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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie

Die Antike und der neue Idealismus

So hatten zwei Große, Graff und Schadow, den Weg zur Natur zurück¬
gewiesen. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Antikenbegeisterung, von
Winckelmann in neue Bahnen gelenkt, von Goethe und allen literarischen Größen
genährt, lenkte ab von diesem Ziele. Gewiß als Niederschlag der mächtigen
geistigen Erhebung, die der Aufschwung der Dichtkunst in Deutschland gebracht
hatte, haben wir die großartig begeisterten Regungen zweier Künstler zu be¬
trachten, die ihrem geistigen Wollen nach zu den allerersten zu rechnen sind,
in ihrem Können aber primitiv blieben. Es sind Asmus Jacob Carstens
(1754 bis 98) und Philipp Otto Runge (1777 bis 1810). Beide waren
Schüler der Kopenhagner Akademie, für deren Bedeutung sie gewiß das beste
Zeugnis ablegen. Carstens, der dickköpfige Müllerssohn, hat nach langen
Entbehrungen schließlich in Rom seine Heimat und seine Grabstätte gefunden.
Von ihm sind nur Zeichnungen da, die durch die Größe der Auffassung,
durch das Eindringliche der redenden Geste, der körperlichen Ausdrucksbewegung
und durch die Schönheit der Anordnung trotz allen technischen Fehlern wirken.
So groß wie er auf Ur. 2214/18 hat niemand je den blinden Sänger Homer
gefaßt, so wild erregt und bitter bewegt kein andrer die grausamen Parzen
geschildert, wie er auf Ur. 2210. Erst bei Vergleichen etwa mit dem affektiert
dramatischen Genelli (1798 bis 1868) wird die tiefe Innerlichkeit und Kraft seiner
Gestalten auf der Überfahrt des Megapenthes (2211, 1119) u. a. klar. Andre
Vergleiche mit dem Franzosen L. David mit seinem theatralischen Pathos und
dessen deutschen Nachahmern wie G. Schick könnten noch mehr die eigenartige
Größe offenbaren.

In demselben Zwiespalt zwischen Wollen und Können zeigt sich der
Hamburger Runge. Ähnlich herb und groß und voll edeln Strebens nach
möglichster Verinnerlichung. Gerade in dieser tiefen Charakterisierung in Aus¬
druck und Bewegung liegt bei Carstens wie bei Runge deutsche Eigenart und
Größe. Runge ist dazu trotz allen Schwächen schon mehr Maler. Wenn er
auch in seinen großen Porträts fast wie ein derber bäurischer Holzschnitzer er¬
scheint, wir fühlen doch ab und zu seine ausgeprägte Freude an der Farbe.
Schon das braune Carnat, der schwarze Mantel der Mutter (1468) u. a. zeigen
das. Zu diesen grobgeformten Stücken stehn in eigentümlichem Gegensatz die
feinen allegorischen Malereien, "der Morgen" genannt (1464/65), und verschiedne
Zeichnungen. Ganz abgesehen von dem außerordentlichen poetischen Gehalt dieser
wunderbaren Allegorie fallen hier die Sorgfalt der linearen Berechnung in der
Komposition und die zarte Duftigkeit der ganz in Licht getauchten beweglichen
Figuren auf.

Wenn diese beiden großen Wächter des deutschen Idealismus, Carstens
und Runge, immer zu voller Würdigung eine gewisse Abstraktion fordern, ohne
daß wir ganz auf die realen Werte der sichtbaren Erscheinung verzichten müßten,
sehen wir ihre Nachfolger sich bald uach dieser, bald nach jener Seite verlieren.
Da ist zunächst die Gruppe der Romfahrer. Ein Strom deutscher Künstler
wendet sich nach Rom. Die Antike und die Klassiker der italienischen Renaissance


Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie

Die Antike und der neue Idealismus

So hatten zwei Große, Graff und Schadow, den Weg zur Natur zurück¬
gewiesen. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Antikenbegeisterung, von
Winckelmann in neue Bahnen gelenkt, von Goethe und allen literarischen Größen
genährt, lenkte ab von diesem Ziele. Gewiß als Niederschlag der mächtigen
geistigen Erhebung, die der Aufschwung der Dichtkunst in Deutschland gebracht
hatte, haben wir die großartig begeisterten Regungen zweier Künstler zu be¬
trachten, die ihrem geistigen Wollen nach zu den allerersten zu rechnen sind,
in ihrem Können aber primitiv blieben. Es sind Asmus Jacob Carstens
(1754 bis 98) und Philipp Otto Runge (1777 bis 1810). Beide waren
Schüler der Kopenhagner Akademie, für deren Bedeutung sie gewiß das beste
Zeugnis ablegen. Carstens, der dickköpfige Müllerssohn, hat nach langen
Entbehrungen schließlich in Rom seine Heimat und seine Grabstätte gefunden.
Von ihm sind nur Zeichnungen da, die durch die Größe der Auffassung,
durch das Eindringliche der redenden Geste, der körperlichen Ausdrucksbewegung
und durch die Schönheit der Anordnung trotz allen technischen Fehlern wirken.
So groß wie er auf Ur. 2214/18 hat niemand je den blinden Sänger Homer
gefaßt, so wild erregt und bitter bewegt kein andrer die grausamen Parzen
geschildert, wie er auf Ur. 2210. Erst bei Vergleichen etwa mit dem affektiert
dramatischen Genelli (1798 bis 1868) wird die tiefe Innerlichkeit und Kraft seiner
Gestalten auf der Überfahrt des Megapenthes (2211, 1119) u. a. klar. Andre
Vergleiche mit dem Franzosen L. David mit seinem theatralischen Pathos und
dessen deutschen Nachahmern wie G. Schick könnten noch mehr die eigenartige
Größe offenbaren.

In demselben Zwiespalt zwischen Wollen und Können zeigt sich der
Hamburger Runge. Ähnlich herb und groß und voll edeln Strebens nach
möglichster Verinnerlichung. Gerade in dieser tiefen Charakterisierung in Aus¬
druck und Bewegung liegt bei Carstens wie bei Runge deutsche Eigenart und
Größe. Runge ist dazu trotz allen Schwächen schon mehr Maler. Wenn er
auch in seinen großen Porträts fast wie ein derber bäurischer Holzschnitzer er¬
scheint, wir fühlen doch ab und zu seine ausgeprägte Freude an der Farbe.
Schon das braune Carnat, der schwarze Mantel der Mutter (1468) u. a. zeigen
das. Zu diesen grobgeformten Stücken stehn in eigentümlichem Gegensatz die
feinen allegorischen Malereien, „der Morgen" genannt (1464/65), und verschiedne
Zeichnungen. Ganz abgesehen von dem außerordentlichen poetischen Gehalt dieser
wunderbaren Allegorie fallen hier die Sorgfalt der linearen Berechnung in der
Komposition und die zarte Duftigkeit der ganz in Licht getauchten beweglichen
Figuren auf.

Wenn diese beiden großen Wächter des deutschen Idealismus, Carstens
und Runge, immer zu voller Würdigung eine gewisse Abstraktion fordern, ohne
daß wir ganz auf die realen Werte der sichtbaren Erscheinung verzichten müßten,
sehen wir ihre Nachfolger sich bald uach dieser, bald nach jener Seite verlieren.
Da ist zunächst die Gruppe der Romfahrer. Ein Strom deutscher Künstler
wendet sich nach Rom. Die Antike und die Klassiker der italienischen Renaissance


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[0480] Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie Die Antike und der neue Idealismus So hatten zwei Große, Graff und Schadow, den Weg zur Natur zurück¬ gewiesen. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Antikenbegeisterung, von Winckelmann in neue Bahnen gelenkt, von Goethe und allen literarischen Größen genährt, lenkte ab von diesem Ziele. Gewiß als Niederschlag der mächtigen geistigen Erhebung, die der Aufschwung der Dichtkunst in Deutschland gebracht hatte, haben wir die großartig begeisterten Regungen zweier Künstler zu be¬ trachten, die ihrem geistigen Wollen nach zu den allerersten zu rechnen sind, in ihrem Können aber primitiv blieben. Es sind Asmus Jacob Carstens (1754 bis 98) und Philipp Otto Runge (1777 bis 1810). Beide waren Schüler der Kopenhagner Akademie, für deren Bedeutung sie gewiß das beste Zeugnis ablegen. Carstens, der dickköpfige Müllerssohn, hat nach langen Entbehrungen schließlich in Rom seine Heimat und seine Grabstätte gefunden. Von ihm sind nur Zeichnungen da, die durch die Größe der Auffassung, durch das Eindringliche der redenden Geste, der körperlichen Ausdrucksbewegung und durch die Schönheit der Anordnung trotz allen technischen Fehlern wirken. So groß wie er auf Ur. 2214/18 hat niemand je den blinden Sänger Homer gefaßt, so wild erregt und bitter bewegt kein andrer die grausamen Parzen geschildert, wie er auf Ur. 2210. Erst bei Vergleichen etwa mit dem affektiert dramatischen Genelli (1798 bis 1868) wird die tiefe Innerlichkeit und Kraft seiner Gestalten auf der Überfahrt des Megapenthes (2211, 1119) u. a. klar. Andre Vergleiche mit dem Franzosen L. David mit seinem theatralischen Pathos und dessen deutschen Nachahmern wie G. Schick könnten noch mehr die eigenartige Größe offenbaren. In demselben Zwiespalt zwischen Wollen und Können zeigt sich der Hamburger Runge. Ähnlich herb und groß und voll edeln Strebens nach möglichster Verinnerlichung. Gerade in dieser tiefen Charakterisierung in Aus¬ druck und Bewegung liegt bei Carstens wie bei Runge deutsche Eigenart und Größe. Runge ist dazu trotz allen Schwächen schon mehr Maler. Wenn er auch in seinen großen Porträts fast wie ein derber bäurischer Holzschnitzer er¬ scheint, wir fühlen doch ab und zu seine ausgeprägte Freude an der Farbe. Schon das braune Carnat, der schwarze Mantel der Mutter (1468) u. a. zeigen das. Zu diesen grobgeformten Stücken stehn in eigentümlichem Gegensatz die feinen allegorischen Malereien, „der Morgen" genannt (1464/65), und verschiedne Zeichnungen. Ganz abgesehen von dem außerordentlichen poetischen Gehalt dieser wunderbaren Allegorie fallen hier die Sorgfalt der linearen Berechnung in der Komposition und die zarte Duftigkeit der ganz in Licht getauchten beweglichen Figuren auf. Wenn diese beiden großen Wächter des deutschen Idealismus, Carstens und Runge, immer zu voller Würdigung eine gewisse Abstraktion fordern, ohne daß wir ganz auf die realen Werte der sichtbaren Erscheinung verzichten müßten, sehen wir ihre Nachfolger sich bald uach dieser, bald nach jener Seite verlieren. Da ist zunächst die Gruppe der Romfahrer. Ein Strom deutscher Künstler wendet sich nach Rom. Die Antike und die Klassiker der italienischen Renaissance

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/480>, abgerufen am 21.06.2024.