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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Fensterscheiben auftauchen konnte, an die kleine gebrechliche Gestalt, die nicht mehr
in den Sonnenschein verlangte, sondern im Dunkel des Grabes schlief.

Aber Weihnachten kam und mit ihm Lichterglanz und eine unbestimmte Freude.
Bei Herrn Ehlers im Laden hingen bunte Sachen, und die Bauern kamen in die
Stadt mit grünen Tannenbäumen. Sogar der alte Peters trug ein Paket mit
Kuchen in der Hand, die er Slina schenkte, als diese eiligen Schrittes den Schloßberg
hinabging. Slina war jetzt immer in Eile und hatte ein sorgenvolles Gesicht. Die
Wohnung der alten Demoiselle, in der sie doch auch lange Jahre verbracht hatte,
mußte um Neujahr ganz geräumt werden, und der Kandidat hatte ihr noch nicht
angeboten, ganz zu ihm zu ziehn.

Aber die Kuchen nahm sie und steckte Anneli, die neben ihr herlief, gleich
einen davon in die Hand.

Nimm, Kind, mußt doch auch ein Weihnachtsfreude haben!

Slina, kriege ich ein Paar Schlittschuhe? fragte Anneli, in den Kuchen beißend.

Die Gefragte machte ein erstauntes Gesicht.

Schlittschuhe? Was will ein klein Deern mit Schlittschuhe? Hast soviel andres
nötig: Kleider, Schürzen, Hemden, und was noch allens. Schlittschuhe! Ich hab
auch nie Schlittschuhens gehabt.

Aber Anneli war doch überzeugt, daß ihr Wunsch in Erfüllung gehn würde.
Auch dann, als am andern Tage wieder eine Veränderung mit ihr eintrat, als sie
mit ihrem Koffer und ihren wenigen Schätzen wieder umziehn mußte. Diesesmal
nicht weit. Von Onkel Aurelius Wohnung in die von Onkel Willi, wo Schwester
Lene nicht gerade wohlwollend die kleine Kammer, in der Anneli schon einmal gehaust
hatte, wieder abgeben mußte.

Die Kleine begriff die Geschichte nicht ordentlich, erst allmählich wurde ihr
klar, daß Onkel Aurelius plötzlich auf Reisen ging, ihr eine kleine Rede hielt und
dabei sagte, daß er sehr bald wiederzukommen gedenke. Weil er den Tag aber
noch nicht bestimmen könnte -- mit Familienangelegenheiten hätte es immer eine
gewisse Schwierigkeit --, so wäre es besser, daß er seine Wohnung abschlösse.

Anneli weinte. Nun zog sie schon wieder um, und bei Onkel Aurelius war
es gemütlich gewesen, während Schwester Lenes Gesicht ihr nicht glückverheißend
erschien. Onkel Willi machte ebenfalls keinen sehr erfreuten Eindruck. Er war
in dieser Zeit fleißiger als jemals, und wenn man ihn nach irgend etwas fragte,
dann fuhr er auf wie aus tiefen Gedanken.

Slina, was ist eigentlich los? fragte Anneli kläglich. Da hatte ihr diese den Rest
ihrer Habseligkeiten ins neue Quartier gebracht und wischte noch einmal den Staub
von den wenigen Möbeln ab, den Schwester Lene reichlich zurückgelassen hatte.

Slina antwortete nicht gleich, dann wischte sie sich die Augen.

Was die Manners alle vorhaben, da weiß ich nix von. Ich bin kein Mann,
und da bin ich froh zu. Er hat ein Brief gekriegt, Herr Kcmderdat. Ein Kasine
von ihn hat ihn zu Weihnachten eingeladen, da wollt er n" mal hingehn.

Er kommt doch wirklich wieder?

Slina zuckte die Achseln.

Kann sein, kann nich sein. Ich kann ja so fein for ihn kochen, und er hätt
mir gern ne Heimat geben können, wo ich ihr doch gerade nötig hab, abers es
kann allens anders kommen.

Sie sprach mit der alten Düsterheit, und Anneli seufzte ebenfalls. Aber dann
richtete sie sich auch hier wieder ein und dachte darüber nach, was das Weihnachtsfest
ihr wohl bringen würde.

Am Tage vorher hatte Fräulein Sengelmann eine kleine Feier mit brennendem
Lichterbaum und mit Deklamation, und Anneli mußte einen französischen Vers her¬
sagen. Sie trug kein weißes Kleid wie ihre Schulgenossinnen, der blaue Kattunrock
von Tante Fritze lebte noch immer in seiner unheimlichen Stärke und hatte sogar
wegen seiner bunten Muster die Heiterkeit von Schwester Lene erregt.


Menschenfrühling

Fensterscheiben auftauchen konnte, an die kleine gebrechliche Gestalt, die nicht mehr
in den Sonnenschein verlangte, sondern im Dunkel des Grabes schlief.

Aber Weihnachten kam und mit ihm Lichterglanz und eine unbestimmte Freude.
Bei Herrn Ehlers im Laden hingen bunte Sachen, und die Bauern kamen in die
Stadt mit grünen Tannenbäumen. Sogar der alte Peters trug ein Paket mit
Kuchen in der Hand, die er Slina schenkte, als diese eiligen Schrittes den Schloßberg
hinabging. Slina war jetzt immer in Eile und hatte ein sorgenvolles Gesicht. Die
Wohnung der alten Demoiselle, in der sie doch auch lange Jahre verbracht hatte,
mußte um Neujahr ganz geräumt werden, und der Kandidat hatte ihr noch nicht
angeboten, ganz zu ihm zu ziehn.

Aber die Kuchen nahm sie und steckte Anneli, die neben ihr herlief, gleich
einen davon in die Hand.

Nimm, Kind, mußt doch auch ein Weihnachtsfreude haben!

Slina, kriege ich ein Paar Schlittschuhe? fragte Anneli, in den Kuchen beißend.

Die Gefragte machte ein erstauntes Gesicht.

Schlittschuhe? Was will ein klein Deern mit Schlittschuhe? Hast soviel andres
nötig: Kleider, Schürzen, Hemden, und was noch allens. Schlittschuhe! Ich hab
auch nie Schlittschuhens gehabt.

Aber Anneli war doch überzeugt, daß ihr Wunsch in Erfüllung gehn würde.
Auch dann, als am andern Tage wieder eine Veränderung mit ihr eintrat, als sie
mit ihrem Koffer und ihren wenigen Schätzen wieder umziehn mußte. Diesesmal
nicht weit. Von Onkel Aurelius Wohnung in die von Onkel Willi, wo Schwester
Lene nicht gerade wohlwollend die kleine Kammer, in der Anneli schon einmal gehaust
hatte, wieder abgeben mußte.

Die Kleine begriff die Geschichte nicht ordentlich, erst allmählich wurde ihr
klar, daß Onkel Aurelius plötzlich auf Reisen ging, ihr eine kleine Rede hielt und
dabei sagte, daß er sehr bald wiederzukommen gedenke. Weil er den Tag aber
noch nicht bestimmen könnte — mit Familienangelegenheiten hätte es immer eine
gewisse Schwierigkeit —, so wäre es besser, daß er seine Wohnung abschlösse.

Anneli weinte. Nun zog sie schon wieder um, und bei Onkel Aurelius war
es gemütlich gewesen, während Schwester Lenes Gesicht ihr nicht glückverheißend
erschien. Onkel Willi machte ebenfalls keinen sehr erfreuten Eindruck. Er war
in dieser Zeit fleißiger als jemals, und wenn man ihn nach irgend etwas fragte,
dann fuhr er auf wie aus tiefen Gedanken.

Slina, was ist eigentlich los? fragte Anneli kläglich. Da hatte ihr diese den Rest
ihrer Habseligkeiten ins neue Quartier gebracht und wischte noch einmal den Staub
von den wenigen Möbeln ab, den Schwester Lene reichlich zurückgelassen hatte.

Slina antwortete nicht gleich, dann wischte sie sich die Augen.

Was die Manners alle vorhaben, da weiß ich nix von. Ich bin kein Mann,
und da bin ich froh zu. Er hat ein Brief gekriegt, Herr Kcmderdat. Ein Kasine
von ihn hat ihn zu Weihnachten eingeladen, da wollt er n» mal hingehn.

Er kommt doch wirklich wieder?

Slina zuckte die Achseln.

Kann sein, kann nich sein. Ich kann ja so fein for ihn kochen, und er hätt
mir gern ne Heimat geben können, wo ich ihr doch gerade nötig hab, abers es
kann allens anders kommen.

Sie sprach mit der alten Düsterheit, und Anneli seufzte ebenfalls. Aber dann
richtete sie sich auch hier wieder ein und dachte darüber nach, was das Weihnachtsfest
ihr wohl bringen würde.

Am Tage vorher hatte Fräulein Sengelmann eine kleine Feier mit brennendem
Lichterbaum und mit Deklamation, und Anneli mußte einen französischen Vers her¬
sagen. Sie trug kein weißes Kleid wie ihre Schulgenossinnen, der blaue Kattunrock
von Tante Fritze lebte noch immer in seiner unheimlichen Stärke und hatte sogar
wegen seiner bunten Muster die Heiterkeit von Schwester Lene erregt.


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[0451] Menschenfrühling Fensterscheiben auftauchen konnte, an die kleine gebrechliche Gestalt, die nicht mehr in den Sonnenschein verlangte, sondern im Dunkel des Grabes schlief. Aber Weihnachten kam und mit ihm Lichterglanz und eine unbestimmte Freude. Bei Herrn Ehlers im Laden hingen bunte Sachen, und die Bauern kamen in die Stadt mit grünen Tannenbäumen. Sogar der alte Peters trug ein Paket mit Kuchen in der Hand, die er Slina schenkte, als diese eiligen Schrittes den Schloßberg hinabging. Slina war jetzt immer in Eile und hatte ein sorgenvolles Gesicht. Die Wohnung der alten Demoiselle, in der sie doch auch lange Jahre verbracht hatte, mußte um Neujahr ganz geräumt werden, und der Kandidat hatte ihr noch nicht angeboten, ganz zu ihm zu ziehn. Aber die Kuchen nahm sie und steckte Anneli, die neben ihr herlief, gleich einen davon in die Hand. Nimm, Kind, mußt doch auch ein Weihnachtsfreude haben! Slina, kriege ich ein Paar Schlittschuhe? fragte Anneli, in den Kuchen beißend. Die Gefragte machte ein erstauntes Gesicht. Schlittschuhe? Was will ein klein Deern mit Schlittschuhe? Hast soviel andres nötig: Kleider, Schürzen, Hemden, und was noch allens. Schlittschuhe! Ich hab auch nie Schlittschuhens gehabt. Aber Anneli war doch überzeugt, daß ihr Wunsch in Erfüllung gehn würde. Auch dann, als am andern Tage wieder eine Veränderung mit ihr eintrat, als sie mit ihrem Koffer und ihren wenigen Schätzen wieder umziehn mußte. Diesesmal nicht weit. Von Onkel Aurelius Wohnung in die von Onkel Willi, wo Schwester Lene nicht gerade wohlwollend die kleine Kammer, in der Anneli schon einmal gehaust hatte, wieder abgeben mußte. Die Kleine begriff die Geschichte nicht ordentlich, erst allmählich wurde ihr klar, daß Onkel Aurelius plötzlich auf Reisen ging, ihr eine kleine Rede hielt und dabei sagte, daß er sehr bald wiederzukommen gedenke. Weil er den Tag aber noch nicht bestimmen könnte — mit Familienangelegenheiten hätte es immer eine gewisse Schwierigkeit —, so wäre es besser, daß er seine Wohnung abschlösse. Anneli weinte. Nun zog sie schon wieder um, und bei Onkel Aurelius war es gemütlich gewesen, während Schwester Lenes Gesicht ihr nicht glückverheißend erschien. Onkel Willi machte ebenfalls keinen sehr erfreuten Eindruck. Er war in dieser Zeit fleißiger als jemals, und wenn man ihn nach irgend etwas fragte, dann fuhr er auf wie aus tiefen Gedanken. Slina, was ist eigentlich los? fragte Anneli kläglich. Da hatte ihr diese den Rest ihrer Habseligkeiten ins neue Quartier gebracht und wischte noch einmal den Staub von den wenigen Möbeln ab, den Schwester Lene reichlich zurückgelassen hatte. Slina antwortete nicht gleich, dann wischte sie sich die Augen. Was die Manners alle vorhaben, da weiß ich nix von. Ich bin kein Mann, und da bin ich froh zu. Er hat ein Brief gekriegt, Herr Kcmderdat. Ein Kasine von ihn hat ihn zu Weihnachten eingeladen, da wollt er n» mal hingehn. Er kommt doch wirklich wieder? Slina zuckte die Achseln. Kann sein, kann nich sein. Ich kann ja so fein for ihn kochen, und er hätt mir gern ne Heimat geben können, wo ich ihr doch gerade nötig hab, abers es kann allens anders kommen. Sie sprach mit der alten Düsterheit, und Anneli seufzte ebenfalls. Aber dann richtete sie sich auch hier wieder ein und dachte darüber nach, was das Weihnachtsfest ihr wohl bringen würde. Am Tage vorher hatte Fräulein Sengelmann eine kleine Feier mit brennendem Lichterbaum und mit Deklamation, und Anneli mußte einen französischen Vers her¬ sagen. Sie trug kein weißes Kleid wie ihre Schulgenossinnen, der blaue Kattunrock von Tante Fritze lebte noch immer in seiner unheimlichen Stärke und hatte sogar wegen seiner bunten Muster die Heiterkeit von Schwester Lene erregt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/451>, abgerufen am 27.12.2024.