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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Neue deutsche Romane

Schöpfer, wie ich schon sagte, in die Nähe Specks rückt, dessen eines noch nicht
genug anerkannter Meisterschaft er trotz andrer Ausdrucksweise verwandt ist.

Nicht nur eine halbe Generation, sondern eine ganze Welt liegt zwischen
Karl Hauptmann und Karl Emil Franzos, aus dessen Nachlaß Frau Franzos
eine "Geschichte aus dem Osten", "Der Pojaz" (Stuttgart und Berlin, Cotta)
herausgegeben hat. Wo Hauptmann das Wort schwer von den Lippen fällt,
sich die Silben zu oft seltsamer Weise ballen, gleitet Franzos geebneter
Stil rasch dahin, ohne bei aller Ökonomie des Aufrisses immer Breite und
Übermaß in der Ausführung meiden zu können. So liest sich Franzos
schneller und glatter, haftet aber auch nicht solange, wennschon der "Pojaz"
ein gutes und nachdenkliches Buch ist, das sich neben dem ebenfalls recht
breiten "Kampf ums Recht" wohl sehen lassen kann. Nachdenklich ist es schon
wegen der im Werk selbst und in der Vorrede aufgeworfnen Probleme. Franzos
ist ja der erste deutsche Schilderer des jüdischen Lebens in der großen Ebene
zwischen der deutschen Grenze, dem Dujepr und dem Schwarzen Meere ge¬
wesen und ist mit dem "Pojaz" zu diesen Jugendgaben zurückgekehrt. Wie
sehr sich ihm, dem inmitten dieses Lebens gebornen, deutsch erzognen Juden,
eignes Glück und mehr noch eignes Leid mit seinen Dichtungen und ihrem
Stoff verwoben, erzählt das Vorwort schlicht und ergreifend: der Mann, der
selbst immer im Kampfe stand und gerade für sein Judentum als Kulturmacht
stritt, muß hart gelitten haben unter den Anfeindungen orthodoxer jüdischer
Kreise. Um so angenehmer berührt es den Leser, daß der Roman selbst nichts
von Bitterkeit enthält, wo er sich mit gleichem Fanatismus abzufinden hat.
Dafür sorgt neben andern Gaben der Humor, den Franzos spielen läßt, und
der dem düstern Geschick dieses Pojazen, der ein großer Schauspieler werden
will, die versöhnenden Lichter leiht. Mit steigendem Anteil folgt man dem
zähen Bemühen dieses Schnorrersohns, der sich nur in tief geheimer Einsamkeit,
seltsam genug zuletzt in der Bücherei des Klosters, deutsche Bildung aneignen
darf, und der gerade durch diese wahrhaft heldenhafte Anstrengung den Todes¬
keim aufnimmt, der ihm kurz vor dem Ziel das Herz zum Stillstande bringt.
Was Franzos eigentlich sagen will -- denn ein Tendcnzroman ist dieses
Werk--, liegt zum Teil freilich in den Nebenhandlungen, die den Weg seines
Helden begleiten; deshalb auch wohl vielfach die Breite. Wenn ein schönes,
reines und gebildetes Mädchen nicht mehr als begehrenswert gilt, weil der
eine ihrer Oheime nach deutscher Art lebt, der andre Christ geworden ist, wenn
der Rabbiner ein Gemeindeglied verflucht, weil es Deutsch lesen kann -- so
wissen wir, welche Kämpfe die Vorrede meint. Und so vergißt man über dem
Interesse an dem fremdartigen Stoffe gelegentliche Mängel in der künstlerischen
Entwicklung.

Unter zehn Romanen, die man heute aufschlägt, führt kaum einer, wie
der Franzossche, über die deutschen Grenzen, durchaus im Gegensatz zu frühern
Zeiten. Wie sehr aber manches Talent zu seinem Gedeihen noch innerhalb


Neue deutsche Romane

Schöpfer, wie ich schon sagte, in die Nähe Specks rückt, dessen eines noch nicht
genug anerkannter Meisterschaft er trotz andrer Ausdrucksweise verwandt ist.

Nicht nur eine halbe Generation, sondern eine ganze Welt liegt zwischen
Karl Hauptmann und Karl Emil Franzos, aus dessen Nachlaß Frau Franzos
eine „Geschichte aus dem Osten", „Der Pojaz" (Stuttgart und Berlin, Cotta)
herausgegeben hat. Wo Hauptmann das Wort schwer von den Lippen fällt,
sich die Silben zu oft seltsamer Weise ballen, gleitet Franzos geebneter
Stil rasch dahin, ohne bei aller Ökonomie des Aufrisses immer Breite und
Übermaß in der Ausführung meiden zu können. So liest sich Franzos
schneller und glatter, haftet aber auch nicht solange, wennschon der „Pojaz"
ein gutes und nachdenkliches Buch ist, das sich neben dem ebenfalls recht
breiten „Kampf ums Recht" wohl sehen lassen kann. Nachdenklich ist es schon
wegen der im Werk selbst und in der Vorrede aufgeworfnen Probleme. Franzos
ist ja der erste deutsche Schilderer des jüdischen Lebens in der großen Ebene
zwischen der deutschen Grenze, dem Dujepr und dem Schwarzen Meere ge¬
wesen und ist mit dem „Pojaz" zu diesen Jugendgaben zurückgekehrt. Wie
sehr sich ihm, dem inmitten dieses Lebens gebornen, deutsch erzognen Juden,
eignes Glück und mehr noch eignes Leid mit seinen Dichtungen und ihrem
Stoff verwoben, erzählt das Vorwort schlicht und ergreifend: der Mann, der
selbst immer im Kampfe stand und gerade für sein Judentum als Kulturmacht
stritt, muß hart gelitten haben unter den Anfeindungen orthodoxer jüdischer
Kreise. Um so angenehmer berührt es den Leser, daß der Roman selbst nichts
von Bitterkeit enthält, wo er sich mit gleichem Fanatismus abzufinden hat.
Dafür sorgt neben andern Gaben der Humor, den Franzos spielen läßt, und
der dem düstern Geschick dieses Pojazen, der ein großer Schauspieler werden
will, die versöhnenden Lichter leiht. Mit steigendem Anteil folgt man dem
zähen Bemühen dieses Schnorrersohns, der sich nur in tief geheimer Einsamkeit,
seltsam genug zuletzt in der Bücherei des Klosters, deutsche Bildung aneignen
darf, und der gerade durch diese wahrhaft heldenhafte Anstrengung den Todes¬
keim aufnimmt, der ihm kurz vor dem Ziel das Herz zum Stillstande bringt.
Was Franzos eigentlich sagen will — denn ein Tendcnzroman ist dieses
Werk—, liegt zum Teil freilich in den Nebenhandlungen, die den Weg seines
Helden begleiten; deshalb auch wohl vielfach die Breite. Wenn ein schönes,
reines und gebildetes Mädchen nicht mehr als begehrenswert gilt, weil der
eine ihrer Oheime nach deutscher Art lebt, der andre Christ geworden ist, wenn
der Rabbiner ein Gemeindeglied verflucht, weil es Deutsch lesen kann — so
wissen wir, welche Kämpfe die Vorrede meint. Und so vergißt man über dem
Interesse an dem fremdartigen Stoffe gelegentliche Mängel in der künstlerischen
Entwicklung.

Unter zehn Romanen, die man heute aufschlägt, führt kaum einer, wie
der Franzossche, über die deutschen Grenzen, durchaus im Gegensatz zu frühern
Zeiten. Wie sehr aber manches Talent zu seinem Gedeihen noch innerhalb


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[0217] Neue deutsche Romane Schöpfer, wie ich schon sagte, in die Nähe Specks rückt, dessen eines noch nicht genug anerkannter Meisterschaft er trotz andrer Ausdrucksweise verwandt ist. Nicht nur eine halbe Generation, sondern eine ganze Welt liegt zwischen Karl Hauptmann und Karl Emil Franzos, aus dessen Nachlaß Frau Franzos eine „Geschichte aus dem Osten", „Der Pojaz" (Stuttgart und Berlin, Cotta) herausgegeben hat. Wo Hauptmann das Wort schwer von den Lippen fällt, sich die Silben zu oft seltsamer Weise ballen, gleitet Franzos geebneter Stil rasch dahin, ohne bei aller Ökonomie des Aufrisses immer Breite und Übermaß in der Ausführung meiden zu können. So liest sich Franzos schneller und glatter, haftet aber auch nicht solange, wennschon der „Pojaz" ein gutes und nachdenkliches Buch ist, das sich neben dem ebenfalls recht breiten „Kampf ums Recht" wohl sehen lassen kann. Nachdenklich ist es schon wegen der im Werk selbst und in der Vorrede aufgeworfnen Probleme. Franzos ist ja der erste deutsche Schilderer des jüdischen Lebens in der großen Ebene zwischen der deutschen Grenze, dem Dujepr und dem Schwarzen Meere ge¬ wesen und ist mit dem „Pojaz" zu diesen Jugendgaben zurückgekehrt. Wie sehr sich ihm, dem inmitten dieses Lebens gebornen, deutsch erzognen Juden, eignes Glück und mehr noch eignes Leid mit seinen Dichtungen und ihrem Stoff verwoben, erzählt das Vorwort schlicht und ergreifend: der Mann, der selbst immer im Kampfe stand und gerade für sein Judentum als Kulturmacht stritt, muß hart gelitten haben unter den Anfeindungen orthodoxer jüdischer Kreise. Um so angenehmer berührt es den Leser, daß der Roman selbst nichts von Bitterkeit enthält, wo er sich mit gleichem Fanatismus abzufinden hat. Dafür sorgt neben andern Gaben der Humor, den Franzos spielen läßt, und der dem düstern Geschick dieses Pojazen, der ein großer Schauspieler werden will, die versöhnenden Lichter leiht. Mit steigendem Anteil folgt man dem zähen Bemühen dieses Schnorrersohns, der sich nur in tief geheimer Einsamkeit, seltsam genug zuletzt in der Bücherei des Klosters, deutsche Bildung aneignen darf, und der gerade durch diese wahrhaft heldenhafte Anstrengung den Todes¬ keim aufnimmt, der ihm kurz vor dem Ziel das Herz zum Stillstande bringt. Was Franzos eigentlich sagen will — denn ein Tendcnzroman ist dieses Werk—, liegt zum Teil freilich in den Nebenhandlungen, die den Weg seines Helden begleiten; deshalb auch wohl vielfach die Breite. Wenn ein schönes, reines und gebildetes Mädchen nicht mehr als begehrenswert gilt, weil der eine ihrer Oheime nach deutscher Art lebt, der andre Christ geworden ist, wenn der Rabbiner ein Gemeindeglied verflucht, weil es Deutsch lesen kann — so wissen wir, welche Kämpfe die Vorrede meint. Und so vergißt man über dem Interesse an dem fremdartigen Stoffe gelegentliche Mängel in der künstlerischen Entwicklung. Unter zehn Romanen, die man heute aufschlägt, führt kaum einer, wie der Franzossche, über die deutschen Grenzen, durchaus im Gegensatz zu frühern Zeiten. Wie sehr aber manches Talent zu seinem Gedeihen noch innerhalb

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/217>, abgerufen am 27.12.2024.