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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Neue deutsche Romane

Werke. Die Vorgänge, die darin erzählt werden, sind so einfach, so, ich möchte
sagen, dnrchschnittsmäßig, wie sie sich im Leben der allermeisten Fabrikmädchen
abspielen. Und doch hat dieser Roman mit all den naturalistischen Erzählungen
nichts zu tun, die in demselben Umkreis spielen. Es kommt Hauptmann nie auf
die exakte Schilderung des Milieus, nie auf spannende Handlung an -- er
möchte nur die Seele herausbringen. So weit will er in den Kern dieser
Frauennatur eindringen, daß wir bei ihrem Wege dnrch Druck und Drang,
durch Schmutz und Jammer, dnrch Lust und Liebe immer das eine, richtige
Empfinden für den Takt dieses Herzens behalten. Und es gelingt dem Poeten
durchaus. Die Sieghaftigkeit einer reinen Seele, die mit lnuterm Licht leuchtende
Zartheit eines starken, sich nie ganz verlierenden Menschen wird uns klar und
lieb. "Freude und Leiden, heißt es da einmal, sind aus einem Grunde und
kommen beide aus Tiefen, die uns Kraft geben und unsre Wege mit lebendigem
Sinn bedecken wie der Frühling mit Blumen. Nicht jedem ist geschenkt, in
Gründe zu tauchen. Nicht jeder ist gewürdigt, aus der Tiefe zu schöpfen,
nicht in Freuden, nicht im Leiden." "Aber Mathilde, fährt Hauptmann fort,
war eine." Und dadurch, daß diese feine und eigentümliche Gestalt durch ihres
Dichters reife und tiefe Psychologie ganz die unsre wird, bekommen auch wir
selber etwas ab von dieser Fähigkeit, auf die leisen Töne zu lauschen, die
unter der Oberfläche leben und beben. Wie in Wilhelm Specks "Zwei Seelen"
die stillen Wasser rinnen, Tropfen auf Tropfen, so rieseln sie auch in "Mathilde".
Hauptmanns Stil ist freilich weit pretiöser als der Specks; das liegt vielleicht
daran, daß sich Hauptmann nach meinem Gefühl noch nicht ganz gefunden
hat, noch auf der Suche ist. Aber diese oft seltsam gesteigerte Sprache hat
doch auch ihren nicht geringen Reiz und gleitet oft wie von selbst ins rein
Lyrische hinüber. So erscheint denn der wundervolle Ostergesang, der das
Buch schmückt, wie aus ihm heraus geboren:

Blüten! -- Blüten! die kaum geöffneten, zagen --
Ewige Wunder blühen und klingen und sagen:
"In, der Lebendige wacht."
Bäche tosen in schäumenden Ufern zu Tale.
Tausend Stimmen jauchzen:
"Mit einem male
Schwanden Tod und Nacht!"
Wieder, wie wenn heilige Feuer lohten,
Über Gräbern Männer in glänzenden Kleidern --:
"Engel!"
Und ein Ewiger spricht:
"Weinet nicht!
Suchet nimmer den Lebendigen
Unter Toten!"

Mit solchen tiefinnerlich errungncn Versen führt Hauptmann sein Werk
auf die Höhe, seine Dichtung, die an Beseelung und Wahrheit fast alle ge-
priesnen Entwicklungsromane der letzten Zeit hinter sich läßt und ihren


Neue deutsche Romane

Werke. Die Vorgänge, die darin erzählt werden, sind so einfach, so, ich möchte
sagen, dnrchschnittsmäßig, wie sie sich im Leben der allermeisten Fabrikmädchen
abspielen. Und doch hat dieser Roman mit all den naturalistischen Erzählungen
nichts zu tun, die in demselben Umkreis spielen. Es kommt Hauptmann nie auf
die exakte Schilderung des Milieus, nie auf spannende Handlung an — er
möchte nur die Seele herausbringen. So weit will er in den Kern dieser
Frauennatur eindringen, daß wir bei ihrem Wege dnrch Druck und Drang,
durch Schmutz und Jammer, dnrch Lust und Liebe immer das eine, richtige
Empfinden für den Takt dieses Herzens behalten. Und es gelingt dem Poeten
durchaus. Die Sieghaftigkeit einer reinen Seele, die mit lnuterm Licht leuchtende
Zartheit eines starken, sich nie ganz verlierenden Menschen wird uns klar und
lieb. „Freude und Leiden, heißt es da einmal, sind aus einem Grunde und
kommen beide aus Tiefen, die uns Kraft geben und unsre Wege mit lebendigem
Sinn bedecken wie der Frühling mit Blumen. Nicht jedem ist geschenkt, in
Gründe zu tauchen. Nicht jeder ist gewürdigt, aus der Tiefe zu schöpfen,
nicht in Freuden, nicht im Leiden." „Aber Mathilde, fährt Hauptmann fort,
war eine." Und dadurch, daß diese feine und eigentümliche Gestalt durch ihres
Dichters reife und tiefe Psychologie ganz die unsre wird, bekommen auch wir
selber etwas ab von dieser Fähigkeit, auf die leisen Töne zu lauschen, die
unter der Oberfläche leben und beben. Wie in Wilhelm Specks „Zwei Seelen"
die stillen Wasser rinnen, Tropfen auf Tropfen, so rieseln sie auch in „Mathilde".
Hauptmanns Stil ist freilich weit pretiöser als der Specks; das liegt vielleicht
daran, daß sich Hauptmann nach meinem Gefühl noch nicht ganz gefunden
hat, noch auf der Suche ist. Aber diese oft seltsam gesteigerte Sprache hat
doch auch ihren nicht geringen Reiz und gleitet oft wie von selbst ins rein
Lyrische hinüber. So erscheint denn der wundervolle Ostergesang, der das
Buch schmückt, wie aus ihm heraus geboren:

Blüten! — Blüten! die kaum geöffneten, zagen —
Ewige Wunder blühen und klingen und sagen:
„In, der Lebendige wacht."
Bäche tosen in schäumenden Ufern zu Tale.
Tausend Stimmen jauchzen:
„Mit einem male
Schwanden Tod und Nacht!"
Wieder, wie wenn heilige Feuer lohten,
Über Gräbern Männer in glänzenden Kleidern --:
„Engel!"
Und ein Ewiger spricht:
„Weinet nicht!
Suchet nimmer den Lebendigen
Unter Toten!"

Mit solchen tiefinnerlich errungncn Versen führt Hauptmann sein Werk
auf die Höhe, seine Dichtung, die an Beseelung und Wahrheit fast alle ge-
priesnen Entwicklungsromane der letzten Zeit hinter sich läßt und ihren


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[0216] Neue deutsche Romane Werke. Die Vorgänge, die darin erzählt werden, sind so einfach, so, ich möchte sagen, dnrchschnittsmäßig, wie sie sich im Leben der allermeisten Fabrikmädchen abspielen. Und doch hat dieser Roman mit all den naturalistischen Erzählungen nichts zu tun, die in demselben Umkreis spielen. Es kommt Hauptmann nie auf die exakte Schilderung des Milieus, nie auf spannende Handlung an — er möchte nur die Seele herausbringen. So weit will er in den Kern dieser Frauennatur eindringen, daß wir bei ihrem Wege dnrch Druck und Drang, durch Schmutz und Jammer, dnrch Lust und Liebe immer das eine, richtige Empfinden für den Takt dieses Herzens behalten. Und es gelingt dem Poeten durchaus. Die Sieghaftigkeit einer reinen Seele, die mit lnuterm Licht leuchtende Zartheit eines starken, sich nie ganz verlierenden Menschen wird uns klar und lieb. „Freude und Leiden, heißt es da einmal, sind aus einem Grunde und kommen beide aus Tiefen, die uns Kraft geben und unsre Wege mit lebendigem Sinn bedecken wie der Frühling mit Blumen. Nicht jedem ist geschenkt, in Gründe zu tauchen. Nicht jeder ist gewürdigt, aus der Tiefe zu schöpfen, nicht in Freuden, nicht im Leiden." „Aber Mathilde, fährt Hauptmann fort, war eine." Und dadurch, daß diese feine und eigentümliche Gestalt durch ihres Dichters reife und tiefe Psychologie ganz die unsre wird, bekommen auch wir selber etwas ab von dieser Fähigkeit, auf die leisen Töne zu lauschen, die unter der Oberfläche leben und beben. Wie in Wilhelm Specks „Zwei Seelen" die stillen Wasser rinnen, Tropfen auf Tropfen, so rieseln sie auch in „Mathilde". Hauptmanns Stil ist freilich weit pretiöser als der Specks; das liegt vielleicht daran, daß sich Hauptmann nach meinem Gefühl noch nicht ganz gefunden hat, noch auf der Suche ist. Aber diese oft seltsam gesteigerte Sprache hat doch auch ihren nicht geringen Reiz und gleitet oft wie von selbst ins rein Lyrische hinüber. So erscheint denn der wundervolle Ostergesang, der das Buch schmückt, wie aus ihm heraus geboren: Blüten! — Blüten! die kaum geöffneten, zagen — Ewige Wunder blühen und klingen und sagen: „In, der Lebendige wacht." Bäche tosen in schäumenden Ufern zu Tale. Tausend Stimmen jauchzen: „Mit einem male Schwanden Tod und Nacht!" Wieder, wie wenn heilige Feuer lohten, Über Gräbern Männer in glänzenden Kleidern --: „Engel!" Und ein Ewiger spricht: „Weinet nicht! Suchet nimmer den Lebendigen Unter Toten!" Mit solchen tiefinnerlich errungncn Versen führt Hauptmann sein Werk auf die Höhe, seine Dichtung, die an Beseelung und Wahrheit fast alle ge- priesnen Entwicklungsromane der letzten Zeit hinter sich läßt und ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/216>, abgerufen am 23.07.2024.