Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Der gerichtliche Zwangsvergleich außerhalb des Konkurses den Kreisen des Kleinhandels die unumstößliche Überzeugung, daß man auch Der gerichtliche Zwangsvergleich außerhalb des Konkurses den Kreisen des Kleinhandels die unumstößliche Überzeugung, daß man auch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0698" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299739"/> <fw type="header" place="top"> Der gerichtliche Zwangsvergleich außerhalb des Konkurses</fw><lb/> <p xml:id="ID_3094" prev="#ID_3093" next="#ID_3095"> den Kreisen des Kleinhandels die unumstößliche Überzeugung, daß man auch<lb/> ohne körperliche und geistige Arbeit einen Anspruch auf wirtschaftliche Selb¬<lb/> ständigkeit habe. Das ergibt sich, wenn man die Umstände betrachtet, unter<lb/> denen sich der Kleinhändler wirtschaftlich selbständig macht: Ein Mann im<lb/> Alter von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, der nach Abschluß einer bessern<lb/> oder geringern Schulbildung vier oder fünf Jahre ein kaufmännisches Geschäft<lb/> erlernt und ebensolange Handlungsgehilfe gewesen ist und über ein Kapital<lb/> von etwa zehntausend Mark verfügt, mietet an irgendeiner Straßenecke einen<lb/> Laden und beginnt nun selbständig ein kaufmännisches Geschäft. Seine Arbeit<lb/> in der kaufmännischen Selbständigkeit stellt er sich folgendermaßen vor: Waren<lb/> bei den Großhändlern und Fabrikanten bestellen, die erhaltnen Waren aus¬<lb/> packen, sie in kleinern Mengen an die Konsumenten verkaufen und sie diesen<lb/> zuwagen, verpacken, abfüllen, das Geld hierfür in Empfang nehmen, neue Be¬<lb/> stellungen machen, wenn die vorhandnen Waren ausverkauft sind, dazu Handels¬<lb/> bücher führen und einige Agenturen von Versicherungsgesellschaften und ähnlichen<lb/> Unternehmungen. Von dieser „Arbeit" will der Kolonial- und Materialwaren-,<lb/> der Tuch-, Mode- und Manufakturwaren-, der Kurzwaren-, der Papier-, Tabak-,<lb/> Wein- und spirituösen-, Schuhwaren-, Kohlen-, Glaswaren- oder Getreidehändler<lb/> sein und seiner Familie Unterhalt bestreiten. Wenn das wirklich möglich wäre,<lb/> so wäre ja jeder ein Tor, der sich eine gelehrte Bildung aneignet oder Be¬<lb/> amter, Landwirt oder sonst etwas wird-, er täte ja viel klüger, sein geringes<lb/> Vermögen von einigen tausend Talern in ein solches „Latte" zu stecken und<lb/> von dieser Verbindung zwischen Kapital und „Arbeit" zu leben. Die vorher<lb/> geschilderte Tätigkeit, die der Kleinhändler entfaltet, ist keine geistige Arbeit,<lb/> auch keine körperliche; sie ist nicht geeignet, die volle Arbeitskraft eines ge¬<lb/> sunden Mannes auszufüllen, könnte vielmehr von einem Gebrechlichen oder<lb/> von einer Frau neben ihrer Haushaltung ganz gut besorgt werden. Man ver¬<lb/> gleiche diese Tätigkeit des Kaufmanns von einem kleinen oder einem mittlern<lb/> Geschäftsumfang nur mit der des Handwerkers oder des Bauern, der ein<lb/> Kapital von derselben Höhe in den Handwerks- oder den Landwirtschaftsbetrieb<lb/> gesteckt hat: der Handwerker und der Bauer müssen von früh bis spät körperlich<lb/> arbeiten, in der staubigen oder rußigen Werkstätte oder auf dem freien Felde,<lb/> allen Unbilden der Witterung ausgesetzt; und wie der Bauer nicht mehr nach<lb/> Großvaters Art fortwirtschaften, sondern die Landwirtschaft unter Berück¬<lb/> sichtigung der fortwährend wechselnden Anforderungen des heutigen Wirtschafts¬<lb/> lebens betreiben muß, so muß der Handwerker, der sich selbständig erhalten<lb/> und sein Betriebskapital angemessen verwerten will, auf die Fortschritte der<lb/> Technik achten und sich stündig fortbilden. Dagegen lebt der Zwischenhändler<lb/> von einem kleinen oder mittlern Betrieb der Überzeugung, daß er auch ohne<lb/> geistige Arbeit vom „Latte" leben können müsse; er hält es für selbstver¬<lb/> ständlich, daß wer mit einem dem seinigen gleichen Betriebskapital Landwirt¬<lb/> schaft oder ein Handwerk betreibt, in der geschilderten Weise in der Werkstätte<lb/> oder auf dem Felde schwer arbeiten muß, wogegen ihm selbst nur obliege,<lb/> Waren zu bestellen, auszupacken, sie den Käufern auszusuchen, zu verpacken,<lb/> Geld dafür zu nehmen und Hcmdelsbüchcr zu führen. Da nun diese „Arbeit"</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0698]
Der gerichtliche Zwangsvergleich außerhalb des Konkurses
den Kreisen des Kleinhandels die unumstößliche Überzeugung, daß man auch
ohne körperliche und geistige Arbeit einen Anspruch auf wirtschaftliche Selb¬
ständigkeit habe. Das ergibt sich, wenn man die Umstände betrachtet, unter
denen sich der Kleinhändler wirtschaftlich selbständig macht: Ein Mann im
Alter von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, der nach Abschluß einer bessern
oder geringern Schulbildung vier oder fünf Jahre ein kaufmännisches Geschäft
erlernt und ebensolange Handlungsgehilfe gewesen ist und über ein Kapital
von etwa zehntausend Mark verfügt, mietet an irgendeiner Straßenecke einen
Laden und beginnt nun selbständig ein kaufmännisches Geschäft. Seine Arbeit
in der kaufmännischen Selbständigkeit stellt er sich folgendermaßen vor: Waren
bei den Großhändlern und Fabrikanten bestellen, die erhaltnen Waren aus¬
packen, sie in kleinern Mengen an die Konsumenten verkaufen und sie diesen
zuwagen, verpacken, abfüllen, das Geld hierfür in Empfang nehmen, neue Be¬
stellungen machen, wenn die vorhandnen Waren ausverkauft sind, dazu Handels¬
bücher führen und einige Agenturen von Versicherungsgesellschaften und ähnlichen
Unternehmungen. Von dieser „Arbeit" will der Kolonial- und Materialwaren-,
der Tuch-, Mode- und Manufakturwaren-, der Kurzwaren-, der Papier-, Tabak-,
Wein- und spirituösen-, Schuhwaren-, Kohlen-, Glaswaren- oder Getreidehändler
sein und seiner Familie Unterhalt bestreiten. Wenn das wirklich möglich wäre,
so wäre ja jeder ein Tor, der sich eine gelehrte Bildung aneignet oder Be¬
amter, Landwirt oder sonst etwas wird-, er täte ja viel klüger, sein geringes
Vermögen von einigen tausend Talern in ein solches „Latte" zu stecken und
von dieser Verbindung zwischen Kapital und „Arbeit" zu leben. Die vorher
geschilderte Tätigkeit, die der Kleinhändler entfaltet, ist keine geistige Arbeit,
auch keine körperliche; sie ist nicht geeignet, die volle Arbeitskraft eines ge¬
sunden Mannes auszufüllen, könnte vielmehr von einem Gebrechlichen oder
von einer Frau neben ihrer Haushaltung ganz gut besorgt werden. Man ver¬
gleiche diese Tätigkeit des Kaufmanns von einem kleinen oder einem mittlern
Geschäftsumfang nur mit der des Handwerkers oder des Bauern, der ein
Kapital von derselben Höhe in den Handwerks- oder den Landwirtschaftsbetrieb
gesteckt hat: der Handwerker und der Bauer müssen von früh bis spät körperlich
arbeiten, in der staubigen oder rußigen Werkstätte oder auf dem freien Felde,
allen Unbilden der Witterung ausgesetzt; und wie der Bauer nicht mehr nach
Großvaters Art fortwirtschaften, sondern die Landwirtschaft unter Berück¬
sichtigung der fortwährend wechselnden Anforderungen des heutigen Wirtschafts¬
lebens betreiben muß, so muß der Handwerker, der sich selbständig erhalten
und sein Betriebskapital angemessen verwerten will, auf die Fortschritte der
Technik achten und sich stündig fortbilden. Dagegen lebt der Zwischenhändler
von einem kleinen oder mittlern Betrieb der Überzeugung, daß er auch ohne
geistige Arbeit vom „Latte" leben können müsse; er hält es für selbstver¬
ständlich, daß wer mit einem dem seinigen gleichen Betriebskapital Landwirt¬
schaft oder ein Handwerk betreibt, in der geschilderten Weise in der Werkstätte
oder auf dem Felde schwer arbeiten muß, wogegen ihm selbst nur obliege,
Waren zu bestellen, auszupacken, sie den Käufern auszusuchen, zu verpacken,
Geld dafür zu nehmen und Hcmdelsbüchcr zu führen. Da nun diese „Arbeit"
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