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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

ehrungswert ansah, und was Könige und Staatsmänner geleistet hatten. Der
königliche Richter Boisguillebert schilderte wieder (1707) das entsetzliche Elend
der großen Masse und trat für Reformen ein, besonders für Abschaffung aller
bisherigen Steuern, an deren Stelle er eine auf dem Grundbesitz beruhende
Hauptsteuer eingeführt wissen wollte. In derselben Richtung, aber noch stärker
wirkte der berühmte Festungsbaumeister Vauban durch seine Schrift vixins KoMs
(1707), in der er einen ähnlichen Vorschlag wie Boisguillebert machte, eben die
Einführung eines Steuerzehnten statt aller andern Steuern. Aber beide Schrift¬
steller urteilten doch nur oberflächlich und ohne Kenntnis; denn so leicht, wie sie
es sich dachten, war es doch nicht, den Staat zu reformieren. Einen überaus
gewaltigen Einfluß übte daun Voltaire aus, obwohl er ein Geist zweiten Ranges,
kein Dichter, kein Historiker gewesen ist, ja auch kein schöpferischer Denker, sondern
nur ein Vermittler fremden Denkens, namentlich der Gedanken der englischen
Philosophen Locke und Hume und der Naturforscher, besonders Newtons. Durch
seinen großartigen Stil, seine Vielseitigkeit und seinen Witz war er wie geschaffen,
den breitesten Massen der Gebildeten im höchsten Maße zu imponieren, aber
neue Bahnen zu weisen, war ihm nicht gegeben. Seine Aufgabe bestand nur
darin, das Bestehende in Staat und Kirche herunterzureißen und Phrasen zu
schmieden, die alsbald von Mund zu Mund gingen: "der Engländer ist ein
freier Mann", "das Volk, der zahlreichste, der nützlichste und sogar der tugend¬
hafteste Teil der Menschheit", "das Volk, das so gütig ist, zu dulden, daß einige
Geistliche 50000 Livres Einkommen haben", "nicht der Minister, sondern der
Kaufmann, der sein Land reicher macht, trägt zum Glück der Menschheit bei".
Was er im Anfange besonders in den I/öttrss Lnr Iss ^.vAlküs (1734) lehrte,
führte er in fernern zahllosen Schriften weiter aus, und in seinem Fahrwasser
bewegten sich auch die Enzyklopädisten, von denen einige allerdings noch radi¬
kalere Ansichten hegten. Eine andre Richtung, die weniger wirksam war, aber
auch den königlichen Absolutismus bekämpfte, bezeichneten Graf Boulainvilliers
und Marquis von Mirabeciu, die eine Reform durch Zurückgreifen auf die Ver¬
hältnisse des Mittelalters anstrebten und geradezu vortreffliche, leider wenig
beachtete Lehren erteilten. Dagegen verschlang die Menge, wie schon vorher an¬
gedeutet worden ist, die Kundgebungen des Parlaments gegen die Kirche und
den Staat, deren Befugnisse von ihm in den richtigen Schranken gehalten werden
sollten; und aus dem Parlament ging auch der geistreichste politische Denker des
achtzehnten Jahrhunderts, Montesquieu, hervor. In seinen "Persischen Briefen"
(1722) tritt er uns noch als der reine Zerstörer entgegen, aber seine Kritik ist
vornehmer und edler als die Voltaires; Persien, Rußland und andre Länder,
über die Berichte erstattet werden, sind ihm nicht besser als Frankreich, ein Stand
nicht besser als der andre, die Gesellschaft steht ihm nicht moralisch höher als
der Staat, aber schonungslos wird doch der französische Nationalcharakter an¬
gegriffen; der Zustand der Kirche, ihre Trinitätslehre, die Transsubstantiation,
die Priester, die Mönche werden mit Spott und Hohn übergössen und ebenso


Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

ehrungswert ansah, und was Könige und Staatsmänner geleistet hatten. Der
königliche Richter Boisguillebert schilderte wieder (1707) das entsetzliche Elend
der großen Masse und trat für Reformen ein, besonders für Abschaffung aller
bisherigen Steuern, an deren Stelle er eine auf dem Grundbesitz beruhende
Hauptsteuer eingeführt wissen wollte. In derselben Richtung, aber noch stärker
wirkte der berühmte Festungsbaumeister Vauban durch seine Schrift vixins KoMs
(1707), in der er einen ähnlichen Vorschlag wie Boisguillebert machte, eben die
Einführung eines Steuerzehnten statt aller andern Steuern. Aber beide Schrift¬
steller urteilten doch nur oberflächlich und ohne Kenntnis; denn so leicht, wie sie
es sich dachten, war es doch nicht, den Staat zu reformieren. Einen überaus
gewaltigen Einfluß übte daun Voltaire aus, obwohl er ein Geist zweiten Ranges,
kein Dichter, kein Historiker gewesen ist, ja auch kein schöpferischer Denker, sondern
nur ein Vermittler fremden Denkens, namentlich der Gedanken der englischen
Philosophen Locke und Hume und der Naturforscher, besonders Newtons. Durch
seinen großartigen Stil, seine Vielseitigkeit und seinen Witz war er wie geschaffen,
den breitesten Massen der Gebildeten im höchsten Maße zu imponieren, aber
neue Bahnen zu weisen, war ihm nicht gegeben. Seine Aufgabe bestand nur
darin, das Bestehende in Staat und Kirche herunterzureißen und Phrasen zu
schmieden, die alsbald von Mund zu Mund gingen: „der Engländer ist ein
freier Mann", „das Volk, der zahlreichste, der nützlichste und sogar der tugend¬
hafteste Teil der Menschheit", „das Volk, das so gütig ist, zu dulden, daß einige
Geistliche 50000 Livres Einkommen haben", „nicht der Minister, sondern der
Kaufmann, der sein Land reicher macht, trägt zum Glück der Menschheit bei".
Was er im Anfange besonders in den I/öttrss Lnr Iss ^.vAlküs (1734) lehrte,
führte er in fernern zahllosen Schriften weiter aus, und in seinem Fahrwasser
bewegten sich auch die Enzyklopädisten, von denen einige allerdings noch radi¬
kalere Ansichten hegten. Eine andre Richtung, die weniger wirksam war, aber
auch den königlichen Absolutismus bekämpfte, bezeichneten Graf Boulainvilliers
und Marquis von Mirabeciu, die eine Reform durch Zurückgreifen auf die Ver¬
hältnisse des Mittelalters anstrebten und geradezu vortreffliche, leider wenig
beachtete Lehren erteilten. Dagegen verschlang die Menge, wie schon vorher an¬
gedeutet worden ist, die Kundgebungen des Parlaments gegen die Kirche und
den Staat, deren Befugnisse von ihm in den richtigen Schranken gehalten werden
sollten; und aus dem Parlament ging auch der geistreichste politische Denker des
achtzehnten Jahrhunderts, Montesquieu, hervor. In seinen „Persischen Briefen"
(1722) tritt er uns noch als der reine Zerstörer entgegen, aber seine Kritik ist
vornehmer und edler als die Voltaires; Persien, Rußland und andre Länder,
über die Berichte erstattet werden, sind ihm nicht besser als Frankreich, ein Stand
nicht besser als der andre, die Gesellschaft steht ihm nicht moralisch höher als
der Staat, aber schonungslos wird doch der französische Nationalcharakter an¬
gegriffen; der Zustand der Kirche, ihre Trinitätslehre, die Transsubstantiation,
die Priester, die Mönche werden mit Spott und Hohn übergössen und ebenso


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/298>, abgerufen am 23.07.2024.