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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Über den Brenner

nationale Grenze bestanden hat, ist ebenso eine Narrheit wie die Torheit allzu
eifriger Teutonen, den Italienern Tirols nicht die Gleichberechtigung in der
gemeinsamen Landeshauptstadt gönnen zu wollen. Entscheiden kann in diesem
traurigen Kampfe um die oder jene Scholle dieses Landes zwischen zwei eben¬
bürtigen großen Kulturvölkern, den einzigen wirklichen Kulturvölkern Österreichs,
die durchaus aufeinander angewiesen sind, nur die Energie des nationalen Bewußt¬
seins und der Arbeit; im übrigen sollen sie gegeneinander Toleranz üben. Die
Jtalianissimi sollten begreifen, daß Südtirol für Österreich und Deutschland ein
Garten ist, für Italien nichts wäre als eine Alpe, daß also ihre eignen wirtschaft¬
lichen Interessen sie an Österreich binden, und die Deutschen sollten nicht ver¬
gessen, daß die Welschtiroler, die 44,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Tirols,
also fast die Hälfte ausmachen (1900: 368000 gegen 461000 Deutsche), obwohl
ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinter diesem Prozentsatz bedeutend zurück¬
bleibt, unmöglich als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden können,
und daß sie dasselbe Recht haben auf die Pflege ihrer nationalen Sprache und
Kultur wie die Deutschen. Weiter wollen auch die verständigen Italiener des
Königreichs nichts.

Soviel steht nun freilich fest: im Etschlande sind die Italiener seit langer
Zeit im Vordringen, weil sie anspruchsloser und wohl auch fleißiger sind als
die einheimischen Deutschen. Kaum ein deutscher Grundbesitzer südlich von Bozen,
der ohne italienische Arbeiter auskäme, und diese siedeln sich dann, wenn sie
genug erspart haben, gern auf deutschem Boden an. Als Goethe 1786 diese
Straße zog, fand er erst in Roveredo, daß "die Sprache sich abscheidet; oben
herein schwankt es noch immer vom Deutschen zum Italienischen". Vollends
Trient war noch am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts eine halbdeutsche
Stadt, eine 8<zntina Itslorum se Oöiuiaiioruiii und wurde ebendeshalb zum
Sitze des Konzils 1546 bis 1563 gewählt. Davon ist heute gar keine Rede
mehr; schon in Lavis, zwischen Se. Michael und Trient, sind alle Aufschriften
am Bahnhof italienisch, und Trient selbst, in jeder Beziehung der Mittelpunkt
des "Trentino", hat zwar auch heute noch deutsche Elemente, ist aber eine
wesentlich italienische Stadt und hat auch genau dieselbe politische Entwicklung
gehabt wie irgendeine andre oberitalienische Stadt. Daß die Bischöfe und die
Domherren wie der ganze Adel Welschtirols im Mittelalter deutschen Ursprungs
waren, hat hier dein deutschen Volkstum keinen festen Halt verschafft, denn die
Nationalität eines Landes hängt nicht von den herrschenden Schichten ab, sondern
von der Masse des Volks. Auch die Kunst stand hier ganz unter italienischem
Einfluß; der mächtige Dom von Trient erinnert in seiner romanischen Anlage
und mit den zierlichen Galerien von Rundbogen und Säulchen, die an seinen
Längsseiten hinlaufen, durchaus an lombardische Bauweise.

Kein Wunder, daß hier der italienische Einfluß herrscht, denn drei Straßen
führen von hier aus nach Italien, und alle drei hat der Handelsverkehr ein¬
geschlagen. Die östlichste geht durch die Val Sugana nach Feltre und über


Über den Brenner

nationale Grenze bestanden hat, ist ebenso eine Narrheit wie die Torheit allzu
eifriger Teutonen, den Italienern Tirols nicht die Gleichberechtigung in der
gemeinsamen Landeshauptstadt gönnen zu wollen. Entscheiden kann in diesem
traurigen Kampfe um die oder jene Scholle dieses Landes zwischen zwei eben¬
bürtigen großen Kulturvölkern, den einzigen wirklichen Kulturvölkern Österreichs,
die durchaus aufeinander angewiesen sind, nur die Energie des nationalen Bewußt¬
seins und der Arbeit; im übrigen sollen sie gegeneinander Toleranz üben. Die
Jtalianissimi sollten begreifen, daß Südtirol für Österreich und Deutschland ein
Garten ist, für Italien nichts wäre als eine Alpe, daß also ihre eignen wirtschaft¬
lichen Interessen sie an Österreich binden, und die Deutschen sollten nicht ver¬
gessen, daß die Welschtiroler, die 44,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Tirols,
also fast die Hälfte ausmachen (1900: 368000 gegen 461000 Deutsche), obwohl
ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinter diesem Prozentsatz bedeutend zurück¬
bleibt, unmöglich als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden können,
und daß sie dasselbe Recht haben auf die Pflege ihrer nationalen Sprache und
Kultur wie die Deutschen. Weiter wollen auch die verständigen Italiener des
Königreichs nichts.

Soviel steht nun freilich fest: im Etschlande sind die Italiener seit langer
Zeit im Vordringen, weil sie anspruchsloser und wohl auch fleißiger sind als
die einheimischen Deutschen. Kaum ein deutscher Grundbesitzer südlich von Bozen,
der ohne italienische Arbeiter auskäme, und diese siedeln sich dann, wenn sie
genug erspart haben, gern auf deutschem Boden an. Als Goethe 1786 diese
Straße zog, fand er erst in Roveredo, daß „die Sprache sich abscheidet; oben
herein schwankt es noch immer vom Deutschen zum Italienischen". Vollends
Trient war noch am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts eine halbdeutsche
Stadt, eine 8<zntina Itslorum se Oöiuiaiioruiii und wurde ebendeshalb zum
Sitze des Konzils 1546 bis 1563 gewählt. Davon ist heute gar keine Rede
mehr; schon in Lavis, zwischen Se. Michael und Trient, sind alle Aufschriften
am Bahnhof italienisch, und Trient selbst, in jeder Beziehung der Mittelpunkt
des „Trentino", hat zwar auch heute noch deutsche Elemente, ist aber eine
wesentlich italienische Stadt und hat auch genau dieselbe politische Entwicklung
gehabt wie irgendeine andre oberitalienische Stadt. Daß die Bischöfe und die
Domherren wie der ganze Adel Welschtirols im Mittelalter deutschen Ursprungs
waren, hat hier dein deutschen Volkstum keinen festen Halt verschafft, denn die
Nationalität eines Landes hängt nicht von den herrschenden Schichten ab, sondern
von der Masse des Volks. Auch die Kunst stand hier ganz unter italienischem
Einfluß; der mächtige Dom von Trient erinnert in seiner romanischen Anlage
und mit den zierlichen Galerien von Rundbogen und Säulchen, die an seinen
Längsseiten hinlaufen, durchaus an lombardische Bauweise.

Kein Wunder, daß hier der italienische Einfluß herrscht, denn drei Straßen
führen von hier aus nach Italien, und alle drei hat der Handelsverkehr ein¬
geschlagen. Die östlichste geht durch die Val Sugana nach Feltre und über


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[0152] Über den Brenner nationale Grenze bestanden hat, ist ebenso eine Narrheit wie die Torheit allzu eifriger Teutonen, den Italienern Tirols nicht die Gleichberechtigung in der gemeinsamen Landeshauptstadt gönnen zu wollen. Entscheiden kann in diesem traurigen Kampfe um die oder jene Scholle dieses Landes zwischen zwei eben¬ bürtigen großen Kulturvölkern, den einzigen wirklichen Kulturvölkern Österreichs, die durchaus aufeinander angewiesen sind, nur die Energie des nationalen Bewußt¬ seins und der Arbeit; im übrigen sollen sie gegeneinander Toleranz üben. Die Jtalianissimi sollten begreifen, daß Südtirol für Österreich und Deutschland ein Garten ist, für Italien nichts wäre als eine Alpe, daß also ihre eignen wirtschaft¬ lichen Interessen sie an Österreich binden, und die Deutschen sollten nicht ver¬ gessen, daß die Welschtiroler, die 44,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Tirols, also fast die Hälfte ausmachen (1900: 368000 gegen 461000 Deutsche), obwohl ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hinter diesem Prozentsatz bedeutend zurück¬ bleibt, unmöglich als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden können, und daß sie dasselbe Recht haben auf die Pflege ihrer nationalen Sprache und Kultur wie die Deutschen. Weiter wollen auch die verständigen Italiener des Königreichs nichts. Soviel steht nun freilich fest: im Etschlande sind die Italiener seit langer Zeit im Vordringen, weil sie anspruchsloser und wohl auch fleißiger sind als die einheimischen Deutschen. Kaum ein deutscher Grundbesitzer südlich von Bozen, der ohne italienische Arbeiter auskäme, und diese siedeln sich dann, wenn sie genug erspart haben, gern auf deutschem Boden an. Als Goethe 1786 diese Straße zog, fand er erst in Roveredo, daß „die Sprache sich abscheidet; oben herein schwankt es noch immer vom Deutschen zum Italienischen". Vollends Trient war noch am Anfange des sechzehnten Jahrhunderts eine halbdeutsche Stadt, eine 8<zntina Itslorum se Oöiuiaiioruiii und wurde ebendeshalb zum Sitze des Konzils 1546 bis 1563 gewählt. Davon ist heute gar keine Rede mehr; schon in Lavis, zwischen Se. Michael und Trient, sind alle Aufschriften am Bahnhof italienisch, und Trient selbst, in jeder Beziehung der Mittelpunkt des „Trentino", hat zwar auch heute noch deutsche Elemente, ist aber eine wesentlich italienische Stadt und hat auch genau dieselbe politische Entwicklung gehabt wie irgendeine andre oberitalienische Stadt. Daß die Bischöfe und die Domherren wie der ganze Adel Welschtirols im Mittelalter deutschen Ursprungs waren, hat hier dein deutschen Volkstum keinen festen Halt verschafft, denn die Nationalität eines Landes hängt nicht von den herrschenden Schichten ab, sondern von der Masse des Volks. Auch die Kunst stand hier ganz unter italienischem Einfluß; der mächtige Dom von Trient erinnert in seiner romanischen Anlage und mit den zierlichen Galerien von Rundbogen und Säulchen, die an seinen Längsseiten hinlaufen, durchaus an lombardische Bauweise. Kein Wunder, daß hier der italienische Einfluß herrscht, denn drei Straßen führen von hier aus nach Italien, und alle drei hat der Handelsverkehr ein¬ geschlagen. Die östlichste geht durch die Val Sugana nach Feltre und über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/152>, abgerufen am 23.07.2024.