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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Physiognomie der russischen Sprache

Andrerseits ist das Gemütsleben des Russen eng mit seiner religiösen An¬
schauung verbunden, deren Niederschlag sich zunächst bei der Namenswahl zeigt.
Wenn die schönen Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung bei uns höchstens in
den fremdsprachlichen Vornamen Fides, Caritas (Aimee) und Esperance und
sogar bei den romanischen Nationen nur vereinzelt vorkommen, gehören sie als
^jöra, Ijjuook und 5sg,all68<zK.äÄ zum eisernen Bestände des russischen Familien¬
lebens. Auch der Gebrauch andrer hängt mit kirchlichen Einflüssen, insbesondre
mit der legendarischen Überlieferung zusammen. Andreas, der "erstberufne"
Apostel Jesu (I'fru-Äsvitrmz'), soll das Christentum in der sarmatischen Tief¬
ebene gepredigt haben; der Großfürst Wladimir der "Apostelgleiche" (^xostata-
r^nz?) gilt als Erneuerer der von seiner Ältermutter Olga wieder aufge-
nommnen christlichen Lehre und als Bekehrer seines Volkes, und so gehören
die Namen ^rar6i und >Vtg.älwir zu den häufigsten, besonders in vornehmen
Kreisen. Als dritter gesellt sich der volkstümlichere (Nikolaus) hinzu,
dessen von allen Slawen verehrtes Heiligtum im unteritalienischen Bari
steht und namentlich von jedem Russen, der den Boden der apenninischen
Halbinsel betritt, gern besucht wird. Natürlich ist auch die Mehrzahl der
übrigen Vornamen, unter denen Ivän, ?Mer (Peter), "Waslli, "ArjAori, Lhöps-n,
MKtta, (Niketas) die verbreitetsten sein dürften, auf Heilige der ?rg.>og,Äg,vngM
ZsrKok -- der orthodoxen Kirche --, die dem gläubigen wie dem ungläubigen
Russen als die allein dieses Namens würdige gilt, zurückzuführen.

Läßt die Sprache in diesem Punkte die Frömmigkeit als charakteristische
Eigenschaft des Volkes erkennen, so legt sie in andrer Hinsicht Zeugnis für
seine Sittlichkeit ab. Denn sie hat nur eine geringe Zahl gemeiner oder be¬
schimpfender Ausdrücke, unter denen die beliebtesten of-soliönnik und clurÄc
-- "Spitzbube" und "Dummkopf" -- zugleich in harmlos scherzenden Sinne
gebraucht werden. Im Gegensatz zu den auch in unserm deutschen Volksliede
nur zu oft auftretenden Derbheiten und Unscmberkeiten ist denn auch das slawische
durchaus einwandfrei, zart und sinnig. Dieses Zeugnis für die ursprüngliche
Art des russischen Bauern wird auch durch grausige Bilder, wie sie etwa
Tolstoi und Gorki entwerfen, nicht entkräftet. Denn wo das Niedrige und
Gräßliche auftritt, hängt es mit der ungeschlachten Natur des Halbbarbaren
zusammen. Laszivität und Gemeinheit, wie sie die führenden Kreise vielfach
beherrschen, sind fremdes Gewächs, vorzugsweise französischen Ursprungs. Doch
finden auch die als typisch angesehenen Natiouallaster ihren unbefangnen
Widerhall in der Sprache. Der Schnaps wird zärtlich als "Wässerchen"
(vvöÄKg.)*) angeredet, wasoliönnil: ist auch in seiner schlimmen Bedeutung fast
das dritte Wort jedes vertraulichen Gesprächs, und der oft grausame Sitten-
schilderer Puschkin legt einer seiner Personen im "Anjügin" die Ehrennamen
"Vielfraß, Schmumacher und alter Schuft" in einer so harmlos gemeinten



>VüäKi oder wie man bei uns zu sagen pflegt: pulli ist Genitiv!
Die Physiognomie der russischen Sprache

Andrerseits ist das Gemütsleben des Russen eng mit seiner religiösen An¬
schauung verbunden, deren Niederschlag sich zunächst bei der Namenswahl zeigt.
Wenn die schönen Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung bei uns höchstens in
den fremdsprachlichen Vornamen Fides, Caritas (Aimee) und Esperance und
sogar bei den romanischen Nationen nur vereinzelt vorkommen, gehören sie als
^jöra, Ijjuook und 5sg,all68<zK.äÄ zum eisernen Bestände des russischen Familien¬
lebens. Auch der Gebrauch andrer hängt mit kirchlichen Einflüssen, insbesondre
mit der legendarischen Überlieferung zusammen. Andreas, der „erstberufne"
Apostel Jesu (I'fru-Äsvitrmz'), soll das Christentum in der sarmatischen Tief¬
ebene gepredigt haben; der Großfürst Wladimir der „Apostelgleiche" (^xostata-
r^nz?) gilt als Erneuerer der von seiner Ältermutter Olga wieder aufge-
nommnen christlichen Lehre und als Bekehrer seines Volkes, und so gehören
die Namen ^rar6i und >Vtg.älwir zu den häufigsten, besonders in vornehmen
Kreisen. Als dritter gesellt sich der volkstümlichere (Nikolaus) hinzu,
dessen von allen Slawen verehrtes Heiligtum im unteritalienischen Bari
steht und namentlich von jedem Russen, der den Boden der apenninischen
Halbinsel betritt, gern besucht wird. Natürlich ist auch die Mehrzahl der
übrigen Vornamen, unter denen Ivän, ?Mer (Peter), "Waslli, «ArjAori, Lhöps-n,
MKtta, (Niketas) die verbreitetsten sein dürften, auf Heilige der ?rg.>og,Äg,vngM
ZsrKok — der orthodoxen Kirche —, die dem gläubigen wie dem ungläubigen
Russen als die allein dieses Namens würdige gilt, zurückzuführen.

Läßt die Sprache in diesem Punkte die Frömmigkeit als charakteristische
Eigenschaft des Volkes erkennen, so legt sie in andrer Hinsicht Zeugnis für
seine Sittlichkeit ab. Denn sie hat nur eine geringe Zahl gemeiner oder be¬
schimpfender Ausdrücke, unter denen die beliebtesten of-soliönnik und clurÄc
— „Spitzbube" und „Dummkopf" — zugleich in harmlos scherzenden Sinne
gebraucht werden. Im Gegensatz zu den auch in unserm deutschen Volksliede
nur zu oft auftretenden Derbheiten und Unscmberkeiten ist denn auch das slawische
durchaus einwandfrei, zart und sinnig. Dieses Zeugnis für die ursprüngliche
Art des russischen Bauern wird auch durch grausige Bilder, wie sie etwa
Tolstoi und Gorki entwerfen, nicht entkräftet. Denn wo das Niedrige und
Gräßliche auftritt, hängt es mit der ungeschlachten Natur des Halbbarbaren
zusammen. Laszivität und Gemeinheit, wie sie die führenden Kreise vielfach
beherrschen, sind fremdes Gewächs, vorzugsweise französischen Ursprungs. Doch
finden auch die als typisch angesehenen Natiouallaster ihren unbefangnen
Widerhall in der Sprache. Der Schnaps wird zärtlich als „Wässerchen"
(vvöÄKg.)*) angeredet, wasoliönnil: ist auch in seiner schlimmen Bedeutung fast
das dritte Wort jedes vertraulichen Gesprächs, und der oft grausame Sitten-
schilderer Puschkin legt einer seiner Personen im „Anjügin" die Ehrennamen
„Vielfraß, Schmumacher und alter Schuft" in einer so harmlos gemeinten



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[0208] Die Physiognomie der russischen Sprache Andrerseits ist das Gemütsleben des Russen eng mit seiner religiösen An¬ schauung verbunden, deren Niederschlag sich zunächst bei der Namenswahl zeigt. Wenn die schönen Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung bei uns höchstens in den fremdsprachlichen Vornamen Fides, Caritas (Aimee) und Esperance und sogar bei den romanischen Nationen nur vereinzelt vorkommen, gehören sie als ^jöra, Ijjuook und 5sg,all68<zK.äÄ zum eisernen Bestände des russischen Familien¬ lebens. Auch der Gebrauch andrer hängt mit kirchlichen Einflüssen, insbesondre mit der legendarischen Überlieferung zusammen. Andreas, der „erstberufne" Apostel Jesu (I'fru-Äsvitrmz'), soll das Christentum in der sarmatischen Tief¬ ebene gepredigt haben; der Großfürst Wladimir der „Apostelgleiche" (^xostata- r^nz?) gilt als Erneuerer der von seiner Ältermutter Olga wieder aufge- nommnen christlichen Lehre und als Bekehrer seines Volkes, und so gehören die Namen ^rar6i und >Vtg.älwir zu den häufigsten, besonders in vornehmen Kreisen. Als dritter gesellt sich der volkstümlichere (Nikolaus) hinzu, dessen von allen Slawen verehrtes Heiligtum im unteritalienischen Bari steht und namentlich von jedem Russen, der den Boden der apenninischen Halbinsel betritt, gern besucht wird. Natürlich ist auch die Mehrzahl der übrigen Vornamen, unter denen Ivän, ?Mer (Peter), "Waslli, «ArjAori, Lhöps-n, MKtta, (Niketas) die verbreitetsten sein dürften, auf Heilige der ?rg.>og,Äg,vngM ZsrKok — der orthodoxen Kirche —, die dem gläubigen wie dem ungläubigen Russen als die allein dieses Namens würdige gilt, zurückzuführen. Läßt die Sprache in diesem Punkte die Frömmigkeit als charakteristische Eigenschaft des Volkes erkennen, so legt sie in andrer Hinsicht Zeugnis für seine Sittlichkeit ab. Denn sie hat nur eine geringe Zahl gemeiner oder be¬ schimpfender Ausdrücke, unter denen die beliebtesten of-soliönnik und clurÄc — „Spitzbube" und „Dummkopf" — zugleich in harmlos scherzenden Sinne gebraucht werden. Im Gegensatz zu den auch in unserm deutschen Volksliede nur zu oft auftretenden Derbheiten und Unscmberkeiten ist denn auch das slawische durchaus einwandfrei, zart und sinnig. Dieses Zeugnis für die ursprüngliche Art des russischen Bauern wird auch durch grausige Bilder, wie sie etwa Tolstoi und Gorki entwerfen, nicht entkräftet. Denn wo das Niedrige und Gräßliche auftritt, hängt es mit der ungeschlachten Natur des Halbbarbaren zusammen. Laszivität und Gemeinheit, wie sie die führenden Kreise vielfach beherrschen, sind fremdes Gewächs, vorzugsweise französischen Ursprungs. Doch finden auch die als typisch angesehenen Natiouallaster ihren unbefangnen Widerhall in der Sprache. Der Schnaps wird zärtlich als „Wässerchen" (vvöÄKg.)*) angeredet, wasoliönnil: ist auch in seiner schlimmen Bedeutung fast das dritte Wort jedes vertraulichen Gesprächs, und der oft grausame Sitten- schilderer Puschkin legt einer seiner Personen im „Anjügin" die Ehrennamen „Vielfraß, Schmumacher und alter Schuft" in einer so harmlos gemeinten >VüäKi oder wie man bei uns zu sagen pflegt: pulli ist Genitiv!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/208>, abgerufen am 27.12.2024.