Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts vom absoluten Regiment zum allgemeinen Stimmrecht machen. Das ist ihm Die Regierung hatte damit jeden Schimmer eines allgemeinen Wahlrechts Welche Erfahrungen dem russischen Reiche damit beschieden sein könnten, Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts vom absoluten Regiment zum allgemeinen Stimmrecht machen. Das ist ihm Die Regierung hatte damit jeden Schimmer eines allgemeinen Wahlrechts Welche Erfahrungen dem russischen Reiche damit beschieden sein könnten, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0628" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299669"/> <fw type="header" place="top"> Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts</fw><lb/> <p xml:id="ID_2781" prev="#ID_2780"> vom absoluten Regiment zum allgemeinen Stimmrecht machen. Das ist ihm<lb/> erspart geblieben. Vielmehr konnte nach dem ersten Wiedererstarken der<lb/> Reaktion ein enges und teilweise lächerliches Wahlrecht gegeben werden. Es<lb/> wurden nicht nur ständische Abgrenzungen hergestellt, das wäre für den An¬<lb/> fang wohl immer eine ganz vernünftige Sache gewesen. Großgrundbesitzer,<lb/> Bürger, Bauern und Arbeiter wurden in besondre Klassen getan. Es wurden<lb/> auch Vorkehrungen gegen oppositionelle Wahlen getroffen, wie die Reaktion<lb/> sie nur ersinnen kann. Zum Beispiel durfte der Bauer nur Bauern wählen<lb/> und nur solche aus seinem Wahlbezirk. Da nun viele der letzten kaum<lb/> nennenswerte politische Intelligenzen enthalten, so mußte es scheinen, als sei<lb/> oppositionellen Bauernwahlen vorgebeugt. Noch schlimmer erging es den<lb/> Arbeitern. Fabrikarbeiter durften nur Fabrikarbeiter wählen. Was war aber<lb/> das Kennzeichen eines solchen? Daß er dauernd Arbeit hatte bei einer Fabrik<lb/> von mindestens fünfzig Arbeitern. Daß damit den in kleinern Betrieben an¬<lb/> gestellten Arbeitern das Wahlrecht entzogen wurde, wollen wir gar nicht ein¬<lb/> mal als eine wichtige Sache ansehen. Aber die Klausel von der dauernden<lb/> Anstellung stellte es in das Belieben eines jeden Arbeitgebers, den etwa unter<lb/> seinen Arbeitern endigen Kandidaten kurz vor der Wahl zu entlassen, falls er<lb/> ihm mißliebig war. Er konnte auch einem Winke der Polizei folgen müssen.<lb/> Sobald der Kandidat seine bisherige Arbeitstelle kurz vor der Wahl verlor,<lb/> büßte er auch sein Wahlrecht ein.</p><lb/> <p xml:id="ID_2782"> Die Regierung hatte damit jeden Schimmer eines allgemeinen Wahlrechts<lb/> ausgetilgt. Dennoch hat sie ihre Absicht, eine gefügige „Volksvertretung" zu<lb/> gewinnen, nicht erreicht. Wie sich die bäuerlichen Abgeordneten stellen werden,<lb/> weiß man noch nicht. Von jener mythischen Ergebenheit für den Zaren, von<lb/> der man so oft hat hören müssen, soll keine Spur vorhanden sein. Alle<lb/> andern Wahlen haben fast nur konstitutionelle Demokraten (Kadetten) ergeben,<lb/> d. h. Oppositionelle, die weder Umstürzler, Sozialdemokraten noch Nihilisten<lb/> sein wollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2783" next="#ID_2784"> Welche Erfahrungen dem russischen Reiche damit beschieden sein könnten,<lb/> kann hier nicht einmal vermutet werden. Für den Augenblick ist wieder eine<lb/> merkbare Zunahme der terroristischen Tätigkeit zu verzeichnen. Greifbar hat<lb/> man sie vor sich in dem beinahe zum Ziel gekommenen Attentat auf den<lb/> Moskaner Generalgouverueur Dubassow, Anfang Mai, und in der Ermordung<lb/> des Warschauer Polizeihauptmanus Konstantinow um 14. Mai. Gleichwohl<lb/> hat der Zar die Duma am 10. Mai selbst eröffnet, und dank den außer¬<lb/> ordentlichen Sicherheitsvorkehrungen ist nichts passiert. Diese letzten, der Be¬<lb/> lagerungszustand in Petersburg und vielen Provinzialstädten zeigen, daß sich<lb/> das allgemeine Stimmrecht den heutigen russischen Verhältnissen nicht an¬<lb/> passen läßt. Inzwischen haben die Verhandlungen der Duma über die Adresse<lb/> an den Zaren, sodann die Antwort des Ministeriums Goremykin ans diese<lb/> und endlich die darauf erfolgten Reden in der Duma gezeigt, daß die Formen<lb/> für ein Zusammenarbeiten zwischen Negierung und Volksvertretung noch<lb/> durchaus nicht gefunden sind. Sogar der einzige konservative Mann in der<lb/> Duma, Graf Hehden, verlangt die Entlassung des Ministeriums. Im übrigen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0628]
Stockung in den Fortschritten des allgemeinen Stimmrechts
vom absoluten Regiment zum allgemeinen Stimmrecht machen. Das ist ihm
erspart geblieben. Vielmehr konnte nach dem ersten Wiedererstarken der
Reaktion ein enges und teilweise lächerliches Wahlrecht gegeben werden. Es
wurden nicht nur ständische Abgrenzungen hergestellt, das wäre für den An¬
fang wohl immer eine ganz vernünftige Sache gewesen. Großgrundbesitzer,
Bürger, Bauern und Arbeiter wurden in besondre Klassen getan. Es wurden
auch Vorkehrungen gegen oppositionelle Wahlen getroffen, wie die Reaktion
sie nur ersinnen kann. Zum Beispiel durfte der Bauer nur Bauern wählen
und nur solche aus seinem Wahlbezirk. Da nun viele der letzten kaum
nennenswerte politische Intelligenzen enthalten, so mußte es scheinen, als sei
oppositionellen Bauernwahlen vorgebeugt. Noch schlimmer erging es den
Arbeitern. Fabrikarbeiter durften nur Fabrikarbeiter wählen. Was war aber
das Kennzeichen eines solchen? Daß er dauernd Arbeit hatte bei einer Fabrik
von mindestens fünfzig Arbeitern. Daß damit den in kleinern Betrieben an¬
gestellten Arbeitern das Wahlrecht entzogen wurde, wollen wir gar nicht ein¬
mal als eine wichtige Sache ansehen. Aber die Klausel von der dauernden
Anstellung stellte es in das Belieben eines jeden Arbeitgebers, den etwa unter
seinen Arbeitern endigen Kandidaten kurz vor der Wahl zu entlassen, falls er
ihm mißliebig war. Er konnte auch einem Winke der Polizei folgen müssen.
Sobald der Kandidat seine bisherige Arbeitstelle kurz vor der Wahl verlor,
büßte er auch sein Wahlrecht ein.
Die Regierung hatte damit jeden Schimmer eines allgemeinen Wahlrechts
ausgetilgt. Dennoch hat sie ihre Absicht, eine gefügige „Volksvertretung" zu
gewinnen, nicht erreicht. Wie sich die bäuerlichen Abgeordneten stellen werden,
weiß man noch nicht. Von jener mythischen Ergebenheit für den Zaren, von
der man so oft hat hören müssen, soll keine Spur vorhanden sein. Alle
andern Wahlen haben fast nur konstitutionelle Demokraten (Kadetten) ergeben,
d. h. Oppositionelle, die weder Umstürzler, Sozialdemokraten noch Nihilisten
sein wollen.
Welche Erfahrungen dem russischen Reiche damit beschieden sein könnten,
kann hier nicht einmal vermutet werden. Für den Augenblick ist wieder eine
merkbare Zunahme der terroristischen Tätigkeit zu verzeichnen. Greifbar hat
man sie vor sich in dem beinahe zum Ziel gekommenen Attentat auf den
Moskaner Generalgouverueur Dubassow, Anfang Mai, und in der Ermordung
des Warschauer Polizeihauptmanus Konstantinow um 14. Mai. Gleichwohl
hat der Zar die Duma am 10. Mai selbst eröffnet, und dank den außer¬
ordentlichen Sicherheitsvorkehrungen ist nichts passiert. Diese letzten, der Be¬
lagerungszustand in Petersburg und vielen Provinzialstädten zeigen, daß sich
das allgemeine Stimmrecht den heutigen russischen Verhältnissen nicht an¬
passen läßt. Inzwischen haben die Verhandlungen der Duma über die Adresse
an den Zaren, sodann die Antwort des Ministeriums Goremykin ans diese
und endlich die darauf erfolgten Reden in der Duma gezeigt, daß die Formen
für ein Zusammenarbeiten zwischen Negierung und Volksvertretung noch
durchaus nicht gefunden sind. Sogar der einzige konservative Mann in der
Duma, Graf Hehden, verlangt die Entlassung des Ministeriums. Im übrigen
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