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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Verunstaltung des deutschen Liedes

da sie unmittelbar aus dem Volke selbst entstammen und dessen Wesen klar zum
Ausdruck bringen.

Damit ist nun nicht gesagt, daß fortan jede Textkritik unterbleiben soll: denn
öfter handelt es sich um Wiederherstellung eines ursprünglichen Dichterwortes,
wovon ein Beispiel in der neusten Ausgabe der Echtermeherschen Sammlung
deutscher Gedichte angeführt wird. Danach heißt es in Goethes Mignon nicht:
Dahin, dahin möcht ich mit dir, " mein Geliebter, ziehn -- sondern: o mein
Gebieter ziehn. Diese Lesart findet sich in den beiden erhaltnen Handschriften
und wird durch den Sinn und den Zusammenhang in Wilhelm Meisters Lehr¬
jahren gefordert. Dagegen wird niemand etwas einwenden können: man will
einfach dem Dichter gerecht werden. Aber in den Änderungen, von denen hier
die Rede ist, steht etwas ganz andres auf dem Spiele: man will, wie es Fricke
ausdrückt, das Erotische aus den Liedern verbannen, damit nicht jugendliche
Gemüter dadurch verdorben werden. Wie muß es in den Köpfen der Leute aus¬
sehen, die solche Ansichten haben? Wie wenig kennen sie das Volksleben und
das Volksempfinden! Welche Jugendzeit müssen die hinter sich haben? Es denke
doch einmal jeder an seine eignen Schul- und Jugendjahre zurück, ob er jemals
an solchen Liedern Anstoß genommen hat. Man hat entweder mit großer, ehr¬
licher Begeisterung gesungen oder aber sich bei dem Inhalte des Liedes gar
nichts besondres gedacht und nur am Singen selbst seine Freude gehabt, gleichviel
ob es vaterländische Weisen oder Liebes- und Trinklieder gewesen sind. Wie
manchmal ist da in Heller Lust und tiefem Ernste das Schenkendorfsche Freiheits¬
lied gesungen worden beim verbotnen Glase Bier: nachher ging doch jeder nach
Hause und trug das Joch der Schultyrannei weiter, ohne im spätern Leben zum
Umstürzler geworden zu sein. Und genau so ist es mit den Liebes- und den Trink¬
liedern, mögen sie von den höhern Töchtern oder in der Volksschule gesungen
und eingeübt werden oder draußen im Walde auf der Schulpartie erschallen.
Es muß um jeden Preis gesungen und dadurch der Lust am Dasein Ausdruck
gegeben werden; auf den Inhalt der Lieder kommt es dabei weniger an, wenn
nur die Fröhlichkeit zu ihrem Rechte kommt. Einen sittlichen Schaden hat noch
niemand dadurch erlitten, das steht fest. Dergleichen schädigende Wirkungen
müßten sich unbedingt in irgendeiner Form äußern, sodaß man sagen könnte: das
sind die Folgen von dem Gesang erotischer Volkslieder. Wie oft wird das Geibelsche
Maillet gesungen, wo es in der vierten Strophe heißt: Ergreife die Fiedel, du
lustger Spielmann du, von meinem Schatz das Liebet, das sing ich dazu. Und
solcher oder ähnlicher Wendungen vom Schätzchen und Liebchen gibt es viele; wenn
die alle gestrichen werden sollten, blieben kaum noch einige Vaterlandslieder übrig,
und mit dem Gesänge wärs bald vorbei. So schlecht steht es mit unsern Kindern
und den jungen Leuten glücklicherweise denn doch noch nicht, daß man sie vor solchen
harmlosen Liebesliedern schützen müßte, bei denen sie sich nichts denken. Sie
werden aber im Gegenteil erst darauf hingewiesen, wenn man ihnen mit so blöden
Verunstaltungen kommt, die gar nicht in den Sinn des Liedes passen: denn sie
merken sehr bald auf solche angeblich verfänglichen Stellen und bemühen sich


Die Verunstaltung des deutschen Liedes

da sie unmittelbar aus dem Volke selbst entstammen und dessen Wesen klar zum
Ausdruck bringen.

Damit ist nun nicht gesagt, daß fortan jede Textkritik unterbleiben soll: denn
öfter handelt es sich um Wiederherstellung eines ursprünglichen Dichterwortes,
wovon ein Beispiel in der neusten Ausgabe der Echtermeherschen Sammlung
deutscher Gedichte angeführt wird. Danach heißt es in Goethes Mignon nicht:
Dahin, dahin möcht ich mit dir, » mein Geliebter, ziehn — sondern: o mein
Gebieter ziehn. Diese Lesart findet sich in den beiden erhaltnen Handschriften
und wird durch den Sinn und den Zusammenhang in Wilhelm Meisters Lehr¬
jahren gefordert. Dagegen wird niemand etwas einwenden können: man will
einfach dem Dichter gerecht werden. Aber in den Änderungen, von denen hier
die Rede ist, steht etwas ganz andres auf dem Spiele: man will, wie es Fricke
ausdrückt, das Erotische aus den Liedern verbannen, damit nicht jugendliche
Gemüter dadurch verdorben werden. Wie muß es in den Köpfen der Leute aus¬
sehen, die solche Ansichten haben? Wie wenig kennen sie das Volksleben und
das Volksempfinden! Welche Jugendzeit müssen die hinter sich haben? Es denke
doch einmal jeder an seine eignen Schul- und Jugendjahre zurück, ob er jemals
an solchen Liedern Anstoß genommen hat. Man hat entweder mit großer, ehr¬
licher Begeisterung gesungen oder aber sich bei dem Inhalte des Liedes gar
nichts besondres gedacht und nur am Singen selbst seine Freude gehabt, gleichviel
ob es vaterländische Weisen oder Liebes- und Trinklieder gewesen sind. Wie
manchmal ist da in Heller Lust und tiefem Ernste das Schenkendorfsche Freiheits¬
lied gesungen worden beim verbotnen Glase Bier: nachher ging doch jeder nach
Hause und trug das Joch der Schultyrannei weiter, ohne im spätern Leben zum
Umstürzler geworden zu sein. Und genau so ist es mit den Liebes- und den Trink¬
liedern, mögen sie von den höhern Töchtern oder in der Volksschule gesungen
und eingeübt werden oder draußen im Walde auf der Schulpartie erschallen.
Es muß um jeden Preis gesungen und dadurch der Lust am Dasein Ausdruck
gegeben werden; auf den Inhalt der Lieder kommt es dabei weniger an, wenn
nur die Fröhlichkeit zu ihrem Rechte kommt. Einen sittlichen Schaden hat noch
niemand dadurch erlitten, das steht fest. Dergleichen schädigende Wirkungen
müßten sich unbedingt in irgendeiner Form äußern, sodaß man sagen könnte: das
sind die Folgen von dem Gesang erotischer Volkslieder. Wie oft wird das Geibelsche
Maillet gesungen, wo es in der vierten Strophe heißt: Ergreife die Fiedel, du
lustger Spielmann du, von meinem Schatz das Liebet, das sing ich dazu. Und
solcher oder ähnlicher Wendungen vom Schätzchen und Liebchen gibt es viele; wenn
die alle gestrichen werden sollten, blieben kaum noch einige Vaterlandslieder übrig,
und mit dem Gesänge wärs bald vorbei. So schlecht steht es mit unsern Kindern
und den jungen Leuten glücklicherweise denn doch noch nicht, daß man sie vor solchen
harmlosen Liebesliedern schützen müßte, bei denen sie sich nichts denken. Sie
werden aber im Gegenteil erst darauf hingewiesen, wenn man ihnen mit so blöden
Verunstaltungen kommt, die gar nicht in den Sinn des Liedes passen: denn sie
merken sehr bald auf solche angeblich verfänglichen Stellen und bemühen sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/260>, abgerufen am 23.07.2024.