Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Nationale Fragen im westlichen Rußland einflussung durch die katholischen "Ksiondzes" ausgesetzt sind, muß sich ihre Be¬ Über den Menschenreichtum Russisch-Polens mögen folgende vergleichende Nationale Fragen im westlichen Rußland einflussung durch die katholischen „Ksiondzes" ausgesetzt sind, muß sich ihre Be¬ Über den Menschenreichtum Russisch-Polens mögen folgende vergleichende <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0582" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299623"/> <fw type="header" place="top"> Nationale Fragen im westlichen Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_2571" prev="#ID_2570"> einflussung durch die katholischen „Ksiondzes" ausgesetzt sind, muß sich ihre Be¬<lb/> deutung für die polnische Sache außerordentlich erhöhen. Andrerseits fehlt es<lb/> auch nicht an offner und versteckter Feindseligkeit gegen die Kirche. Daß sich in<lb/> Russisch-Polen in den Mariaviten eine ähnlich überspannte und fanatische Sekte<lb/> innerhalb des Katholizismus gebildet hat, wie sie sich von der griechisch-katho¬<lb/> lischen Kirche schon zu Dutzenden abgezweigt haben, ist eine Erscheinung, die<lb/> als durchaus nen und auffällig bezeichnet werden muß.</p><lb/> <p xml:id="ID_2572"> Über den Menschenreichtum Russisch-Polens mögen folgende vergleichende<lb/> Zahlen unterrichten. Die bevölkertsten Gouvernements des innern Rußlands<lb/> sind Kiew mit 70, Podolien mit 72, Moskau mit 73 Einwohnern auf dem<lb/> Quadratkilometer. Das ist in Polen der Durchschnitt. Die Gouvernements<lb/> Warschau und Piotrkow zählen sogar 111 und 115 Einwohner auf dem Quadrat¬<lb/> kilometer. Uuter den angrenzenden preußischen Provinzen übertrifft nur Schlesien<lb/> mit 116 Einwohnern auf dem Quadratkilometer diese Volksdichte. Die ent¬<lb/> sprechenden Zahlen betragen für Ostpreußen bloß 54 Einwohner, für West-<lb/> preußen 61, für Posen 65. Wenn es freilich möglich wäre, die Jndustrie-<lb/> bevölkeruug auszuschalten und bloß Landbevölkerung mit Landbevölkerung zu<lb/> vergleichen, dann würde sich vermutlich Herallsstellen, daß der seßhafte Volksteil<lb/> in Russisch-Polen kaum zahlreicher ist als in Mittelrußland und in den preu¬<lb/> ßischen Ostprovinzen. Die polnische Ausbreitung ist übrigens zuerst in Galizien<lb/> bei den dortigen griechisch-orthodoxen Nuthenen auf unüberwindlichen Wider¬<lb/> stand gestoßen, wird nächstens wohl auch an Kleinrussen und Weißrussen ähnlich<lb/> entschiedne und bewußte Widersacher finden und beginnt sogar auf der litauischen<lb/> Seite langsam znrückzuebben. Mit um so größern Hoffnungen schauen die<lb/> Polen Rußlands auf die preußischen Ostprovinzen mit ihrer zur Abwanderung<lb/> geneigten deutschen Landbevölkerung, wo es nur mit Aufbietung der größten<lb/> nationalen Energie des Staates wie aller deutschen Gesellschaftskreise gelingen<lb/> wird, den slawischen Ansturm siegreich zurückzuwerfen. Jenseits unsrer Grenze<lb/> beginnen sich freilich Tausende, die früher felsenfest an die Wiedergeburt Polens<lb/> glaubten, neuerdings von den rot-weißen Feldzeichen abzukehren und dem Rot<lb/> des internationalen Proletariats zuzuwenden. Da der sozialdemokratische Charakter<lb/> fast aller neuern Erhebungen in den Großstädten des Weichselgebiets gar nicht<lb/> zu verkennen war, so hielten sich der Adel und die Geistlichkeit, die früher jedem<lb/> nationalen Aufschwung führend voranschritten, merklich im Hintergründe, und<lb/> sogar Henryk Sienkiewicz, dieser geistige Bannerträger des „lechischen" Patrio¬<lb/> tismus, beschränkte sich aus einige schwungvolle, schön stilisierte Ansprachen. Wie<lb/> berechtigt die Zurückhaltung der Patrioten war, ergibt sich aus verschiednen Vor¬<lb/> kommnissen der jüngsten Zeit, die den sozialdemokratischen Pöbel in seiner ganzen<lb/> Roheit, Beschränktheit und Unduldsamkeit zeigen. Die polnische Nationalpartei<lb/> gedachte den Zeitideen das denkbar größte Zugeständnis zu machen, indem sie-<lb/> die öffentliche Agitation fast ganz ihrem nationaldemokratischen Flügel überließ.<lb/> Vor kurzem haben nun die Sozialdemokraten in Lodz nationaldemokratische<lb/> Versammlungen gesprengt, und es kam schließlich zu einer regelrechten Schlacht,<lb/> in die schließlich Gendarmerie und Polizei cingriffen. Eine ganze Anzahl<lb/> Polen mußte unter polnischen wie unter russischen Kugeln das Leben lassen. -</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0582]
Nationale Fragen im westlichen Rußland
einflussung durch die katholischen „Ksiondzes" ausgesetzt sind, muß sich ihre Be¬
deutung für die polnische Sache außerordentlich erhöhen. Andrerseits fehlt es
auch nicht an offner und versteckter Feindseligkeit gegen die Kirche. Daß sich in
Russisch-Polen in den Mariaviten eine ähnlich überspannte und fanatische Sekte
innerhalb des Katholizismus gebildet hat, wie sie sich von der griechisch-katho¬
lischen Kirche schon zu Dutzenden abgezweigt haben, ist eine Erscheinung, die
als durchaus nen und auffällig bezeichnet werden muß.
Über den Menschenreichtum Russisch-Polens mögen folgende vergleichende
Zahlen unterrichten. Die bevölkertsten Gouvernements des innern Rußlands
sind Kiew mit 70, Podolien mit 72, Moskau mit 73 Einwohnern auf dem
Quadratkilometer. Das ist in Polen der Durchschnitt. Die Gouvernements
Warschau und Piotrkow zählen sogar 111 und 115 Einwohner auf dem Quadrat¬
kilometer. Uuter den angrenzenden preußischen Provinzen übertrifft nur Schlesien
mit 116 Einwohnern auf dem Quadratkilometer diese Volksdichte. Die ent¬
sprechenden Zahlen betragen für Ostpreußen bloß 54 Einwohner, für West-
preußen 61, für Posen 65. Wenn es freilich möglich wäre, die Jndustrie-
bevölkeruug auszuschalten und bloß Landbevölkerung mit Landbevölkerung zu
vergleichen, dann würde sich vermutlich Herallsstellen, daß der seßhafte Volksteil
in Russisch-Polen kaum zahlreicher ist als in Mittelrußland und in den preu¬
ßischen Ostprovinzen. Die polnische Ausbreitung ist übrigens zuerst in Galizien
bei den dortigen griechisch-orthodoxen Nuthenen auf unüberwindlichen Wider¬
stand gestoßen, wird nächstens wohl auch an Kleinrussen und Weißrussen ähnlich
entschiedne und bewußte Widersacher finden und beginnt sogar auf der litauischen
Seite langsam znrückzuebben. Mit um so größern Hoffnungen schauen die
Polen Rußlands auf die preußischen Ostprovinzen mit ihrer zur Abwanderung
geneigten deutschen Landbevölkerung, wo es nur mit Aufbietung der größten
nationalen Energie des Staates wie aller deutschen Gesellschaftskreise gelingen
wird, den slawischen Ansturm siegreich zurückzuwerfen. Jenseits unsrer Grenze
beginnen sich freilich Tausende, die früher felsenfest an die Wiedergeburt Polens
glaubten, neuerdings von den rot-weißen Feldzeichen abzukehren und dem Rot
des internationalen Proletariats zuzuwenden. Da der sozialdemokratische Charakter
fast aller neuern Erhebungen in den Großstädten des Weichselgebiets gar nicht
zu verkennen war, so hielten sich der Adel und die Geistlichkeit, die früher jedem
nationalen Aufschwung führend voranschritten, merklich im Hintergründe, und
sogar Henryk Sienkiewicz, dieser geistige Bannerträger des „lechischen" Patrio¬
tismus, beschränkte sich aus einige schwungvolle, schön stilisierte Ansprachen. Wie
berechtigt die Zurückhaltung der Patrioten war, ergibt sich aus verschiednen Vor¬
kommnissen der jüngsten Zeit, die den sozialdemokratischen Pöbel in seiner ganzen
Roheit, Beschränktheit und Unduldsamkeit zeigen. Die polnische Nationalpartei
gedachte den Zeitideen das denkbar größte Zugeständnis zu machen, indem sie-
die öffentliche Agitation fast ganz ihrem nationaldemokratischen Flügel überließ.
Vor kurzem haben nun die Sozialdemokraten in Lodz nationaldemokratische
Versammlungen gesprengt, und es kam schließlich zu einer regelrechten Schlacht,
in die schließlich Gendarmerie und Polizei cingriffen. Eine ganze Anzahl
Polen mußte unter polnischen wie unter russischen Kugeln das Leben lassen. -
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