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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

übermäßigen Agitation einen Riegel vorzuschieben, als auch die Auflösung und die
Neuwahl des Reichstags herbeizuführen, sehr erleichtert. Mit Recht hebt der mehr¬
fach genannte Verfasser hervor, daß es sich bei dieser Sicherung des Wahlrechts
um eine absolut demokratische Maßregel handele, die eigentlich selbstverständlich sei,
und bei der man nur bedauern könne, daß sie nicht zugleich mit dem Wahl¬
rechte selbst Gesetzeskraft erlangt habe. Das wird freilich die Sozialdemokratie und
den Teil der Liberalen, der ihr noch immer als Schrittmacher und Vorfrucht
dient, nicht abhalten, "Reaktion" zu schreien. Aber das ist doch nachgerade ein
so verbrauchtes Mittel, daß es ernste Politiker nicht mehr einschüchtern kann. Wer
ein großes Volk regieren will, darf nicht das Behagen der Gegenwart, sondern
muß die ernsten Anforderungen der Zukunft im Auge haben und die Verantwort¬
lichkeit, die dem heutigen Geschlecht gegen diese Zukunft erwächst. Denn viele von
den Fehlern, die wir heute machen, werden sich erst in einer spätern Zeit rächen.
Das lehrt uns unsre eigne Geschichte auf allen Blättern.

Die bezeichnenderweise zuerst aus Petersburg gekommne Nachricht, daß der
Besuch des englischen Geschwaders in den russischen Ostseehäfen bis zum nächsten Jahr
verschoben worden sei, ist den Lesern der Grenzboten nicht überraschend gekommen.
Es darf auf Seite 619 des Heftes vom 16. Juni verwiesen werden, wo dieser
Ausgang schon angekündigt worden ist. Die englische Regierung dürfte schon damals
sicher gewußt haben, daß dem Zaren dieser Flottenbesuch, zumal in Kronstäbe, nicht
nur unerwünscht, sondern daß er unter den obwaltenden Verhältnissen unmöglich
sei. Um so weniger ist begreiflich, daß die britische Regierung, wenigstens äußerlich,
noch vier Wochen lang an dem Projekt scheinbar festgehalten hat. Auch von einem
Besuch des Königs Eduard in Petersburg, der im Frühjahr von englischen und
französischen Blättern ziemlich laut angekündigt wurde, ist es auffallend still ge¬
worden, er ist ebensowenig möglich wie der der englischen Flotte. Dagegen scheint
ein Zusammentreffen des Königs mit unserm Kaiser nunmehr verabredet zu sein,
wenn auch nicht im Schloß "Friedrichskron", wie es irrtümlich in den Zeitungen
heißt, sondern in Schloß "Friedrichshof" bei Homburg. Ob die daran geknüpfte
Behauptung richtig ist, man sehe daraus, daß der König an dem Tauffest in Potsdam,
entgegen der Ankündigung der Wiener Neuen Freien Presse, nicht teilnehmen werde,
bleibt abzuwarten. Zunächst ist öffentlich noch gar nicht bekannt, ob und welche
Taufeinladungen überhaupt erlassen worden sind oder werden sollen. Im übrigen
kann nicht genug vor einer Überschätzung aller solcher Vorgänge gewarnt werden,
gleichviel in welcher Richtung sie sich bewegen mögen. Ein Zusammentreffen der
beiden Monarchen und ein Besuch des Königs am Berliner Hofe, den er immer
noch schuldig ist, würde gewiß den Rest von persönlicher Spannung beseitigen, die
in den letzten Jahren entstanden war, würde aber weder die Interessen der beiden
Länder verändern noch die Tatsache beseitigen, mit der wir als einer dauernd fest¬
stehenden rechnen müssen, daß das heutige Verhältnis Englands zu Frankreich bei König
Eduards Lebzeiten erhalten bleiben wird. Das braucht nicht so verstanden zu werden,
daß -- Wie der französische General Bonnal jüngst äußerte --- "die französische
Armee das Kriegssignal von England zu erwarten hat", das schon dafür sorgen
werde, daß Frankreich die angegriffne Macht zu sein scheine. Es kann im Gegenteil
auch angenommen werden, daß England einen französischen Angriff auf Deutschland
ebensowenig zulassen wird, wie Nußland ihn zugelassen hat. Rußland hat uns sogar
eine Rückversicherung zu geben vermocht, was eine für Deutschland freundlich gesinnte
englische Politik ebenfalls zu tun imstande wäre. Die früher berechtigt gewesene Auf¬
fassung, daß ein britisches Kabinett durch die Abmachungen seiner Vorgänger nicht
gebunden sei, trifft angesichts des englisch-japanischen Bündnisses und der englisch-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

übermäßigen Agitation einen Riegel vorzuschieben, als auch die Auflösung und die
Neuwahl des Reichstags herbeizuführen, sehr erleichtert. Mit Recht hebt der mehr¬
fach genannte Verfasser hervor, daß es sich bei dieser Sicherung des Wahlrechts
um eine absolut demokratische Maßregel handele, die eigentlich selbstverständlich sei,
und bei der man nur bedauern könne, daß sie nicht zugleich mit dem Wahl¬
rechte selbst Gesetzeskraft erlangt habe. Das wird freilich die Sozialdemokratie und
den Teil der Liberalen, der ihr noch immer als Schrittmacher und Vorfrucht
dient, nicht abhalten, „Reaktion" zu schreien. Aber das ist doch nachgerade ein
so verbrauchtes Mittel, daß es ernste Politiker nicht mehr einschüchtern kann. Wer
ein großes Volk regieren will, darf nicht das Behagen der Gegenwart, sondern
muß die ernsten Anforderungen der Zukunft im Auge haben und die Verantwort¬
lichkeit, die dem heutigen Geschlecht gegen diese Zukunft erwächst. Denn viele von
den Fehlern, die wir heute machen, werden sich erst in einer spätern Zeit rächen.
Das lehrt uns unsre eigne Geschichte auf allen Blättern.

Die bezeichnenderweise zuerst aus Petersburg gekommne Nachricht, daß der
Besuch des englischen Geschwaders in den russischen Ostseehäfen bis zum nächsten Jahr
verschoben worden sei, ist den Lesern der Grenzboten nicht überraschend gekommen.
Es darf auf Seite 619 des Heftes vom 16. Juni verwiesen werden, wo dieser
Ausgang schon angekündigt worden ist. Die englische Regierung dürfte schon damals
sicher gewußt haben, daß dem Zaren dieser Flottenbesuch, zumal in Kronstäbe, nicht
nur unerwünscht, sondern daß er unter den obwaltenden Verhältnissen unmöglich
sei. Um so weniger ist begreiflich, daß die britische Regierung, wenigstens äußerlich,
noch vier Wochen lang an dem Projekt scheinbar festgehalten hat. Auch von einem
Besuch des Königs Eduard in Petersburg, der im Frühjahr von englischen und
französischen Blättern ziemlich laut angekündigt wurde, ist es auffallend still ge¬
worden, er ist ebensowenig möglich wie der der englischen Flotte. Dagegen scheint
ein Zusammentreffen des Königs mit unserm Kaiser nunmehr verabredet zu sein,
wenn auch nicht im Schloß „Friedrichskron", wie es irrtümlich in den Zeitungen
heißt, sondern in Schloß „Friedrichshof" bei Homburg. Ob die daran geknüpfte
Behauptung richtig ist, man sehe daraus, daß der König an dem Tauffest in Potsdam,
entgegen der Ankündigung der Wiener Neuen Freien Presse, nicht teilnehmen werde,
bleibt abzuwarten. Zunächst ist öffentlich noch gar nicht bekannt, ob und welche
Taufeinladungen überhaupt erlassen worden sind oder werden sollen. Im übrigen
kann nicht genug vor einer Überschätzung aller solcher Vorgänge gewarnt werden,
gleichviel in welcher Richtung sie sich bewegen mögen. Ein Zusammentreffen der
beiden Monarchen und ein Besuch des Königs am Berliner Hofe, den er immer
noch schuldig ist, würde gewiß den Rest von persönlicher Spannung beseitigen, die
in den letzten Jahren entstanden war, würde aber weder die Interessen der beiden
Länder verändern noch die Tatsache beseitigen, mit der wir als einer dauernd fest¬
stehenden rechnen müssen, daß das heutige Verhältnis Englands zu Frankreich bei König
Eduards Lebzeiten erhalten bleiben wird. Das braucht nicht so verstanden zu werden,
daß — Wie der französische General Bonnal jüngst äußerte -— „die französische
Armee das Kriegssignal von England zu erwarten hat", das schon dafür sorgen
werde, daß Frankreich die angegriffne Macht zu sein scheine. Es kann im Gegenteil
auch angenommen werden, daß England einen französischen Angriff auf Deutschland
ebensowenig zulassen wird, wie Nußland ihn zugelassen hat. Rußland hat uns sogar
eine Rückversicherung zu geben vermocht, was eine für Deutschland freundlich gesinnte
englische Politik ebenfalls zu tun imstande wäre. Die früher berechtigt gewesene Auf¬
fassung, daß ein britisches Kabinett durch die Abmachungen seiner Vorgänger nicht
gebunden sei, trifft angesichts des englisch-japanischen Bündnisses und der englisch-


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[0176] Maßgebliches und Unmaßgebliches übermäßigen Agitation einen Riegel vorzuschieben, als auch die Auflösung und die Neuwahl des Reichstags herbeizuführen, sehr erleichtert. Mit Recht hebt der mehr¬ fach genannte Verfasser hervor, daß es sich bei dieser Sicherung des Wahlrechts um eine absolut demokratische Maßregel handele, die eigentlich selbstverständlich sei, und bei der man nur bedauern könne, daß sie nicht zugleich mit dem Wahl¬ rechte selbst Gesetzeskraft erlangt habe. Das wird freilich die Sozialdemokratie und den Teil der Liberalen, der ihr noch immer als Schrittmacher und Vorfrucht dient, nicht abhalten, „Reaktion" zu schreien. Aber das ist doch nachgerade ein so verbrauchtes Mittel, daß es ernste Politiker nicht mehr einschüchtern kann. Wer ein großes Volk regieren will, darf nicht das Behagen der Gegenwart, sondern muß die ernsten Anforderungen der Zukunft im Auge haben und die Verantwort¬ lichkeit, die dem heutigen Geschlecht gegen diese Zukunft erwächst. Denn viele von den Fehlern, die wir heute machen, werden sich erst in einer spätern Zeit rächen. Das lehrt uns unsre eigne Geschichte auf allen Blättern. Die bezeichnenderweise zuerst aus Petersburg gekommne Nachricht, daß der Besuch des englischen Geschwaders in den russischen Ostseehäfen bis zum nächsten Jahr verschoben worden sei, ist den Lesern der Grenzboten nicht überraschend gekommen. Es darf auf Seite 619 des Heftes vom 16. Juni verwiesen werden, wo dieser Ausgang schon angekündigt worden ist. Die englische Regierung dürfte schon damals sicher gewußt haben, daß dem Zaren dieser Flottenbesuch, zumal in Kronstäbe, nicht nur unerwünscht, sondern daß er unter den obwaltenden Verhältnissen unmöglich sei. Um so weniger ist begreiflich, daß die britische Regierung, wenigstens äußerlich, noch vier Wochen lang an dem Projekt scheinbar festgehalten hat. Auch von einem Besuch des Königs Eduard in Petersburg, der im Frühjahr von englischen und französischen Blättern ziemlich laut angekündigt wurde, ist es auffallend still ge¬ worden, er ist ebensowenig möglich wie der der englischen Flotte. Dagegen scheint ein Zusammentreffen des Königs mit unserm Kaiser nunmehr verabredet zu sein, wenn auch nicht im Schloß „Friedrichskron", wie es irrtümlich in den Zeitungen heißt, sondern in Schloß „Friedrichshof" bei Homburg. Ob die daran geknüpfte Behauptung richtig ist, man sehe daraus, daß der König an dem Tauffest in Potsdam, entgegen der Ankündigung der Wiener Neuen Freien Presse, nicht teilnehmen werde, bleibt abzuwarten. Zunächst ist öffentlich noch gar nicht bekannt, ob und welche Taufeinladungen überhaupt erlassen worden sind oder werden sollen. Im übrigen kann nicht genug vor einer Überschätzung aller solcher Vorgänge gewarnt werden, gleichviel in welcher Richtung sie sich bewegen mögen. Ein Zusammentreffen der beiden Monarchen und ein Besuch des Königs am Berliner Hofe, den er immer noch schuldig ist, würde gewiß den Rest von persönlicher Spannung beseitigen, die in den letzten Jahren entstanden war, würde aber weder die Interessen der beiden Länder verändern noch die Tatsache beseitigen, mit der wir als einer dauernd fest¬ stehenden rechnen müssen, daß das heutige Verhältnis Englands zu Frankreich bei König Eduards Lebzeiten erhalten bleiben wird. Das braucht nicht so verstanden zu werden, daß — Wie der französische General Bonnal jüngst äußerte -— „die französische Armee das Kriegssignal von England zu erwarten hat", das schon dafür sorgen werde, daß Frankreich die angegriffne Macht zu sein scheine. Es kann im Gegenteil auch angenommen werden, daß England einen französischen Angriff auf Deutschland ebensowenig zulassen wird, wie Nußland ihn zugelassen hat. Rußland hat uns sogar eine Rückversicherung zu geben vermocht, was eine für Deutschland freundlich gesinnte englische Politik ebenfalls zu tun imstande wäre. Die früher berechtigt gewesene Auf¬ fassung, daß ein britisches Kabinett durch die Abmachungen seiner Vorgänger nicht gebunden sei, trifft angesichts des englisch-japanischen Bündnisses und der englisch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/176>, abgerufen am 27.12.2024.