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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Zwei kulturgeschichtliche Werke

ein Prahler bug'g.108 (eigentlich einer, der sich ochsig freut), Heißhunger vuliinia
genannt. Wenn einer aus wichtigen Gründen schwieg, sagte er: ein Ochs steht
auf meiner Zunge, und in der Redensart: ich füttere mich mit Hoffnungen,
wird für füttern /?ovxo^e5a^"t, Rinder weiden, gebraucht. Der dos arator,
der Pflugstier wird zum Führer gewählt, wenn ein Häuflein Kolonisten aus
der Vaterstadt fort in die Ferne zieht; auch die ochsenäugigen Göttinnen
Homers beweisen, in welcher Hochschätzung das Rind stand, und eine vielum-
worbne Jungfrau ist g-lpnesidvios, das heißt, sie trägt ihren Eltern viele Rinder
ein, wie heute noch bei den Hottentotten, die, nebenbei bemerkt, darin nichts
weniger als Barbaren sind; oder bezeugt es etwa Hochschätzung des Weibes,
wenn bei uns der Vater, anstatt vom Bräutigam einen Kaufpreis zu bekommen,
noch so und so viel tausend Mark drauf zahlen muß, damit er sie los wird?
All das also beweist, wie innig die Arier mit dem Ackerbau verwachsen waren;
arars stammt von der Sanskritwurzel ar, und wenn einzelne arische Stämme
als Eroberer es verschmähten, selbst den Pflug anzugreifen, und die Unter¬
jochten, die für sie arbeiten mußten, verachteten, so ist das eine vorübergehende
Wirkung des Wärter- und Heldenlebens gewesen.

In der Schilderung der Roheit und Unmenschlichkeit alter Zeiten ist
sich der Verfasser über das Verhältnis dieser Erscheinungen zur modernen
Humanität und zum Christentum nicht völlig klar geworden. Daß die Männer
in alten Zeiten sehr oft auf keine andre Weise als durch Raub bei benach¬
barten Stämmen zu Frauen kommen konnten, erkennt er an. Aber wenn er
dann von neronischen Zirkusspielen, Kinderaussetzungen und Tötung der Alten
spricht als Beweisen dafür, daß die vorchristlichen Völker keine Humanität ge¬
kannt haben, so vermischt er Dinge, die auseinandergehalten werden müssen. Die
römischen Zirkusgreuel sind Erzeugnisse einer verderbten Zeit, einer Zeit, in der
unaufhörliche auswärtige und Bürgerkriege die Empfindung abgestumpft hatten, -
und in der nicht bloß der Cäsar, sondern auch der Stadtpöbel durch die un¬
umschränkte Gewalt über unterjochte Völker und über Sklavenheere dem Cäsaren¬
wahnsinn verfallen war, der sich gegenwärtig wieder als Tropenkoller in den
Kolonien regt, soweit ihn nicht strenge Aufsicht daniederhält. Dagegen ist es
nicht die Wollust der Grausamkeit, sondern Not gewesen, was in alten Zeiten,
und in manchen Ländern heute noch, die Kinderaussetzung allgemein und die
Tötung der Greise häufig gemacht hat. Von den Frauen darf man annehmen,
daß sie der Kinderaussetzung widerstrebt haben, denn je weniger zivilisiert sie
sind, desto näher stehn sie der Natur, und desto stärker sind in ihnen die natür¬
lichen Instinkte. Die tierische Mutterliebe, die das Muttertier zur Selbstauf¬
opferung für die Jungen treibt, ist noch keine Tugend im Sinne der wissen¬
schaftlichen Ethik, aber als Wurzel der erhabensten Tugenden der edelste aller
animalischen Triebe. Und alle Kenner der Naturvölker bezeugen, daß er bei
diesen noch ungeschwächt waltet. Also von den Müttern ist die Maßregel
sicherlich nicht ausgegangen, aber die Männer würden sie auf Grund ver¬
stündiger Erwägung auch dann oft ergriffen haben, wenn sie nicht, was aller¬
dings meist der Fall gewesen sein mag, schon ihrer Bequemlichkeit die kleinen
Wesen gleichgiltig und hartherzig geopfert hätten. Für Stämme, die in Wüsten


Zwei kulturgeschichtliche Werke

ein Prahler bug'g.108 (eigentlich einer, der sich ochsig freut), Heißhunger vuliinia
genannt. Wenn einer aus wichtigen Gründen schwieg, sagte er: ein Ochs steht
auf meiner Zunge, und in der Redensart: ich füttere mich mit Hoffnungen,
wird für füttern /?ovxo^e5a^«t, Rinder weiden, gebraucht. Der dos arator,
der Pflugstier wird zum Führer gewählt, wenn ein Häuflein Kolonisten aus
der Vaterstadt fort in die Ferne zieht; auch die ochsenäugigen Göttinnen
Homers beweisen, in welcher Hochschätzung das Rind stand, und eine vielum-
worbne Jungfrau ist g-lpnesidvios, das heißt, sie trägt ihren Eltern viele Rinder
ein, wie heute noch bei den Hottentotten, die, nebenbei bemerkt, darin nichts
weniger als Barbaren sind; oder bezeugt es etwa Hochschätzung des Weibes,
wenn bei uns der Vater, anstatt vom Bräutigam einen Kaufpreis zu bekommen,
noch so und so viel tausend Mark drauf zahlen muß, damit er sie los wird?
All das also beweist, wie innig die Arier mit dem Ackerbau verwachsen waren;
arars stammt von der Sanskritwurzel ar, und wenn einzelne arische Stämme
als Eroberer es verschmähten, selbst den Pflug anzugreifen, und die Unter¬
jochten, die für sie arbeiten mußten, verachteten, so ist das eine vorübergehende
Wirkung des Wärter- und Heldenlebens gewesen.

In der Schilderung der Roheit und Unmenschlichkeit alter Zeiten ist
sich der Verfasser über das Verhältnis dieser Erscheinungen zur modernen
Humanität und zum Christentum nicht völlig klar geworden. Daß die Männer
in alten Zeiten sehr oft auf keine andre Weise als durch Raub bei benach¬
barten Stämmen zu Frauen kommen konnten, erkennt er an. Aber wenn er
dann von neronischen Zirkusspielen, Kinderaussetzungen und Tötung der Alten
spricht als Beweisen dafür, daß die vorchristlichen Völker keine Humanität ge¬
kannt haben, so vermischt er Dinge, die auseinandergehalten werden müssen. Die
römischen Zirkusgreuel sind Erzeugnisse einer verderbten Zeit, einer Zeit, in der
unaufhörliche auswärtige und Bürgerkriege die Empfindung abgestumpft hatten, -
und in der nicht bloß der Cäsar, sondern auch der Stadtpöbel durch die un¬
umschränkte Gewalt über unterjochte Völker und über Sklavenheere dem Cäsaren¬
wahnsinn verfallen war, der sich gegenwärtig wieder als Tropenkoller in den
Kolonien regt, soweit ihn nicht strenge Aufsicht daniederhält. Dagegen ist es
nicht die Wollust der Grausamkeit, sondern Not gewesen, was in alten Zeiten,
und in manchen Ländern heute noch, die Kinderaussetzung allgemein und die
Tötung der Greise häufig gemacht hat. Von den Frauen darf man annehmen,
daß sie der Kinderaussetzung widerstrebt haben, denn je weniger zivilisiert sie
sind, desto näher stehn sie der Natur, und desto stärker sind in ihnen die natür¬
lichen Instinkte. Die tierische Mutterliebe, die das Muttertier zur Selbstauf¬
opferung für die Jungen treibt, ist noch keine Tugend im Sinne der wissen¬
schaftlichen Ethik, aber als Wurzel der erhabensten Tugenden der edelste aller
animalischen Triebe. Und alle Kenner der Naturvölker bezeugen, daß er bei
diesen noch ungeschwächt waltet. Also von den Müttern ist die Maßregel
sicherlich nicht ausgegangen, aber die Männer würden sie auf Grund ver¬
stündiger Erwägung auch dann oft ergriffen haben, wenn sie nicht, was aller¬
dings meist der Fall gewesen sein mag, schon ihrer Bequemlichkeit die kleinen
Wesen gleichgiltig und hartherzig geopfert hätten. Für Stämme, die in Wüsten


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[0704] Zwei kulturgeschichtliche Werke ein Prahler bug'g.108 (eigentlich einer, der sich ochsig freut), Heißhunger vuliinia genannt. Wenn einer aus wichtigen Gründen schwieg, sagte er: ein Ochs steht auf meiner Zunge, und in der Redensart: ich füttere mich mit Hoffnungen, wird für füttern /?ovxo^e5a^«t, Rinder weiden, gebraucht. Der dos arator, der Pflugstier wird zum Führer gewählt, wenn ein Häuflein Kolonisten aus der Vaterstadt fort in die Ferne zieht; auch die ochsenäugigen Göttinnen Homers beweisen, in welcher Hochschätzung das Rind stand, und eine vielum- worbne Jungfrau ist g-lpnesidvios, das heißt, sie trägt ihren Eltern viele Rinder ein, wie heute noch bei den Hottentotten, die, nebenbei bemerkt, darin nichts weniger als Barbaren sind; oder bezeugt es etwa Hochschätzung des Weibes, wenn bei uns der Vater, anstatt vom Bräutigam einen Kaufpreis zu bekommen, noch so und so viel tausend Mark drauf zahlen muß, damit er sie los wird? All das also beweist, wie innig die Arier mit dem Ackerbau verwachsen waren; arars stammt von der Sanskritwurzel ar, und wenn einzelne arische Stämme als Eroberer es verschmähten, selbst den Pflug anzugreifen, und die Unter¬ jochten, die für sie arbeiten mußten, verachteten, so ist das eine vorübergehende Wirkung des Wärter- und Heldenlebens gewesen. In der Schilderung der Roheit und Unmenschlichkeit alter Zeiten ist sich der Verfasser über das Verhältnis dieser Erscheinungen zur modernen Humanität und zum Christentum nicht völlig klar geworden. Daß die Männer in alten Zeiten sehr oft auf keine andre Weise als durch Raub bei benach¬ barten Stämmen zu Frauen kommen konnten, erkennt er an. Aber wenn er dann von neronischen Zirkusspielen, Kinderaussetzungen und Tötung der Alten spricht als Beweisen dafür, daß die vorchristlichen Völker keine Humanität ge¬ kannt haben, so vermischt er Dinge, die auseinandergehalten werden müssen. Die römischen Zirkusgreuel sind Erzeugnisse einer verderbten Zeit, einer Zeit, in der unaufhörliche auswärtige und Bürgerkriege die Empfindung abgestumpft hatten, - und in der nicht bloß der Cäsar, sondern auch der Stadtpöbel durch die un¬ umschränkte Gewalt über unterjochte Völker und über Sklavenheere dem Cäsaren¬ wahnsinn verfallen war, der sich gegenwärtig wieder als Tropenkoller in den Kolonien regt, soweit ihn nicht strenge Aufsicht daniederhält. Dagegen ist es nicht die Wollust der Grausamkeit, sondern Not gewesen, was in alten Zeiten, und in manchen Ländern heute noch, die Kinderaussetzung allgemein und die Tötung der Greise häufig gemacht hat. Von den Frauen darf man annehmen, daß sie der Kinderaussetzung widerstrebt haben, denn je weniger zivilisiert sie sind, desto näher stehn sie der Natur, und desto stärker sind in ihnen die natür¬ lichen Instinkte. Die tierische Mutterliebe, die das Muttertier zur Selbstauf¬ opferung für die Jungen treibt, ist noch keine Tugend im Sinne der wissen¬ schaftlichen Ethik, aber als Wurzel der erhabensten Tugenden der edelste aller animalischen Triebe. Und alle Kenner der Naturvölker bezeugen, daß er bei diesen noch ungeschwächt waltet. Also von den Müttern ist die Maßregel sicherlich nicht ausgegangen, aber die Männer würden sie auf Grund ver¬ stündiger Erwägung auch dann oft ergriffen haben, wenn sie nicht, was aller¬ dings meist der Fall gewesen sein mag, schon ihrer Bequemlichkeit die kleinen Wesen gleichgiltig und hartherzig geopfert hätten. Für Stämme, die in Wüsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/704>, abgerufen am 29.12.2024.