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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

ja daß sich hier Kreise dem Streik angeschlossen haben, von denen man das
gewiß niemals erwartet Hütte, nämlich die Schulen, die Banken, die Rechts¬
anwälte und die Apotheken. Aber damit sind die Verlegenheiten der Negierung
noch lange nicht erschöpft. Es kommen die Freiheitsbestrebungen der unter¬
jochten Völker, der Polen, der Litauer, der Finnlünder, der Tataren, der
Armenier hinzu, und neuere Schriftsteller sprechen schon von der Notwendig¬
keit, einen russischen Bundesstaat zu begründen; und was noch viel schlimmer
ist, als alles das zusammengenommen: was soll aus den hundert Millionen
Bauern werdeu, die den Grund und Boden als gemeinschaftliches Eigentum
seiner Bebauer betrachten und sich, da sie fast an beständiger Hungersnot leiden,
nunmehr, wo die Verhältnisse günstig für sie liegen, an den Kron- und den
Adelsgütern vergreifen werden? Verwandelt dagegen die Regierung den bäuer¬
lichen Acker in Sondereigentum, so wird wieder die gesamte wirtschaftliche Grund¬
lage des Reichs untergraben, sodciß uicht abzusehen ist, wie die Sache enden soll.

Alle diese Erscheinungen haben selbstverständlich ihre Ursachen, die teilweise
weit, zuweilen Hunderte von Jahren zurückliegen; sie völlig zu ergründen und
zahlenmäßig nachzuweisen, ist vorderhand und noch lange Zeit unmöglich. Aber
in hohem Maße interessant dürfte es in den heutigen Zeitläufen sein, sich ein
Bild von den französischen Zustünden vor der Revolution von 1789 zu ver¬
gegenwärtigen, nicht als ob diese Zustünde mit den jetzigen russischen irgend¬
welche Ähnlichkeiten aufwiesen, sondern weil an einem lehrreichen Beispiel gezeigt
werden kann, wie ein großes Volk allmählich zum Selbstbewußtsein erwacht,
die eignen geistigen und physischen Kräfte kennen lernt und von ihnen einen
guten oder einen schlechten Gebrauch macht. Das vortreffliche Werk von
Adalbert Wahl,*) der sich schon durch andre Vorarbeiten und Studien auf
demselben Gebiet einen Namen gemacht hat, setzt uns eigentlich zum erstenmal
ni den Stand, die Ereignisse vor 1789, die zur Revolution führten, in be¬
friedigender Weise zu beurteilen. Denn der sonst so bewunderungswürdige
Tocqueville irrt doch mit seiner Behauptung, "daß die Revolution aus dem,
was von ihm geschildert worden sei, von selbst hervorgegangen sei". Taine
ferner, dessen Ausführungen an Einseitigkeiten und Übertreibungen leiden, ist
nichts weniger als ein guter Erzähler; Sybel endlich gibt in seiner Geschichte
der Revolutionszeit als Einleitung zu dieser nur einen summarischen Überblick,
ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, und kann deshalb heutzutage nicht mehr
genügen; Wahl nennt ihn im Texte seines Werkes überhaupt nicht. Erschließt
den ersten Band, der bisher allein erschienen ist, mit den: Hinweise, daß Calonne
unt der Berufung einer Notabelnversammlung zu Ende des Jahres 1786 das
Signal des Zusammenbruchs gegeben habe. Verfolgen wir bis dahin die Zu¬
stünde und die Ereignisse der Vorgeschichte der großen Revolution!



Vorgeschichte der französischen Revolution. Ein Versuch von Adalbert Wahl. 1. Bd.
Tübingen, I. C. B. Mohr, 1WS.
Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

ja daß sich hier Kreise dem Streik angeschlossen haben, von denen man das
gewiß niemals erwartet Hütte, nämlich die Schulen, die Banken, die Rechts¬
anwälte und die Apotheken. Aber damit sind die Verlegenheiten der Negierung
noch lange nicht erschöpft. Es kommen die Freiheitsbestrebungen der unter¬
jochten Völker, der Polen, der Litauer, der Finnlünder, der Tataren, der
Armenier hinzu, und neuere Schriftsteller sprechen schon von der Notwendig¬
keit, einen russischen Bundesstaat zu begründen; und was noch viel schlimmer
ist, als alles das zusammengenommen: was soll aus den hundert Millionen
Bauern werdeu, die den Grund und Boden als gemeinschaftliches Eigentum
seiner Bebauer betrachten und sich, da sie fast an beständiger Hungersnot leiden,
nunmehr, wo die Verhältnisse günstig für sie liegen, an den Kron- und den
Adelsgütern vergreifen werden? Verwandelt dagegen die Regierung den bäuer¬
lichen Acker in Sondereigentum, so wird wieder die gesamte wirtschaftliche Grund¬
lage des Reichs untergraben, sodciß uicht abzusehen ist, wie die Sache enden soll.

Alle diese Erscheinungen haben selbstverständlich ihre Ursachen, die teilweise
weit, zuweilen Hunderte von Jahren zurückliegen; sie völlig zu ergründen und
zahlenmäßig nachzuweisen, ist vorderhand und noch lange Zeit unmöglich. Aber
in hohem Maße interessant dürfte es in den heutigen Zeitläufen sein, sich ein
Bild von den französischen Zustünden vor der Revolution von 1789 zu ver¬
gegenwärtigen, nicht als ob diese Zustünde mit den jetzigen russischen irgend¬
welche Ähnlichkeiten aufwiesen, sondern weil an einem lehrreichen Beispiel gezeigt
werden kann, wie ein großes Volk allmählich zum Selbstbewußtsein erwacht,
die eignen geistigen und physischen Kräfte kennen lernt und von ihnen einen
guten oder einen schlechten Gebrauch macht. Das vortreffliche Werk von
Adalbert Wahl,*) der sich schon durch andre Vorarbeiten und Studien auf
demselben Gebiet einen Namen gemacht hat, setzt uns eigentlich zum erstenmal
ni den Stand, die Ereignisse vor 1789, die zur Revolution führten, in be¬
friedigender Weise zu beurteilen. Denn der sonst so bewunderungswürdige
Tocqueville irrt doch mit seiner Behauptung, „daß die Revolution aus dem,
was von ihm geschildert worden sei, von selbst hervorgegangen sei". Taine
ferner, dessen Ausführungen an Einseitigkeiten und Übertreibungen leiden, ist
nichts weniger als ein guter Erzähler; Sybel endlich gibt in seiner Geschichte
der Revolutionszeit als Einleitung zu dieser nur einen summarischen Überblick,
ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, und kann deshalb heutzutage nicht mehr
genügen; Wahl nennt ihn im Texte seines Werkes überhaupt nicht. Erschließt
den ersten Band, der bisher allein erschienen ist, mit den: Hinweise, daß Calonne
unt der Berufung einer Notabelnversammlung zu Ende des Jahres 1786 das
Signal des Zusammenbruchs gegeben habe. Verfolgen wir bis dahin die Zu¬
stünde und die Ereignisse der Vorgeschichte der großen Revolution!



Vorgeschichte der französischen Revolution. Ein Versuch von Adalbert Wahl. 1. Bd.
Tübingen, I. C. B. Mohr, 1WS.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/249>, abgerufen am 23.07.2024.