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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Anastasius Grün

und unsre Pflicht" zu veröffentlichen, in der er den österreichischen Reichs¬
standpunkt vertrat. Und als die Ungarn das Wahrzeichen des Kaisertums in
Ofen, den steinernen Adler, zertrümmert hatten, da rief er aus: "In dem
Moment, als dieser steinerne Kaiseraar fiel, welcher das Herzschild Ungarns
an der Brust trug -- in diesem Momente wurde mit dem kaiserlichen Adler
auch zugleich das ungarische Wappen zertrümmert. Ich möchte darin ein
Symbol und Omen sehen, ein Zeichen, daß in dem Moment, wo Österreich
fällt, auch Ungarn füllt, und zwar durch denselben Schlag." Wie der Staats¬
mann, so trat auch der Dichter für den Gedanken der Neichseinheit ein, indem
er dem vielsprachigen Völkergemisch seines Baterlandes bei Gelegenheit der
Bestattung Radetzkys zurief:

Seid einig. Daß sich keins in Hochmut überhebe!
Der Stärkste ist zu schwach, daß er vereinsamt lebe.
schlicht ordne sich und treu ins Ganze jeder Teil!
So blüht aus Demut selbst dem Kleinsten stolze Größe,
Wenn Kraft die Schwäche schirmt und Überfluß die Blöße,
Die Buntheit wird zum Schmuck, die Vielheit euch zum Heil!
Seid Eins in dein Beruf, dem unvergänglich schönen,
Die Freiheit mit dem Recht der Sitte zu versöhnen,
Der Zukunft Korn zu streun in kaum gepflügte Bahn!
Von Sternen seid ein Bund, das ganze Reich umspann' er!
Vielsarbgen Lichts ein Kern, ein einzig Sternenbanner!
Kein schönres glänzte dann selbst überm Ozean.

Im Jahre 1861 sprach der liberale Politiker mitten in dem feudalen
Kreise mit Gründlichkeit und schneidender Schärfe für die Auflösung des
alten Lehnsverbandes. "Was ist zu konservieren? führte er aus. Nicht
das alte, morsche Bauwerk, sondern das Leben, welches sich ringsum ange¬
siedelt hat. Es ist eine Aufgabe der erhebendsten Art, gewissermaßen der
Richter in eigner Sache zu sein und doch das Recht und Interesse der Gesamt¬
heit mit Hingebung und politischem Seherblick zu wahren. Die neue Zeit
pocht an unsre Pforte, und dieses Gesetz ist die Anfrage, ob wir auf dem
feudalen Boden verharren, oder ob wir auf dem Boden der Neuzeit mitbauen
wollen."

Was der Staatsmann Graf Auersperg sprach, das vertrat der Dichter
Anastasius Grün, und umgekehrt hat auch der Staatsmann dem Dichter nie
im Wege gestanden. Das schließt natürlich nicht aus, daß der Staatsmann
in der realen Welt, die ihn umgab, zugriff und sich auch sozusagen Abschlags¬
zahlungen gefallen ließ, andrerseits aber auch uicht, daß der Dichter in seiner
erträumten Welt den fernsten und idealsten Zielen nachtrachtete. In der Ge¬
sinnung waren sich der Staatsmann und der Dichter immer einig; der eine
ist vom andern nicht zu trennen. Ein paar Beispiele mögen dieses Ver¬
hältnis beleuchten. Wie der Politiker Graf Auersperg den alten feudalen
Lehnsverband bekämpfte, so sang der Dichter Anastasius Grün an: Schlüsse
des Gedichts "Zinsvögel":


Anastasius Grün

und unsre Pflicht" zu veröffentlichen, in der er den österreichischen Reichs¬
standpunkt vertrat. Und als die Ungarn das Wahrzeichen des Kaisertums in
Ofen, den steinernen Adler, zertrümmert hatten, da rief er aus: „In dem
Moment, als dieser steinerne Kaiseraar fiel, welcher das Herzschild Ungarns
an der Brust trug — in diesem Momente wurde mit dem kaiserlichen Adler
auch zugleich das ungarische Wappen zertrümmert. Ich möchte darin ein
Symbol und Omen sehen, ein Zeichen, daß in dem Moment, wo Österreich
fällt, auch Ungarn füllt, und zwar durch denselben Schlag." Wie der Staats¬
mann, so trat auch der Dichter für den Gedanken der Neichseinheit ein, indem
er dem vielsprachigen Völkergemisch seines Baterlandes bei Gelegenheit der
Bestattung Radetzkys zurief:

Seid einig. Daß sich keins in Hochmut überhebe!
Der Stärkste ist zu schwach, daß er vereinsamt lebe.
schlicht ordne sich und treu ins Ganze jeder Teil!
So blüht aus Demut selbst dem Kleinsten stolze Größe,
Wenn Kraft die Schwäche schirmt und Überfluß die Blöße,
Die Buntheit wird zum Schmuck, die Vielheit euch zum Heil!
Seid Eins in dein Beruf, dem unvergänglich schönen,
Die Freiheit mit dem Recht der Sitte zu versöhnen,
Der Zukunft Korn zu streun in kaum gepflügte Bahn!
Von Sternen seid ein Bund, das ganze Reich umspann' er!
Vielsarbgen Lichts ein Kern, ein einzig Sternenbanner!
Kein schönres glänzte dann selbst überm Ozean.

Im Jahre 1861 sprach der liberale Politiker mitten in dem feudalen
Kreise mit Gründlichkeit und schneidender Schärfe für die Auflösung des
alten Lehnsverbandes. „Was ist zu konservieren? führte er aus. Nicht
das alte, morsche Bauwerk, sondern das Leben, welches sich ringsum ange¬
siedelt hat. Es ist eine Aufgabe der erhebendsten Art, gewissermaßen der
Richter in eigner Sache zu sein und doch das Recht und Interesse der Gesamt¬
heit mit Hingebung und politischem Seherblick zu wahren. Die neue Zeit
pocht an unsre Pforte, und dieses Gesetz ist die Anfrage, ob wir auf dem
feudalen Boden verharren, oder ob wir auf dem Boden der Neuzeit mitbauen
wollen."

Was der Staatsmann Graf Auersperg sprach, das vertrat der Dichter
Anastasius Grün, und umgekehrt hat auch der Staatsmann dem Dichter nie
im Wege gestanden. Das schließt natürlich nicht aus, daß der Staatsmann
in der realen Welt, die ihn umgab, zugriff und sich auch sozusagen Abschlags¬
zahlungen gefallen ließ, andrerseits aber auch uicht, daß der Dichter in seiner
erträumten Welt den fernsten und idealsten Zielen nachtrachtete. In der Ge¬
sinnung waren sich der Staatsmann und der Dichter immer einig; der eine
ist vom andern nicht zu trennen. Ein paar Beispiele mögen dieses Ver¬
hältnis beleuchten. Wie der Politiker Graf Auersperg den alten feudalen
Lehnsverband bekämpfte, so sang der Dichter Anastasius Grün an: Schlüsse
des Gedichts „Zinsvögel":


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/90>, abgerufen am 27.12.2024.