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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Sie wurde es auch. Mit den neuen Schlittschuhen an den Füßen suchte sie
nicht mehr die entlegnen Stellen des Eises auf, wie es ihr mit Rücksicht auf den
schlechtgekleideten Freund geboten erschienen war: jetzt tummelte sie sich dort, wo
ihre Schulgenossinnen liefen, wo die Lateinschüler kunstvolle Neigen aufführten, und
wo sogar die hohe Obrigkeit gelegentlich im Kreise der Läufer auftauchte, um zu
sehen, daß alles in Ordnung war.

Es waren nun doch noch lustige Weihnachtsferien geworden, und als nach
Neujahr die Schule wieder begann, waren die Lehrer nicht so strenge wie sonst.
Eisläufer war doch ein Vergnügen, das mit einem Tage zu Ende sein konnte:
also mußte es ausgekostet werden, und an einigen Tagen gabs sogar Eisferien.

Anneli dachte auch nur an das Schlittschuhlaufen. Beim Essen und Trinken,
beim Lernen und Arbeiten flog sie in Gedanken dahin über die funkelnde Fläche,
und wenn sie Abends einschlief, sah sie den See vor sich und hörte in der Ferne
den Ruf der grauen Schwäne.

Sie hatte sie noch nie gesehen. Weit weg wohnten sie, am äußersten Ende
des Wassers, dort, wo die Schilfinseln waren, und wo das Eis niemals ganz sicher
war. Dorthin durfte niemand laufen, in der Schule wurde es den Kindern von
neuem verboten, und nur Haares Hesz und ähnliche zweifelhafte Jungen wagten
sich in die äußerste Ferne und erklärten, dort wäre es am schönsten. Aber sie
waren wilde, zerlumpte Jungen, und niemand achtete auf sie. Auf Anneli achtete
eigentlich auch niemand; wenn sie nach der Schule aufs Eis stürzte, empfand sie
diesen Umstand mit Befriedigung. Schwester Lene sorgte für ihre leiblichen Be¬
dürfnisse und brummte gelegentlich, das war alles.

Die Kleine war wild geworden. Das Eis, der Sonnenschein, die Frostluft
wirkten wie Champagner auf sie. Wenn sie sich auf ihren Schlittschuhen tummelte,
hierhin flog und dorthin, dann sahen die Zuschauer hin zu ihr, und mancher schüttelte
wohl den Kopf.

Der reine Junge! sagten sie von ihr, und als Rike Blüthen sich eines Tages
auch das Eisvergnügen ansah und gerade dazu kam, wie Anneli auf einem Bein
die gewandtesten Bewegungen ausführte, da rief sie entsetzt hinter ihr her und
wollte sie durchaus sprechen. Aber Anneli entfloh schleunigst und lachte nachher
mit den andern Mädchen über das drollige Gesicht der alten Bite.

Vier Wochen lang dauerte das Eis und seine Freude. Ostwind, roter Himmel,
und am Abend köstlicher Mondschein: konnte es auf der Welt etwas besseres geben?

Nun kommt Herr Hofrat bald wieder! sagte Schwester Lene eines Morgens.
Gestern Abend hat er geschrieben. Sein Buch geht bald in den Druck. Er muß noch
einmal hin nach Leipzig, aber er will hier nach dem Rechten sehen. Ist auch nötig,
Anneli, du bist tüchtig wild geworden. Sudecks siud auch wieder da, ich sage, sie sollen
dich nur wieder nehmen, für mich bist du zu wild, ich kann nicht auf dich achten.

Schwester Lene sprach in dieser Art weiter, und Anneli hörte ihr halb ver¬
wundert zu. Meist war Schwester Lene nicht für das Reden, sondern höchstens
für das Brummen.

Es war auch gleich. Vergnügt lief Anneli in die Schule, wo es immer
Schelte gab, weil sie nichts gelernt hatte. Aber Lehrer und Lehrerinnen schalten
bekanntlich immer, dazu waren sie da.

Christel Sudeck hatte das auch immer gesagt. Als Anneli an Christel dachte,
ging sie gerade am Sudeckschen Hause vorbei, aus dessen Tür der Doktor kam.
Er hatte sich verändert, war mager und grau geworden, und Anneli drückte sich
i" eine Hausecke, damit er sie nicht sähe; dann wunderte sie sich, daß sie sich ver¬
steckte. Aber so etwas kam von selbst; und sie hatte auch keine Lust, wieder in
das Sudecksche Haus zu kommen. Wo Christel nicht war. wo der unheimliche
Schuppen im Garten stand, und der arme kleine Cäsar in der Erde lag. Weshalb
sollte sie nicht auf dem Schloß wohnen bleiben? Sie war da fo schön frei, und
niemand bekümmerte sich um sie.


Grenzboten H 1906 64
Menschenfrühling

Sie wurde es auch. Mit den neuen Schlittschuhen an den Füßen suchte sie
nicht mehr die entlegnen Stellen des Eises auf, wie es ihr mit Rücksicht auf den
schlechtgekleideten Freund geboten erschienen war: jetzt tummelte sie sich dort, wo
ihre Schulgenossinnen liefen, wo die Lateinschüler kunstvolle Neigen aufführten, und
wo sogar die hohe Obrigkeit gelegentlich im Kreise der Läufer auftauchte, um zu
sehen, daß alles in Ordnung war.

Es waren nun doch noch lustige Weihnachtsferien geworden, und als nach
Neujahr die Schule wieder begann, waren die Lehrer nicht so strenge wie sonst.
Eisläufer war doch ein Vergnügen, das mit einem Tage zu Ende sein konnte:
also mußte es ausgekostet werden, und an einigen Tagen gabs sogar Eisferien.

Anneli dachte auch nur an das Schlittschuhlaufen. Beim Essen und Trinken,
beim Lernen und Arbeiten flog sie in Gedanken dahin über die funkelnde Fläche,
und wenn sie Abends einschlief, sah sie den See vor sich und hörte in der Ferne
den Ruf der grauen Schwäne.

Sie hatte sie noch nie gesehen. Weit weg wohnten sie, am äußersten Ende
des Wassers, dort, wo die Schilfinseln waren, und wo das Eis niemals ganz sicher
war. Dorthin durfte niemand laufen, in der Schule wurde es den Kindern von
neuem verboten, und nur Haares Hesz und ähnliche zweifelhafte Jungen wagten
sich in die äußerste Ferne und erklärten, dort wäre es am schönsten. Aber sie
waren wilde, zerlumpte Jungen, und niemand achtete auf sie. Auf Anneli achtete
eigentlich auch niemand; wenn sie nach der Schule aufs Eis stürzte, empfand sie
diesen Umstand mit Befriedigung. Schwester Lene sorgte für ihre leiblichen Be¬
dürfnisse und brummte gelegentlich, das war alles.

Die Kleine war wild geworden. Das Eis, der Sonnenschein, die Frostluft
wirkten wie Champagner auf sie. Wenn sie sich auf ihren Schlittschuhen tummelte,
hierhin flog und dorthin, dann sahen die Zuschauer hin zu ihr, und mancher schüttelte
wohl den Kopf.

Der reine Junge! sagten sie von ihr, und als Rike Blüthen sich eines Tages
auch das Eisvergnügen ansah und gerade dazu kam, wie Anneli auf einem Bein
die gewandtesten Bewegungen ausführte, da rief sie entsetzt hinter ihr her und
wollte sie durchaus sprechen. Aber Anneli entfloh schleunigst und lachte nachher
mit den andern Mädchen über das drollige Gesicht der alten Bite.

Vier Wochen lang dauerte das Eis und seine Freude. Ostwind, roter Himmel,
und am Abend köstlicher Mondschein: konnte es auf der Welt etwas besseres geben?

Nun kommt Herr Hofrat bald wieder! sagte Schwester Lene eines Morgens.
Gestern Abend hat er geschrieben. Sein Buch geht bald in den Druck. Er muß noch
einmal hin nach Leipzig, aber er will hier nach dem Rechten sehen. Ist auch nötig,
Anneli, du bist tüchtig wild geworden. Sudecks siud auch wieder da, ich sage, sie sollen
dich nur wieder nehmen, für mich bist du zu wild, ich kann nicht auf dich achten.

Schwester Lene sprach in dieser Art weiter, und Anneli hörte ihr halb ver¬
wundert zu. Meist war Schwester Lene nicht für das Reden, sondern höchstens
für das Brummen.

Es war auch gleich. Vergnügt lief Anneli in die Schule, wo es immer
Schelte gab, weil sie nichts gelernt hatte. Aber Lehrer und Lehrerinnen schalten
bekanntlich immer, dazu waren sie da.

Christel Sudeck hatte das auch immer gesagt. Als Anneli an Christel dachte,
ging sie gerade am Sudeckschen Hause vorbei, aus dessen Tür der Doktor kam.
Er hatte sich verändert, war mager und grau geworden, und Anneli drückte sich
i» eine Hausecke, damit er sie nicht sähe; dann wunderte sie sich, daß sie sich ver¬
steckte. Aber so etwas kam von selbst; und sie hatte auch keine Lust, wieder in
das Sudecksche Haus zu kommen. Wo Christel nicht war. wo der unheimliche
Schuppen im Garten stand, und der arme kleine Cäsar in der Erde lag. Weshalb
sollte sie nicht auf dem Schloß wohnen bleiben? Sie war da fo schön frei, und
niemand bekümmerte sich um sie.


Grenzboten H 1906 64
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[0509] Menschenfrühling Sie wurde es auch. Mit den neuen Schlittschuhen an den Füßen suchte sie nicht mehr die entlegnen Stellen des Eises auf, wie es ihr mit Rücksicht auf den schlechtgekleideten Freund geboten erschienen war: jetzt tummelte sie sich dort, wo ihre Schulgenossinnen liefen, wo die Lateinschüler kunstvolle Neigen aufführten, und wo sogar die hohe Obrigkeit gelegentlich im Kreise der Läufer auftauchte, um zu sehen, daß alles in Ordnung war. Es waren nun doch noch lustige Weihnachtsferien geworden, und als nach Neujahr die Schule wieder begann, waren die Lehrer nicht so strenge wie sonst. Eisläufer war doch ein Vergnügen, das mit einem Tage zu Ende sein konnte: also mußte es ausgekostet werden, und an einigen Tagen gabs sogar Eisferien. Anneli dachte auch nur an das Schlittschuhlaufen. Beim Essen und Trinken, beim Lernen und Arbeiten flog sie in Gedanken dahin über die funkelnde Fläche, und wenn sie Abends einschlief, sah sie den See vor sich und hörte in der Ferne den Ruf der grauen Schwäne. Sie hatte sie noch nie gesehen. Weit weg wohnten sie, am äußersten Ende des Wassers, dort, wo die Schilfinseln waren, und wo das Eis niemals ganz sicher war. Dorthin durfte niemand laufen, in der Schule wurde es den Kindern von neuem verboten, und nur Haares Hesz und ähnliche zweifelhafte Jungen wagten sich in die äußerste Ferne und erklärten, dort wäre es am schönsten. Aber sie waren wilde, zerlumpte Jungen, und niemand achtete auf sie. Auf Anneli achtete eigentlich auch niemand; wenn sie nach der Schule aufs Eis stürzte, empfand sie diesen Umstand mit Befriedigung. Schwester Lene sorgte für ihre leiblichen Be¬ dürfnisse und brummte gelegentlich, das war alles. Die Kleine war wild geworden. Das Eis, der Sonnenschein, die Frostluft wirkten wie Champagner auf sie. Wenn sie sich auf ihren Schlittschuhen tummelte, hierhin flog und dorthin, dann sahen die Zuschauer hin zu ihr, und mancher schüttelte wohl den Kopf. Der reine Junge! sagten sie von ihr, und als Rike Blüthen sich eines Tages auch das Eisvergnügen ansah und gerade dazu kam, wie Anneli auf einem Bein die gewandtesten Bewegungen ausführte, da rief sie entsetzt hinter ihr her und wollte sie durchaus sprechen. Aber Anneli entfloh schleunigst und lachte nachher mit den andern Mädchen über das drollige Gesicht der alten Bite. Vier Wochen lang dauerte das Eis und seine Freude. Ostwind, roter Himmel, und am Abend köstlicher Mondschein: konnte es auf der Welt etwas besseres geben? Nun kommt Herr Hofrat bald wieder! sagte Schwester Lene eines Morgens. Gestern Abend hat er geschrieben. Sein Buch geht bald in den Druck. Er muß noch einmal hin nach Leipzig, aber er will hier nach dem Rechten sehen. Ist auch nötig, Anneli, du bist tüchtig wild geworden. Sudecks siud auch wieder da, ich sage, sie sollen dich nur wieder nehmen, für mich bist du zu wild, ich kann nicht auf dich achten. Schwester Lene sprach in dieser Art weiter, und Anneli hörte ihr halb ver¬ wundert zu. Meist war Schwester Lene nicht für das Reden, sondern höchstens für das Brummen. Es war auch gleich. Vergnügt lief Anneli in die Schule, wo es immer Schelte gab, weil sie nichts gelernt hatte. Aber Lehrer und Lehrerinnen schalten bekanntlich immer, dazu waren sie da. Christel Sudeck hatte das auch immer gesagt. Als Anneli an Christel dachte, ging sie gerade am Sudeckschen Hause vorbei, aus dessen Tür der Doktor kam. Er hatte sich verändert, war mager und grau geworden, und Anneli drückte sich i» eine Hausecke, damit er sie nicht sähe; dann wunderte sie sich, daß sie sich ver¬ steckte. Aber so etwas kam von selbst; und sie hatte auch keine Lust, wieder in das Sudecksche Haus zu kommen. Wo Christel nicht war. wo der unheimliche Schuppen im Garten stand, und der arme kleine Cäsar in der Erde lag. Weshalb sollte sie nicht auf dem Schloß wohnen bleiben? Sie war da fo schön frei, und niemand bekümmerte sich um sie. Grenzboten H 1906 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/509>, abgerufen am 28.12.2024.