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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von ^789

der Richterstand, die Käuflichkeit der Stellen, die Faulheit der Richter. Alles
ist durchweht von der Sehnsucht nach Freiheit! Viel ernster und wissenschaft¬
licher war seine Schrift vom "Geiste der Gesetze" (1748); in ihr zeichnete er
zum erstenmal an der Hand der englischen Verfassung, die er allerdings stark
idealisierte, den modernen konstitutionellen Staat mit seiner Dreiteilung der Ge¬
walten, der gesetzgebenden, der ausübenden und der richterlichen, in so meister¬
hafter Weise, daß er die öffentliche Meinung auf das gewaltigste mit fortriß,
und nicht bloß diese, sondern auch die Parlamente, die, durch die tiefen Gedanken
Montesquieus angeregt, immer häufiger von den Rechten der Bürger und des
Staates sprachen, also lange vor 1789. Es ist hier unmöglich, auf die Bedeu¬
tung des eingefleischtesten Revolutionärs der damaligen Literatur, Jean Jacques
Rousseaus, näher einzugehn, obwohl gerade von ihm die mächtigsten Antriebe
für die öffentliche Meinung ausgingen. "Er lehrte sie, daß das Gefühl mehr
sei als der Verstand, daß der Niedrige besser und wichtiger sei als der Vor¬
nehme; er predigte die Freiheit eindringlicher als seine Vorgänger, freilich auch
noch unklarer als sie, er predigte vor allem die Gleichheit; er machte in ge¬
waltigem Maßstabe Stimmung für die Republik; er fand die Handhabe unter
Wahrung des Rechtsgedankens, das positive Recht der Herrschenden zu zer¬
brechen; er erklärte, daß das Volk der Herr sei." Da seine Lehren bis in die
tiefsten Schichten der Bevölkerung drangen, so bestimmten sie auch am stärksten
den Gang der Revolution; und weiterhin haben die Sozialdemokraten, ja auch
die Anarchisten die letzten Folgerungen aus seinem "Gesellschaftsverträge" ge¬
zogen. Von andern Schriftstellern abgesehen, sei schließlich noch der Physio-
kraten gedacht, die wenigstens teilweise auf die öffentliche Meinung Frankreichs
eingewirkt haben, denn als Anhänger einer absoluten Monarchie, mit deren Hilfe
sie allein ihr "System" durchzusetzen hofften, fanden sie keinen Beifall bei der
Menge. Aber ihre Lehre, wonach der Grund und Boden, nicht das Geld den
Nationalreichtum ausmache, daß also nur jener das einzig richtige Steuerobjekt
abgebe, wobei natürlich der Bauer stark zu entlasten sei, während andrerseits
unbedingte Handelsfreiheit herrschen müsse (laisssö kg,irs, laiZss? aller), diese
Lehre nahm die Gemüter vieler gefangen, so sehr sie auch an Übertreibungen
und Fehlern leiden mochte. Den Physiokraten gehörten die angesehensten Männer
an. vor allem Turgot und Dupont de Nemours. Und doch wäre es verkehrt,
wollte man glauben, die Franzosen hätten damals einen Führer gehabt, dem
sie folgten: im Gegenteil, ein solcher fehlte ihnen durchaus; sie nahmen aus den
Schriften ihrer großen Denker eben nur das an, was ihnen leicht faßlich war
und dies wieder bestand doch nur in Worten und Phrasen, die ihnen angenehm
um Ohre klangen, von denen sie sich aber eine klare Vorstellung nicht machen
konnten. Dazu kam noch eins: seit 1750 oder 1760 war auf allen. Gebieten
des Lebens tatsächlich ein höchst erfreulicher Fortschritt gemacht worden, aber
der Tadel gegen alles Bestehende, die leidenschaftliche Kritik an allen Ma߬
nahmen der Regierung verschärfte sich trotzdem zusehends.


Vorgeschichte der französischen Revolution von ^789

der Richterstand, die Käuflichkeit der Stellen, die Faulheit der Richter. Alles
ist durchweht von der Sehnsucht nach Freiheit! Viel ernster und wissenschaft¬
licher war seine Schrift vom „Geiste der Gesetze" (1748); in ihr zeichnete er
zum erstenmal an der Hand der englischen Verfassung, die er allerdings stark
idealisierte, den modernen konstitutionellen Staat mit seiner Dreiteilung der Ge¬
walten, der gesetzgebenden, der ausübenden und der richterlichen, in so meister¬
hafter Weise, daß er die öffentliche Meinung auf das gewaltigste mit fortriß,
und nicht bloß diese, sondern auch die Parlamente, die, durch die tiefen Gedanken
Montesquieus angeregt, immer häufiger von den Rechten der Bürger und des
Staates sprachen, also lange vor 1789. Es ist hier unmöglich, auf die Bedeu¬
tung des eingefleischtesten Revolutionärs der damaligen Literatur, Jean Jacques
Rousseaus, näher einzugehn, obwohl gerade von ihm die mächtigsten Antriebe
für die öffentliche Meinung ausgingen. „Er lehrte sie, daß das Gefühl mehr
sei als der Verstand, daß der Niedrige besser und wichtiger sei als der Vor¬
nehme; er predigte die Freiheit eindringlicher als seine Vorgänger, freilich auch
noch unklarer als sie, er predigte vor allem die Gleichheit; er machte in ge¬
waltigem Maßstabe Stimmung für die Republik; er fand die Handhabe unter
Wahrung des Rechtsgedankens, das positive Recht der Herrschenden zu zer¬
brechen; er erklärte, daß das Volk der Herr sei." Da seine Lehren bis in die
tiefsten Schichten der Bevölkerung drangen, so bestimmten sie auch am stärksten
den Gang der Revolution; und weiterhin haben die Sozialdemokraten, ja auch
die Anarchisten die letzten Folgerungen aus seinem „Gesellschaftsverträge" ge¬
zogen. Von andern Schriftstellern abgesehen, sei schließlich noch der Physio-
kraten gedacht, die wenigstens teilweise auf die öffentliche Meinung Frankreichs
eingewirkt haben, denn als Anhänger einer absoluten Monarchie, mit deren Hilfe
sie allein ihr „System" durchzusetzen hofften, fanden sie keinen Beifall bei der
Menge. Aber ihre Lehre, wonach der Grund und Boden, nicht das Geld den
Nationalreichtum ausmache, daß also nur jener das einzig richtige Steuerobjekt
abgebe, wobei natürlich der Bauer stark zu entlasten sei, während andrerseits
unbedingte Handelsfreiheit herrschen müsse (laisssö kg,irs, laiZss? aller), diese
Lehre nahm die Gemüter vieler gefangen, so sehr sie auch an Übertreibungen
und Fehlern leiden mochte. Den Physiokraten gehörten die angesehensten Männer
an. vor allem Turgot und Dupont de Nemours. Und doch wäre es verkehrt,
wollte man glauben, die Franzosen hätten damals einen Führer gehabt, dem
sie folgten: im Gegenteil, ein solcher fehlte ihnen durchaus; sie nahmen aus den
Schriften ihrer großen Denker eben nur das an, was ihnen leicht faßlich war
und dies wieder bestand doch nur in Worten und Phrasen, die ihnen angenehm
um Ohre klangen, von denen sie sich aber eine klare Vorstellung nicht machen
konnten. Dazu kam noch eins: seit 1750 oder 1760 war auf allen. Gebieten
des Lebens tatsächlich ein höchst erfreulicher Fortschritt gemacht worden, aber
der Tadel gegen alles Bestehende, die leidenschaftliche Kritik an allen Ma߬
nahmen der Regierung verschärfte sich trotzdem zusehends.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/299>, abgerufen am 23.07.2024.