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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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vom Zukunftsstaat

Prozedur in den Zukunftsstaat hinüberzuleiten. Am Anfange dieses neuen Zu¬
standes steht bekanntlich die Überführung der Produktionsmittel aus dem Privat¬
eigentum in das Eigentum der Gesellschaft. Auch Herr Jaures bezeichnet dieses
als die nächste Aufgabe, sagt also niemand etwas neues; die allgemeine Frage
aber ist immer gewesen, was nachher kommen wird, wie sich die Verhältnisse
unter der ausschließlich gesellschaftlichen Produktion entwickeln werden. Phan¬
tasien einzelner sozialistischer Schriftsteller darüber haben wir im Laufe der Jahre
genug gehört. Herr Jaures hat sich gehütet, diese um eine weitere Utopie zu
bereichern. Er hat sich -- wohl im Gefühle seiner parlamentarischen Verant¬
wortlichkeit -- sehr zurückhaltend geäußert und die Hauptsache in einem Schwall
nebelhafter Phrasen verschwinden lassen. Was er an sozialen Verbesserungen
mit deutlichen Umrissen zeichnet, dürfte für die inbrünstige Sehnsucht der Zu¬
kunftsstaatsgläubigen eher eine Enttäuschung als eine Aufmunterung sein, denn
man ersieht daraus, daß auch in dem neuen Zustande die vollkommne Gleichheit
des Genießens, dieser Gipfel der Träume des sozialdemokratischen Proletariats,
noch lange nicht erreicht sein wird. Aber so entspricht es der Evolutionstheorie,
so entspricht es vor allem der Absicht des Herrn Jaures, plausibel zu machen,
daß sogar eine nach den heutigen Begriffen bürgerlich-radikale Partei, wenn
die Vergesellschaftung der Produktionsmittel einmal vollzogen ist, recht wohl
in der Lage sei, die Ausgestaltung der neuen Gesellschaft in die Hand zu
nehmen. Der Schwerpunkt füllt also zunächst durchaus in die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel.

Für die Durchführung dieser Forderung sieht Jaures kein nennenswertes
Hindernis. Die Regierung würde dazu ja nicht einmal ein besondres Gesetz
brauchen. Man expropriiert einfach alle wirtschaftlichen Betriebe aus Gründen
des öffentlichen Wohls (pour van86 ä'nenn6 xuoliauö). In der Tat nichts
einfacher als dies! Also was zaudert die Regierung noch? Die Frage ist
nur, ob sich die Besitzer der Produktionsmittel die Depossedierung ruhig ge¬
fallen lassen werden. Vielleicht denkt Herr Jaures an eine stufenweise Be¬
seitigung des Privateigentums unter Anwendung des cliviäe et iinxera. Zuerst
enteignet man die Inhaber der Fabriken, dann die Großgrundbesitzer, dann
die Kleingewerbtreibenden, dann die Bauern. Aber warum sollten sich die
Besitzer der Produktionsmittel überhaupt sträuben? Herr Jaures will ja keine
Konfiskation des Privateigentums, sondern er will expropriieren nach Maßgabe
der bisherigen Gesetzgebung, d. h. unter voller Entschädigung. Gewiß, es gibt
eine Strömung in der Sozialdemokratie, die von Entschädigung nichts wissen
will; aber Koryphäen ersten Ranges haben sich für ihre Zulässigkeit aus¬
gesprochen, warum sollte man sich ihrer also nicht bedienen, wenn man auf
diese Weise der gewaltigsten Umwälzung des Menschheitsgeschichte einen fried¬
lichen Verlauf sichern könnte? Man hat Herrn Jaures darauf sofort erwidert,
daß ja dann in dem neuen Gesellschaftszustande sofort wieder eine Klasse der
Besitzenden einer solchen der Nichtbesitzenden gegenüberstehn, ja daß der Klassen-


vom Zukunftsstaat

Prozedur in den Zukunftsstaat hinüberzuleiten. Am Anfange dieses neuen Zu¬
standes steht bekanntlich die Überführung der Produktionsmittel aus dem Privat¬
eigentum in das Eigentum der Gesellschaft. Auch Herr Jaures bezeichnet dieses
als die nächste Aufgabe, sagt also niemand etwas neues; die allgemeine Frage
aber ist immer gewesen, was nachher kommen wird, wie sich die Verhältnisse
unter der ausschließlich gesellschaftlichen Produktion entwickeln werden. Phan¬
tasien einzelner sozialistischer Schriftsteller darüber haben wir im Laufe der Jahre
genug gehört. Herr Jaures hat sich gehütet, diese um eine weitere Utopie zu
bereichern. Er hat sich — wohl im Gefühle seiner parlamentarischen Verant¬
wortlichkeit — sehr zurückhaltend geäußert und die Hauptsache in einem Schwall
nebelhafter Phrasen verschwinden lassen. Was er an sozialen Verbesserungen
mit deutlichen Umrissen zeichnet, dürfte für die inbrünstige Sehnsucht der Zu¬
kunftsstaatsgläubigen eher eine Enttäuschung als eine Aufmunterung sein, denn
man ersieht daraus, daß auch in dem neuen Zustande die vollkommne Gleichheit
des Genießens, dieser Gipfel der Träume des sozialdemokratischen Proletariats,
noch lange nicht erreicht sein wird. Aber so entspricht es der Evolutionstheorie,
so entspricht es vor allem der Absicht des Herrn Jaures, plausibel zu machen,
daß sogar eine nach den heutigen Begriffen bürgerlich-radikale Partei, wenn
die Vergesellschaftung der Produktionsmittel einmal vollzogen ist, recht wohl
in der Lage sei, die Ausgestaltung der neuen Gesellschaft in die Hand zu
nehmen. Der Schwerpunkt füllt also zunächst durchaus in die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel.

Für die Durchführung dieser Forderung sieht Jaures kein nennenswertes
Hindernis. Die Regierung würde dazu ja nicht einmal ein besondres Gesetz
brauchen. Man expropriiert einfach alle wirtschaftlichen Betriebe aus Gründen
des öffentlichen Wohls (pour van86 ä'nenn6 xuoliauö). In der Tat nichts
einfacher als dies! Also was zaudert die Regierung noch? Die Frage ist
nur, ob sich die Besitzer der Produktionsmittel die Depossedierung ruhig ge¬
fallen lassen werden. Vielleicht denkt Herr Jaures an eine stufenweise Be¬
seitigung des Privateigentums unter Anwendung des cliviäe et iinxera. Zuerst
enteignet man die Inhaber der Fabriken, dann die Großgrundbesitzer, dann
die Kleingewerbtreibenden, dann die Bauern. Aber warum sollten sich die
Besitzer der Produktionsmittel überhaupt sträuben? Herr Jaures will ja keine
Konfiskation des Privateigentums, sondern er will expropriieren nach Maßgabe
der bisherigen Gesetzgebung, d. h. unter voller Entschädigung. Gewiß, es gibt
eine Strömung in der Sozialdemokratie, die von Entschädigung nichts wissen
will; aber Koryphäen ersten Ranges haben sich für ihre Zulässigkeit aus¬
gesprochen, warum sollte man sich ihrer also nicht bedienen, wenn man auf
diese Weise der gewaltigsten Umwälzung des Menschheitsgeschichte einen fried¬
lichen Verlauf sichern könnte? Man hat Herrn Jaures darauf sofort erwidert,
daß ja dann in dem neuen Gesellschaftszustande sofort wieder eine Klasse der
Besitzenden einer solchen der Nichtbesitzenden gegenüberstehn, ja daß der Klassen-


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[0131] vom Zukunftsstaat Prozedur in den Zukunftsstaat hinüberzuleiten. Am Anfange dieses neuen Zu¬ standes steht bekanntlich die Überführung der Produktionsmittel aus dem Privat¬ eigentum in das Eigentum der Gesellschaft. Auch Herr Jaures bezeichnet dieses als die nächste Aufgabe, sagt also niemand etwas neues; die allgemeine Frage aber ist immer gewesen, was nachher kommen wird, wie sich die Verhältnisse unter der ausschließlich gesellschaftlichen Produktion entwickeln werden. Phan¬ tasien einzelner sozialistischer Schriftsteller darüber haben wir im Laufe der Jahre genug gehört. Herr Jaures hat sich gehütet, diese um eine weitere Utopie zu bereichern. Er hat sich — wohl im Gefühle seiner parlamentarischen Verant¬ wortlichkeit — sehr zurückhaltend geäußert und die Hauptsache in einem Schwall nebelhafter Phrasen verschwinden lassen. Was er an sozialen Verbesserungen mit deutlichen Umrissen zeichnet, dürfte für die inbrünstige Sehnsucht der Zu¬ kunftsstaatsgläubigen eher eine Enttäuschung als eine Aufmunterung sein, denn man ersieht daraus, daß auch in dem neuen Zustande die vollkommne Gleichheit des Genießens, dieser Gipfel der Träume des sozialdemokratischen Proletariats, noch lange nicht erreicht sein wird. Aber so entspricht es der Evolutionstheorie, so entspricht es vor allem der Absicht des Herrn Jaures, plausibel zu machen, daß sogar eine nach den heutigen Begriffen bürgerlich-radikale Partei, wenn die Vergesellschaftung der Produktionsmittel einmal vollzogen ist, recht wohl in der Lage sei, die Ausgestaltung der neuen Gesellschaft in die Hand zu nehmen. Der Schwerpunkt füllt also zunächst durchaus in die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Für die Durchführung dieser Forderung sieht Jaures kein nennenswertes Hindernis. Die Regierung würde dazu ja nicht einmal ein besondres Gesetz brauchen. Man expropriiert einfach alle wirtschaftlichen Betriebe aus Gründen des öffentlichen Wohls (pour van86 ä'nenn6 xuoliauö). In der Tat nichts einfacher als dies! Also was zaudert die Regierung noch? Die Frage ist nur, ob sich die Besitzer der Produktionsmittel die Depossedierung ruhig ge¬ fallen lassen werden. Vielleicht denkt Herr Jaures an eine stufenweise Be¬ seitigung des Privateigentums unter Anwendung des cliviäe et iinxera. Zuerst enteignet man die Inhaber der Fabriken, dann die Großgrundbesitzer, dann die Kleingewerbtreibenden, dann die Bauern. Aber warum sollten sich die Besitzer der Produktionsmittel überhaupt sträuben? Herr Jaures will ja keine Konfiskation des Privateigentums, sondern er will expropriieren nach Maßgabe der bisherigen Gesetzgebung, d. h. unter voller Entschädigung. Gewiß, es gibt eine Strömung in der Sozialdemokratie, die von Entschädigung nichts wissen will; aber Koryphäen ersten Ranges haben sich für ihre Zulässigkeit aus¬ gesprochen, warum sollte man sich ihrer also nicht bedienen, wenn man auf diese Weise der gewaltigsten Umwälzung des Menschheitsgeschichte einen fried¬ lichen Verlauf sichern könnte? Man hat Herrn Jaures darauf sofort erwidert, daß ja dann in dem neuen Gesellschaftszustande sofort wieder eine Klasse der Besitzenden einer solchen der Nichtbesitzenden gegenüberstehn, ja daß der Klassen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/131>, abgerufen am 27.12.2024.