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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie

gegeben werden soll. Ein Gesamtbild der deutschen Kunst zu geben, wäre
nicht möglich gewesen, schon deshalb nicht, weil wir eine große einheitliche
Kunst im neunzehnten Jahrhundert nicht gehabt haben. Wer also gehofft
hatte, hier würde sich eine herrliche deutsche Kunstentfaltung aus der Vergessen¬
heit erheben, ist getäuscht worden. Eine einige Kunst gab es ebensowenig wie
ein einiges Deutschland. Wir haben wohl große Künstler gehabt, aber keine
große Kunst. Gerade das, was Frankreich so groß macht, einerseits die
mächtige Konzentration der Kraft in der Metropole Paris, wo jede geistige
Errungenheit gleich zum Besitztum des Volkes wird, andrerseits die gewaltige
stilistische Geschmackskultur der Sehnerven, die dort im mächtigen Strom vom
dekorativen Rokoko in das neue Jahrhundert übergeleitet wurde, gerade das
fehlt uns. Nicht daß wir uns nun eine gleiche Metropolisierung der Kunst
wünschten! Das hohe, dekorative Stilgefühl und der künstlerische Takt der
Franzosen werden uns immer fehlen. Unsre guten Seiten liegen, wie die Aus¬
stellung wieder zeigt, anderswo, und wir können uns nichts sehnlicher wünschen
als eine weitere Pflege der kleinen Lokalschulen. Ohne Intimität gibt es keine
deutsche Kunst. Wenn bei den Franzosen der Stil aus dem dekorativen Geschmacks¬
empfinden hervorwächst, so ist bei uns die Grundlage jedes Stils die Stimmung
im besten Sinne des Wortes. Ohne ein intimes Sichhineinleben in den Charakter
eines Gesichts, einer Landschaft wird nun einmal kein deutscher Künstler Großes
schaffen können oder wollen. So werden wir auch sehen, daß die Stimmungs¬
malerei der Biedermeierzeit durchschnittlich das Beste gewesen ist, was wir als
Ganzes geboten haben.

Das Rokoko

In der richtigen Erkenntnis, daß ein Volk und seine Entwicklung einem ge¬
schlossenen Organismus gleichen, wo eines aus dem andern emporwächst, hat man
die Grundlagen der Kultur, wie sie das ausgehende Rokoko gegeben hat, auch
vorgeführt und mit dem Jahre 1775 begonnen. Es tritt eine ganze Anzahl
Rokokomaler auf. An: stilechtesten erscheint ein gewisser bisher unbekannter
Johann 5z. Wilck (1785 bis 1820?) aus Schwerin mit dem Porträt eines alten,
in seinem blauen Kostüm kokett aussehenden Barons von Nohrscheidt (2000).
Pathetisch leer ist der in Wien endige H. Fr. Füger (1751 bis 1818), voller
Theaterphrase und ganz englisch in den Lichteffekten. Am ehesten sind noch
seine Miniaturen erträglich, typische Erzeugnisse eines Meisters aus der Zeit
des niedlichen Porzellans, glatt, elegant, ohne Festigkeit der Zeichnung, nur
ein zarter, süßlicher Lichthauch. Noch unbedeutender und ausdruckloser ist
G. von Kügelgen (1772 bis 1820), der bevorzugte Porträtist der Zeit in seinen
charakterlosen Bildnissen Goethes, Schillers, der Königin Luise und andrer. Viel
ehrlicher nehmen sich daneben die Bilder und zahlreichen Porträts von den
verschiednen Tischbeins (Vater Johann Heinrich 1722 bis 1789, Johann Jakob
1724 bis 1799, Johann H. Wilhelm, Sohn des ersten, 1751 bis 1829, Johann
Friedrich 1750 bis 1812) aus, die manchmal sogar fast trocken und nüchtern
erscheinend auch den Einfluß englischer Mode nicht verleugnen (1780). Am
amüsantesten sind einige Stillleben von Johann H. Wilhelm d. I. (1793 bis
1795). Technisch das Raffinierteste bietet der Wiener Johann Baptist Lampi


Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie

gegeben werden soll. Ein Gesamtbild der deutschen Kunst zu geben, wäre
nicht möglich gewesen, schon deshalb nicht, weil wir eine große einheitliche
Kunst im neunzehnten Jahrhundert nicht gehabt haben. Wer also gehofft
hatte, hier würde sich eine herrliche deutsche Kunstentfaltung aus der Vergessen¬
heit erheben, ist getäuscht worden. Eine einige Kunst gab es ebensowenig wie
ein einiges Deutschland. Wir haben wohl große Künstler gehabt, aber keine
große Kunst. Gerade das, was Frankreich so groß macht, einerseits die
mächtige Konzentration der Kraft in der Metropole Paris, wo jede geistige
Errungenheit gleich zum Besitztum des Volkes wird, andrerseits die gewaltige
stilistische Geschmackskultur der Sehnerven, die dort im mächtigen Strom vom
dekorativen Rokoko in das neue Jahrhundert übergeleitet wurde, gerade das
fehlt uns. Nicht daß wir uns nun eine gleiche Metropolisierung der Kunst
wünschten! Das hohe, dekorative Stilgefühl und der künstlerische Takt der
Franzosen werden uns immer fehlen. Unsre guten Seiten liegen, wie die Aus¬
stellung wieder zeigt, anderswo, und wir können uns nichts sehnlicher wünschen
als eine weitere Pflege der kleinen Lokalschulen. Ohne Intimität gibt es keine
deutsche Kunst. Wenn bei den Franzosen der Stil aus dem dekorativen Geschmacks¬
empfinden hervorwächst, so ist bei uns die Grundlage jedes Stils die Stimmung
im besten Sinne des Wortes. Ohne ein intimes Sichhineinleben in den Charakter
eines Gesichts, einer Landschaft wird nun einmal kein deutscher Künstler Großes
schaffen können oder wollen. So werden wir auch sehen, daß die Stimmungs¬
malerei der Biedermeierzeit durchschnittlich das Beste gewesen ist, was wir als
Ganzes geboten haben.

Das Rokoko

In der richtigen Erkenntnis, daß ein Volk und seine Entwicklung einem ge¬
schlossenen Organismus gleichen, wo eines aus dem andern emporwächst, hat man
die Grundlagen der Kultur, wie sie das ausgehende Rokoko gegeben hat, auch
vorgeführt und mit dem Jahre 1775 begonnen. Es tritt eine ganze Anzahl
Rokokomaler auf. An: stilechtesten erscheint ein gewisser bisher unbekannter
Johann 5z. Wilck (1785 bis 1820?) aus Schwerin mit dem Porträt eines alten,
in seinem blauen Kostüm kokett aussehenden Barons von Nohrscheidt (2000).
Pathetisch leer ist der in Wien endige H. Fr. Füger (1751 bis 1818), voller
Theaterphrase und ganz englisch in den Lichteffekten. Am ehesten sind noch
seine Miniaturen erträglich, typische Erzeugnisse eines Meisters aus der Zeit
des niedlichen Porzellans, glatt, elegant, ohne Festigkeit der Zeichnung, nur
ein zarter, süßlicher Lichthauch. Noch unbedeutender und ausdruckloser ist
G. von Kügelgen (1772 bis 1820), der bevorzugte Porträtist der Zeit in seinen
charakterlosen Bildnissen Goethes, Schillers, der Königin Luise und andrer. Viel
ehrlicher nehmen sich daneben die Bilder und zahlreichen Porträts von den
verschiednen Tischbeins (Vater Johann Heinrich 1722 bis 1789, Johann Jakob
1724 bis 1799, Johann H. Wilhelm, Sohn des ersten, 1751 bis 1829, Johann
Friedrich 1750 bis 1812) aus, die manchmal sogar fast trocken und nüchtern
erscheinend auch den Einfluß englischer Mode nicht verleugnen (1780). Am
amüsantesten sind einige Stillleben von Johann H. Wilhelm d. I. (1793 bis
1795). Technisch das Raffinierteste bietet der Wiener Johann Baptist Lampi


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[0478] Die deutsche Iahrhundertausstellung in der Nationalgalerie gegeben werden soll. Ein Gesamtbild der deutschen Kunst zu geben, wäre nicht möglich gewesen, schon deshalb nicht, weil wir eine große einheitliche Kunst im neunzehnten Jahrhundert nicht gehabt haben. Wer also gehofft hatte, hier würde sich eine herrliche deutsche Kunstentfaltung aus der Vergessen¬ heit erheben, ist getäuscht worden. Eine einige Kunst gab es ebensowenig wie ein einiges Deutschland. Wir haben wohl große Künstler gehabt, aber keine große Kunst. Gerade das, was Frankreich so groß macht, einerseits die mächtige Konzentration der Kraft in der Metropole Paris, wo jede geistige Errungenheit gleich zum Besitztum des Volkes wird, andrerseits die gewaltige stilistische Geschmackskultur der Sehnerven, die dort im mächtigen Strom vom dekorativen Rokoko in das neue Jahrhundert übergeleitet wurde, gerade das fehlt uns. Nicht daß wir uns nun eine gleiche Metropolisierung der Kunst wünschten! Das hohe, dekorative Stilgefühl und der künstlerische Takt der Franzosen werden uns immer fehlen. Unsre guten Seiten liegen, wie die Aus¬ stellung wieder zeigt, anderswo, und wir können uns nichts sehnlicher wünschen als eine weitere Pflege der kleinen Lokalschulen. Ohne Intimität gibt es keine deutsche Kunst. Wenn bei den Franzosen der Stil aus dem dekorativen Geschmacks¬ empfinden hervorwächst, so ist bei uns die Grundlage jedes Stils die Stimmung im besten Sinne des Wortes. Ohne ein intimes Sichhineinleben in den Charakter eines Gesichts, einer Landschaft wird nun einmal kein deutscher Künstler Großes schaffen können oder wollen. So werden wir auch sehen, daß die Stimmungs¬ malerei der Biedermeierzeit durchschnittlich das Beste gewesen ist, was wir als Ganzes geboten haben. Das Rokoko In der richtigen Erkenntnis, daß ein Volk und seine Entwicklung einem ge¬ schlossenen Organismus gleichen, wo eines aus dem andern emporwächst, hat man die Grundlagen der Kultur, wie sie das ausgehende Rokoko gegeben hat, auch vorgeführt und mit dem Jahre 1775 begonnen. Es tritt eine ganze Anzahl Rokokomaler auf. An: stilechtesten erscheint ein gewisser bisher unbekannter Johann 5z. Wilck (1785 bis 1820?) aus Schwerin mit dem Porträt eines alten, in seinem blauen Kostüm kokett aussehenden Barons von Nohrscheidt (2000). Pathetisch leer ist der in Wien endige H. Fr. Füger (1751 bis 1818), voller Theaterphrase und ganz englisch in den Lichteffekten. Am ehesten sind noch seine Miniaturen erträglich, typische Erzeugnisse eines Meisters aus der Zeit des niedlichen Porzellans, glatt, elegant, ohne Festigkeit der Zeichnung, nur ein zarter, süßlicher Lichthauch. Noch unbedeutender und ausdruckloser ist G. von Kügelgen (1772 bis 1820), der bevorzugte Porträtist der Zeit in seinen charakterlosen Bildnissen Goethes, Schillers, der Königin Luise und andrer. Viel ehrlicher nehmen sich daneben die Bilder und zahlreichen Porträts von den verschiednen Tischbeins (Vater Johann Heinrich 1722 bis 1789, Johann Jakob 1724 bis 1799, Johann H. Wilhelm, Sohn des ersten, 1751 bis 1829, Johann Friedrich 1750 bis 1812) aus, die manchmal sogar fast trocken und nüchtern erscheinend auch den Einfluß englischer Mode nicht verleugnen (1780). Am amüsantesten sind einige Stillleben von Johann H. Wilhelm d. I. (1793 bis 1795). Technisch das Raffinierteste bietet der Wiener Johann Baptist Lampi

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/478>, abgerufen am 27.12.2024.