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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

praktisch geworden sind, weil eben das Bündnis da war. Welche Wege die russische
Politik eingeschlagen haben würde, wenn das Bündnis nicht abgeschlossen worden
wäre oder sich nicht als dauerhaft erwiesen hätte -- ist heute unübersehbar. Fast
noch seltsamer aber ist, daß das russisch-französische Bündnis, das Bismarck vor¬
schwebte, als er angesichts russischer Drohungen nach Wien ging, zwar nach seinem
Ausscheiden aus dem Dienste zur Tatsache wurde, aber gleich dem deutsch-öster¬
reichischen Bündnis oder dem Dreibünde ebenfalls nur eine theoretische, eine eventuelle
Bedeutung gewonnen hat, von der heutigen Situation ganz abgesehen. Dem Kaiser
Alexander dem Dritten war nach seiner ganzen politischen Denkungsweise die Allianz
mit der Republik innerlich in hohem Grade zuwider; es war ihm ein tief und
bitter empfundner Augenblick, als er in Kronstäbe und in Petersburg die Marseillaise
über sich ergehn lassen mußte. Seine Ahnung, daß damit die Revolution ihren
Einzug in Rußland gehalten hatte, war nur zu richtig. Aber dem deutsch-österreichischen
Bündnis und der NichtVerlängerung des deutsch-russischen Geheimvertrags gegenüber
wollte er seinerseits ebenfalls nicht "isoliert" bleiben. So ließ er sich zu dem
Bündnis mit Frankreich bestimmen, obwohl er dieser Macht im Falle eines deutsch¬
russischen Krieges mit oder ohne Vertrag sicher gewesen wäre. Es war ihm dabei
wohl vor allem um die diplomatische Bereitschaftsstellung, um das Gleichgewicht
der Kräfte zu tun.

Das Schlagwort der "Isolierung" hat durch Salisburys sxlsnäiä Isolation
eine Bedeutung erhalten, die ihm im heutigen Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht
kaum noch zukommt. Heute sind nicht mehr Heere zu schlagen, sondern Völker zu
unterwerfen. Für England mochte dieses Schlagwort passen, weil es keine Land¬
armee hat und sich deshalb im gewissen Sinne isoliert fühlt, sobald es nicht über
eine kontinentale Anlehnung verfügt, die ihm die nötige Landarmee stellt oder doch
Englands etwaige Gegner in Schach hält. Für Deutschland, Frankreich, Rußland
hat die Isolierung wesentlich einen diplomatisch dekorativen Sinn. Die großen
Kontinentalmächte können gegeneinander nur noch Volkskriege führen, zu denen
sie selbst einer Koalition gegenüber noch hinlänglich stark sind. Eine Ausnahme
hierin machen vielleicht Österreich-Ungarn und Italien. Daraus ergibt sich für die
Habsburgische Monarchie das Bedürfnis, mit allen ihren Nachbarn in guten oder
doch korrekten Verhältnissen zu leben, und Italien hat schon so viele "Umkehrungen",
daß ihm bis zu einer künftigen neuen Klerikalisierung Frankreichs kein Feind in
Europa übrig bleibt, wenigstens kein kriegdrohender. Dadurch, daß der Dreibund
siebenundzwanzig Jahre lang "Theorie" geblieben ist, immer nur auf verhältnismäßig
kurze Fristen geschlossen wurde und die beiden letzten Erneuerungen von italienischer
Seite stark durch Rücksichten auf Frankreich beeinflußt worden sind, hat er in der
Vorstellung der europäischen Völker fast nur noch eine Art antiquarischen Wert.
Aber auch wenn man dem Dreibunde nur die passive Wirkung zuerkennen will,
daß er Gegnerschaften zwischen den drei Verbündeten ausschließt, so ist er schon
dadurch eine große politische Entlastung Europas. Das europäische Konfliktsfeld,
die Konfliktsmöglichkeiten, sind damit ganz bedeutend eingeschränkt. Schon dieser
eine Umstand verleiht dem Dreibunde, auch wenn er -- wie vorauszusehen ist --
niemals zu gemeinsamer Abwehr aufgeboten werden sollte, einen dauernden und
hohen Wert. Die ganze geschichtliche Entwicklung Europas vermag dem, wenn man
von der "Heiligen Allianz" absieht, nichts ähnliches an die Seite zu stellen.

Jedoch so ganz ohne aktive praktische Bedeutung ist das Bündnis für die einzelnen
Beteiligten doch nicht gewesen. Wir wollen nur andeuten, daß es durch das ihm
innewohnende Gesetz der Schwere eine Anziehungskraft auf andre Nationen geübt
und z. B. Rumänien in seinen Bannkreis gezogen hat. Ohne das Bündnis mit
Osterreich würde es in Deutschland vielleicht doch eine nach Wien gravitierende und
von dort beeinflußte katholische Richtung geben, in Österreich würden ohne das
deutsche Bündnis die dortigen deutsch-nationalen Strömungen unvermeidlich eine An¬
lehnung an Deutschland anstreben. In dem Nationalitätenkampfe, dem der Kaiser


Maßgebliches und Unmaßgebliches

praktisch geworden sind, weil eben das Bündnis da war. Welche Wege die russische
Politik eingeschlagen haben würde, wenn das Bündnis nicht abgeschlossen worden
wäre oder sich nicht als dauerhaft erwiesen hätte — ist heute unübersehbar. Fast
noch seltsamer aber ist, daß das russisch-französische Bündnis, das Bismarck vor¬
schwebte, als er angesichts russischer Drohungen nach Wien ging, zwar nach seinem
Ausscheiden aus dem Dienste zur Tatsache wurde, aber gleich dem deutsch-öster¬
reichischen Bündnis oder dem Dreibünde ebenfalls nur eine theoretische, eine eventuelle
Bedeutung gewonnen hat, von der heutigen Situation ganz abgesehen. Dem Kaiser
Alexander dem Dritten war nach seiner ganzen politischen Denkungsweise die Allianz
mit der Republik innerlich in hohem Grade zuwider; es war ihm ein tief und
bitter empfundner Augenblick, als er in Kronstäbe und in Petersburg die Marseillaise
über sich ergehn lassen mußte. Seine Ahnung, daß damit die Revolution ihren
Einzug in Rußland gehalten hatte, war nur zu richtig. Aber dem deutsch-österreichischen
Bündnis und der NichtVerlängerung des deutsch-russischen Geheimvertrags gegenüber
wollte er seinerseits ebenfalls nicht „isoliert" bleiben. So ließ er sich zu dem
Bündnis mit Frankreich bestimmen, obwohl er dieser Macht im Falle eines deutsch¬
russischen Krieges mit oder ohne Vertrag sicher gewesen wäre. Es war ihm dabei
wohl vor allem um die diplomatische Bereitschaftsstellung, um das Gleichgewicht
der Kräfte zu tun.

Das Schlagwort der „Isolierung" hat durch Salisburys sxlsnäiä Isolation
eine Bedeutung erhalten, die ihm im heutigen Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht
kaum noch zukommt. Heute sind nicht mehr Heere zu schlagen, sondern Völker zu
unterwerfen. Für England mochte dieses Schlagwort passen, weil es keine Land¬
armee hat und sich deshalb im gewissen Sinne isoliert fühlt, sobald es nicht über
eine kontinentale Anlehnung verfügt, die ihm die nötige Landarmee stellt oder doch
Englands etwaige Gegner in Schach hält. Für Deutschland, Frankreich, Rußland
hat die Isolierung wesentlich einen diplomatisch dekorativen Sinn. Die großen
Kontinentalmächte können gegeneinander nur noch Volkskriege führen, zu denen
sie selbst einer Koalition gegenüber noch hinlänglich stark sind. Eine Ausnahme
hierin machen vielleicht Österreich-Ungarn und Italien. Daraus ergibt sich für die
Habsburgische Monarchie das Bedürfnis, mit allen ihren Nachbarn in guten oder
doch korrekten Verhältnissen zu leben, und Italien hat schon so viele „Umkehrungen",
daß ihm bis zu einer künftigen neuen Klerikalisierung Frankreichs kein Feind in
Europa übrig bleibt, wenigstens kein kriegdrohender. Dadurch, daß der Dreibund
siebenundzwanzig Jahre lang „Theorie" geblieben ist, immer nur auf verhältnismäßig
kurze Fristen geschlossen wurde und die beiden letzten Erneuerungen von italienischer
Seite stark durch Rücksichten auf Frankreich beeinflußt worden sind, hat er in der
Vorstellung der europäischen Völker fast nur noch eine Art antiquarischen Wert.
Aber auch wenn man dem Dreibunde nur die passive Wirkung zuerkennen will,
daß er Gegnerschaften zwischen den drei Verbündeten ausschließt, so ist er schon
dadurch eine große politische Entlastung Europas. Das europäische Konfliktsfeld,
die Konfliktsmöglichkeiten, sind damit ganz bedeutend eingeschränkt. Schon dieser
eine Umstand verleiht dem Dreibunde, auch wenn er — wie vorauszusehen ist —
niemals zu gemeinsamer Abwehr aufgeboten werden sollte, einen dauernden und
hohen Wert. Die ganze geschichtliche Entwicklung Europas vermag dem, wenn man
von der „Heiligen Allianz" absieht, nichts ähnliches an die Seite zu stellen.

Jedoch so ganz ohne aktive praktische Bedeutung ist das Bündnis für die einzelnen
Beteiligten doch nicht gewesen. Wir wollen nur andeuten, daß es durch das ihm
innewohnende Gesetz der Schwere eine Anziehungskraft auf andre Nationen geübt
und z. B. Rumänien in seinen Bannkreis gezogen hat. Ohne das Bündnis mit
Osterreich würde es in Deutschland vielleicht doch eine nach Wien gravitierende und
von dort beeinflußte katholische Richtung geben, in Österreich würden ohne das
deutsche Bündnis die dortigen deutsch-nationalen Strömungen unvermeidlich eine An¬
lehnung an Deutschland anstreben. In dem Nationalitätenkampfe, dem der Kaiser


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[0618] Maßgebliches und Unmaßgebliches praktisch geworden sind, weil eben das Bündnis da war. Welche Wege die russische Politik eingeschlagen haben würde, wenn das Bündnis nicht abgeschlossen worden wäre oder sich nicht als dauerhaft erwiesen hätte — ist heute unübersehbar. Fast noch seltsamer aber ist, daß das russisch-französische Bündnis, das Bismarck vor¬ schwebte, als er angesichts russischer Drohungen nach Wien ging, zwar nach seinem Ausscheiden aus dem Dienste zur Tatsache wurde, aber gleich dem deutsch-öster¬ reichischen Bündnis oder dem Dreibünde ebenfalls nur eine theoretische, eine eventuelle Bedeutung gewonnen hat, von der heutigen Situation ganz abgesehen. Dem Kaiser Alexander dem Dritten war nach seiner ganzen politischen Denkungsweise die Allianz mit der Republik innerlich in hohem Grade zuwider; es war ihm ein tief und bitter empfundner Augenblick, als er in Kronstäbe und in Petersburg die Marseillaise über sich ergehn lassen mußte. Seine Ahnung, daß damit die Revolution ihren Einzug in Rußland gehalten hatte, war nur zu richtig. Aber dem deutsch-österreichischen Bündnis und der NichtVerlängerung des deutsch-russischen Geheimvertrags gegenüber wollte er seinerseits ebenfalls nicht „isoliert" bleiben. So ließ er sich zu dem Bündnis mit Frankreich bestimmen, obwohl er dieser Macht im Falle eines deutsch¬ russischen Krieges mit oder ohne Vertrag sicher gewesen wäre. Es war ihm dabei wohl vor allem um die diplomatische Bereitschaftsstellung, um das Gleichgewicht der Kräfte zu tun. Das Schlagwort der „Isolierung" hat durch Salisburys sxlsnäiä Isolation eine Bedeutung erhalten, die ihm im heutigen Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht kaum noch zukommt. Heute sind nicht mehr Heere zu schlagen, sondern Völker zu unterwerfen. Für England mochte dieses Schlagwort passen, weil es keine Land¬ armee hat und sich deshalb im gewissen Sinne isoliert fühlt, sobald es nicht über eine kontinentale Anlehnung verfügt, die ihm die nötige Landarmee stellt oder doch Englands etwaige Gegner in Schach hält. Für Deutschland, Frankreich, Rußland hat die Isolierung wesentlich einen diplomatisch dekorativen Sinn. Die großen Kontinentalmächte können gegeneinander nur noch Volkskriege führen, zu denen sie selbst einer Koalition gegenüber noch hinlänglich stark sind. Eine Ausnahme hierin machen vielleicht Österreich-Ungarn und Italien. Daraus ergibt sich für die Habsburgische Monarchie das Bedürfnis, mit allen ihren Nachbarn in guten oder doch korrekten Verhältnissen zu leben, und Italien hat schon so viele „Umkehrungen", daß ihm bis zu einer künftigen neuen Klerikalisierung Frankreichs kein Feind in Europa übrig bleibt, wenigstens kein kriegdrohender. Dadurch, daß der Dreibund siebenundzwanzig Jahre lang „Theorie" geblieben ist, immer nur auf verhältnismäßig kurze Fristen geschlossen wurde und die beiden letzten Erneuerungen von italienischer Seite stark durch Rücksichten auf Frankreich beeinflußt worden sind, hat er in der Vorstellung der europäischen Völker fast nur noch eine Art antiquarischen Wert. Aber auch wenn man dem Dreibunde nur die passive Wirkung zuerkennen will, daß er Gegnerschaften zwischen den drei Verbündeten ausschließt, so ist er schon dadurch eine große politische Entlastung Europas. Das europäische Konfliktsfeld, die Konfliktsmöglichkeiten, sind damit ganz bedeutend eingeschränkt. Schon dieser eine Umstand verleiht dem Dreibunde, auch wenn er — wie vorauszusehen ist — niemals zu gemeinsamer Abwehr aufgeboten werden sollte, einen dauernden und hohen Wert. Die ganze geschichtliche Entwicklung Europas vermag dem, wenn man von der „Heiligen Allianz" absieht, nichts ähnliches an die Seite zu stellen. Jedoch so ganz ohne aktive praktische Bedeutung ist das Bündnis für die einzelnen Beteiligten doch nicht gewesen. Wir wollen nur andeuten, daß es durch das ihm innewohnende Gesetz der Schwere eine Anziehungskraft auf andre Nationen geübt und z. B. Rumänien in seinen Bannkreis gezogen hat. Ohne das Bündnis mit Osterreich würde es in Deutschland vielleicht doch eine nach Wien gravitierende und von dort beeinflußte katholische Richtung geben, in Österreich würden ohne das deutsche Bündnis die dortigen deutsch-nationalen Strömungen unvermeidlich eine An¬ lehnung an Deutschland anstreben. In dem Nationalitätenkampfe, dem der Kaiser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/618>, abgerufen am 24.07.2024.