine wahre
Mutter gewesen. Fast in ihrer ganzen einsamen Kindheit war deswegen auch ihre
Vorstellung von einem Heim immer mit der alten Anna sonniger Stube verknüpft
gewesen; dort lagen die Bratäpfel in der heißen Asche des Kamins, vor dem der
Rocken stand, in der Fensternische hing die Guitarre, und an der Wand hingen die
Kupferstiche vom Prinzen und von der Prinzessin von Oranien. Durch ihre lebhafte
Art und Weise des Erzählens gab sie ihnen schon früh eine Vorstellung von fremden
Ländern, von Hollands Reichtum, von König Ludwigs stolzem Frankreich, le. v«za,u
dessen sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Auf dem Schemel zu ihren Füßen
nähte die kleine Lady Elizabeth ihr erstes Namentuch (es lag jetzt in ein kleines
seidnes Tuch gewickelt in Annas Truhe), oder sie erhielt zur Belohnung für ihren
Fleiß Erlaubnis, einen Haufen alter Modejournale aus der Zeit des vorigen Königs
Ol-us-of mulisbris ^NAlioMus zu besehen. Anna selber thronte immer in dem roten
Lehnstuhl, während sie, das Strickzeug auf dem Schoß und das Buch in der aus¬
gestreckten Hand vor sich hinhaltend, dem zwölfjährigen langbeinigen Harry, der
mit gefalteten Händen und aus die Schulter herabfallenden Haar vor ihr stand, seine
Aufgabe in den Fabeln des Äsop überhörte. Sie verfertigte ihr Spielzeug, wickelte
Spinnengewebe um die Wunde, wenn sie sich in den Finger geschnitten hatten, rieb
ihre Nasen mit Hammeltalg ein und gab ihnen warnies Bier mit Kardamomen,
wenn sie sich erkältet hatten. Harry — oder Monsieur Henri, wie Anna nie unterließ,
ihn zu nennen — war vor allem ihr Liebling, sie hatte ihn fast ebenso lieb wie
den kleinen Prinzen Wilhelm, ehe sie Holland verließ, und es schnitt ihr ins Herz,
wenn sie daran dachte, daß er auf Grund seiner Geburt ausgeschlossen war, den
reichen Preis zu erringen, nach dem die adliche Jugend von halb England strebte:
Lady Elizabeths Hand und die großen Percyschen Baronien — er, der doch eigentlich
zunächst ein Anrecht auf das alles hatte! Wenn man in ihrer Gegenwart den
ältesten der unehelichen Söhne des Königs, den Herzog von Monmouth, nannte,
der mit Lady Anna Scott, Erbin des edeln Hauses Buccleugh, vermählt war, so
sagte sie mehr als einmal zu ihrem Vertrauten, dem Haushofmeister, daß es beim
lebendigen Gott Sünde und Schande sei, daß ein königlicher Bastard auf die Weise
einen Vorzug vor allen edelgebornen Herren im Reiche haben solle, während der
Sohn eines Lords nur als ganz gewöhnlicher bürgerlicher und gemeiner Soldat
betrachtet würde, wenn er das Unglück habe, einen Querbalken in dem Wappen zu
führen, das er geerbt habe.

Der Haushofmeister sagte, Mistreß Anna habe ja so unbedingt Recht, namentlich
da Master Harry, wenn es darauf ankomme, von mindestens ebenso edelm Blut


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[0328] Elizabeth Percy schütteln und einen Tropfen Wein abbekommen. Gegen untergeordnete Personen „ohne Prätentionen" war Lady Northumberland immer freundlich. Die alte Anna war das Faktotum des Hauses, und wenn man es genau besah, seine eigentliche Herrin. Sie war von französischer Abstammung — aus La Rochelle — und war lange eine vertraute Dienerin der Prinzessin von Oranien gewesen, der Schwester des Königs und der Mutter des jetzigen Prinzen Wilhelm, der sich kürzlich — zu der alten Anna unverhohlner Freude — ebenfalls mit einer Prinzessin Mary Stuart verheiratet hatte. Nach der Restauration war Anna auch mit ihrer Herrin nach England gekommen und nach deren Tode — sie starb sehr bald an den Pocken — bei der alten Gräfin von Northumberland gestrandet und hatte wahrend der letzten zwanzig Jahre den Posten einer Haushälterin auf Alnwick bekleidet. Sie war treu wie Gold, klug, feinfühlend und gut und prächtig, hatte noch immer eine schöne Singstimme und konnte die lustigsten Geschichten in ihrem köstlichen französisch¬ englischen Dialekt erzählen. Da sie ja ihre ganze Erziehung am Hofe im Haag empfangen hatte, war sie bedeutend verfeinerter als Engländerinnen aus demselben Stande, und Lady Elizabeth und Henry Percy war sie viele Jahre lang eine wahre Mutter gewesen. Fast in ihrer ganzen einsamen Kindheit war deswegen auch ihre Vorstellung von einem Heim immer mit der alten Anna sonniger Stube verknüpft gewesen; dort lagen die Bratäpfel in der heißen Asche des Kamins, vor dem der Rocken stand, in der Fensternische hing die Guitarre, und an der Wand hingen die Kupferstiche vom Prinzen und von der Prinzessin von Oranien. Durch ihre lebhafte Art und Weise des Erzählens gab sie ihnen schon früh eine Vorstellung von fremden Ländern, von Hollands Reichtum, von König Ludwigs stolzem Frankreich, le. v«za,u dessen sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. Auf dem Schemel zu ihren Füßen nähte die kleine Lady Elizabeth ihr erstes Namentuch (es lag jetzt in ein kleines seidnes Tuch gewickelt in Annas Truhe), oder sie erhielt zur Belohnung für ihren Fleiß Erlaubnis, einen Haufen alter Modejournale aus der Zeit des vorigen Königs Ol-us-of mulisbris ^NAlioMus zu besehen. Anna selber thronte immer in dem roten Lehnstuhl, während sie, das Strickzeug auf dem Schoß und das Buch in der aus¬ gestreckten Hand vor sich hinhaltend, dem zwölfjährigen langbeinigen Harry, der mit gefalteten Händen und aus die Schulter herabfallenden Haar vor ihr stand, seine Aufgabe in den Fabeln des Äsop überhörte. Sie verfertigte ihr Spielzeug, wickelte Spinnengewebe um die Wunde, wenn sie sich in den Finger geschnitten hatten, rieb ihre Nasen mit Hammeltalg ein und gab ihnen warnies Bier mit Kardamomen, wenn sie sich erkältet hatten. Harry — oder Monsieur Henri, wie Anna nie unterließ, ihn zu nennen — war vor allem ihr Liebling, sie hatte ihn fast ebenso lieb wie den kleinen Prinzen Wilhelm, ehe sie Holland verließ, und es schnitt ihr ins Herz, wenn sie daran dachte, daß er auf Grund seiner Geburt ausgeschlossen war, den reichen Preis zu erringen, nach dem die adliche Jugend von halb England strebte: Lady Elizabeths Hand und die großen Percyschen Baronien — er, der doch eigentlich zunächst ein Anrecht auf das alles hatte! Wenn man in ihrer Gegenwart den ältesten der unehelichen Söhne des Königs, den Herzog von Monmouth, nannte, der mit Lady Anna Scott, Erbin des edeln Hauses Buccleugh, vermählt war, so sagte sie mehr als einmal zu ihrem Vertrauten, dem Haushofmeister, daß es beim lebendigen Gott Sünde und Schande sei, daß ein königlicher Bastard auf die Weise einen Vorzug vor allen edelgebornen Herren im Reiche haben solle, während der Sohn eines Lords nur als ganz gewöhnlicher bürgerlicher und gemeiner Soldat betrachtet würde, wenn er das Unglück habe, einen Querbalken in dem Wappen zu führen, das er geerbt habe. Der Haushofmeister sagte, Mistreß Anna habe ja so unbedingt Recht, namentlich da Master Harry, wenn es darauf ankomme, von mindestens ebenso edelm Blut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/328>, abgerufen am 28.12.2024.