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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Kapriolen machte? Er stöhnte über das Podagra, das ihn im linken großen Zeh
kniff, und ließ sich ein neu erschienenes Doktorbuch kommen, um ein Gegenmittel zu
finden. Auch Anneli dachte nicht an die alte Demoiselle. Es gab wieder Schlackerwetter
und düstere, graue, vom Winde gepeitschte Wolken, da war es nichts mit dem See
und seiner Eisdecke, Herrn Peterleins Schlittschuhe hingen blitzend im Ladenfenster,
ohne daß er sie mit strahlendem Lächeln zu verkaufen brauchte.

Aber das Weihnachtsfest nahte doch. Im Privatkursus bei Fräulein Sengel¬
mann wurden Wunschzettel geschrieben, und Slina Böteführ ging zum Herrn Hof¬
rat, um ihm einige Wünsche für Anneli zu unterbreiten. Sie hatte alles nötig,
Kleider, Bücher, Strümpfe, Schuhe. Mit erhobner Stimme rechnete Slina diese
Bedürfnisse ans, und der Hofrat seufzte verlegen und strich über fein weißes Haar.

Er mochte nicht sagen, daß er selbst nicht viel Geld hatte, aber Slina ver¬
stand ihn doch und strich fast alle Wünsche, obgleich es ihr schwer wurde.

Er hat grasig wenig, sagte sie nachher zu Onkel Aurelius, den sie in schwachen
Stunden ihren Kandidaten nannte, und dieser zuckte die Achseln.

Er hat nie viel gehabt, Slina. Fürs Geldverdienen war er nicht, und so
eine kleine Pension ist schnell verbraucht.

Wir könnten die Kleine vielleicht ganz für umsonst haben, meinte Slina zögernd.
Denn der Hofrat bezahlte natürlich für seine Nichte ein kleines Kostgeld.

Aurelius ging an seinen Schreibtisch und holte ein kleines Paket heraus.

Hier ist das Geld, das Willi Pankow mir für Aureus Wohnung und Essen
gegeben hat. Er hat mich immer Sie genannt und die Nase gerümpft, als ich
herkam. Aber die Kleine solls nicht entgelten, und Sie können ihr etwas Nütz¬
liches für die paar Taler anschaffen, Stirn. Vielleicht kriege ich noch einen Lohn
für meine Großmut.

Er zwinkerte mit den Augen, und Slina wollte die ihren verschämt nieder¬
schlagen, doch Onkel Aurelius hatte sich schon von ihr gewandt, und die Verschämt¬
heit war nutzlos.

Es waren noch vierzehn Tage bis zum Fest. In der Schule wurden Weih¬
nachtslieder gelernt und die Stunden gezählt, bis der Weihnachtsglanz kommen
würde. Anneli kannte kein rechtes Weihnachtsfest. Die Frau Bäckermeisterin hatte
ihr Wohl am Sankt Nikolaustag den Schuh mit Süßigkeiten gefüllt und ihr Weih¬
nachten etwas Spekulatius geschenkt, aber ein brennender Lichterbaum war in Virne-
burg nicht Mode gewesen.

Heute saß Anneli wieder neben ihres Onkels Zimmer, lernte ihre Aufgaben
und schaute aus dem Fenster in das graue Winterwetter. Gab es denn gar keine
Sonne mehr, keinen blauen Himmel, kein Eis und keinen Schnee? Mußte man immer
lernen und immer in die Schule gehn? Christel hatte gesagt, das Leben ist lang¬
weilig, deshalb hatte sie es verlassen, und Cäsar schlief in der Erde. Der kleine
braune Kerl mit den treuen Augen und dem lächerlichen Schwänzchen. Wo war
er jetzt, und wo war Christel?

Anneli war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie nicht gehört hatte, wie
jemand zu ihrem Onkel eingetreten war. Schwester Lene hatte die kleine Nische
durch einen Vorhang von der Stube getrennt, weil sie meinte, der Herr Hofrat
wäre lieber ganz für sich, und vielleicht war es ihm wirklich angenehm. Denn er
sprach noch immer viel mit sich, las seine geschriebn?" Sätze vor und dachte nicht
an seine kleine Nichte. Gerade wie sie sich auch an sein Sprechen gewöhnt hatte
und nur selten darauf achtete.

Aber heute sprach eine andre Stimme als die ihres Onkels.

Wahrhaftig, lieber Hofrat, Sie haben sich gut konserviert, ganz vorzüglich.
Weiße Haare? Lieber Gott, die sind heutzutage sehr modern; Prinz Edmund ist
noch nicht dreißig und ist schon gesprenkelt wie ein Perlhuhn. Sie wissen, der
zweite Sohn Ihrer Königlichen Hoheit. Ein scharmanter Herr sonst, sehr liebens¬
würdig. Hat nach Ihnen gefragt, obgleich er Sie nicht kennt. Die alte Amour


Menschenfrühling

Kapriolen machte? Er stöhnte über das Podagra, das ihn im linken großen Zeh
kniff, und ließ sich ein neu erschienenes Doktorbuch kommen, um ein Gegenmittel zu
finden. Auch Anneli dachte nicht an die alte Demoiselle. Es gab wieder Schlackerwetter
und düstere, graue, vom Winde gepeitschte Wolken, da war es nichts mit dem See
und seiner Eisdecke, Herrn Peterleins Schlittschuhe hingen blitzend im Ladenfenster,
ohne daß er sie mit strahlendem Lächeln zu verkaufen brauchte.

Aber das Weihnachtsfest nahte doch. Im Privatkursus bei Fräulein Sengel¬
mann wurden Wunschzettel geschrieben, und Slina Böteführ ging zum Herrn Hof¬
rat, um ihm einige Wünsche für Anneli zu unterbreiten. Sie hatte alles nötig,
Kleider, Bücher, Strümpfe, Schuhe. Mit erhobner Stimme rechnete Slina diese
Bedürfnisse ans, und der Hofrat seufzte verlegen und strich über fein weißes Haar.

Er mochte nicht sagen, daß er selbst nicht viel Geld hatte, aber Slina ver¬
stand ihn doch und strich fast alle Wünsche, obgleich es ihr schwer wurde.

Er hat grasig wenig, sagte sie nachher zu Onkel Aurelius, den sie in schwachen
Stunden ihren Kandidaten nannte, und dieser zuckte die Achseln.

Er hat nie viel gehabt, Slina. Fürs Geldverdienen war er nicht, und so
eine kleine Pension ist schnell verbraucht.

Wir könnten die Kleine vielleicht ganz für umsonst haben, meinte Slina zögernd.
Denn der Hofrat bezahlte natürlich für seine Nichte ein kleines Kostgeld.

Aurelius ging an seinen Schreibtisch und holte ein kleines Paket heraus.

Hier ist das Geld, das Willi Pankow mir für Aureus Wohnung und Essen
gegeben hat. Er hat mich immer Sie genannt und die Nase gerümpft, als ich
herkam. Aber die Kleine solls nicht entgelten, und Sie können ihr etwas Nütz¬
liches für die paar Taler anschaffen, Stirn. Vielleicht kriege ich noch einen Lohn
für meine Großmut.

Er zwinkerte mit den Augen, und Slina wollte die ihren verschämt nieder¬
schlagen, doch Onkel Aurelius hatte sich schon von ihr gewandt, und die Verschämt¬
heit war nutzlos.

Es waren noch vierzehn Tage bis zum Fest. In der Schule wurden Weih¬
nachtslieder gelernt und die Stunden gezählt, bis der Weihnachtsglanz kommen
würde. Anneli kannte kein rechtes Weihnachtsfest. Die Frau Bäckermeisterin hatte
ihr Wohl am Sankt Nikolaustag den Schuh mit Süßigkeiten gefüllt und ihr Weih¬
nachten etwas Spekulatius geschenkt, aber ein brennender Lichterbaum war in Virne-
burg nicht Mode gewesen.

Heute saß Anneli wieder neben ihres Onkels Zimmer, lernte ihre Aufgaben
und schaute aus dem Fenster in das graue Winterwetter. Gab es denn gar keine
Sonne mehr, keinen blauen Himmel, kein Eis und keinen Schnee? Mußte man immer
lernen und immer in die Schule gehn? Christel hatte gesagt, das Leben ist lang¬
weilig, deshalb hatte sie es verlassen, und Cäsar schlief in der Erde. Der kleine
braune Kerl mit den treuen Augen und dem lächerlichen Schwänzchen. Wo war
er jetzt, und wo war Christel?

Anneli war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie nicht gehört hatte, wie
jemand zu ihrem Onkel eingetreten war. Schwester Lene hatte die kleine Nische
durch einen Vorhang von der Stube getrennt, weil sie meinte, der Herr Hofrat
wäre lieber ganz für sich, und vielleicht war es ihm wirklich angenehm. Denn er
sprach noch immer viel mit sich, las seine geschriebn?» Sätze vor und dachte nicht
an seine kleine Nichte. Gerade wie sie sich auch an sein Sprechen gewöhnt hatte
und nur selten darauf achtete.

Aber heute sprach eine andre Stimme als die ihres Onkels.

Wahrhaftig, lieber Hofrat, Sie haben sich gut konserviert, ganz vorzüglich.
Weiße Haare? Lieber Gott, die sind heutzutage sehr modern; Prinz Edmund ist
noch nicht dreißig und ist schon gesprenkelt wie ein Perlhuhn. Sie wissen, der
zweite Sohn Ihrer Königlichen Hoheit. Ein scharmanter Herr sonst, sehr liebens¬
würdig. Hat nach Ihnen gefragt, obgleich er Sie nicht kennt. Die alte Amour


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[0450] Menschenfrühling Kapriolen machte? Er stöhnte über das Podagra, das ihn im linken großen Zeh kniff, und ließ sich ein neu erschienenes Doktorbuch kommen, um ein Gegenmittel zu finden. Auch Anneli dachte nicht an die alte Demoiselle. Es gab wieder Schlackerwetter und düstere, graue, vom Winde gepeitschte Wolken, da war es nichts mit dem See und seiner Eisdecke, Herrn Peterleins Schlittschuhe hingen blitzend im Ladenfenster, ohne daß er sie mit strahlendem Lächeln zu verkaufen brauchte. Aber das Weihnachtsfest nahte doch. Im Privatkursus bei Fräulein Sengel¬ mann wurden Wunschzettel geschrieben, und Slina Böteführ ging zum Herrn Hof¬ rat, um ihm einige Wünsche für Anneli zu unterbreiten. Sie hatte alles nötig, Kleider, Bücher, Strümpfe, Schuhe. Mit erhobner Stimme rechnete Slina diese Bedürfnisse ans, und der Hofrat seufzte verlegen und strich über fein weißes Haar. Er mochte nicht sagen, daß er selbst nicht viel Geld hatte, aber Slina ver¬ stand ihn doch und strich fast alle Wünsche, obgleich es ihr schwer wurde. Er hat grasig wenig, sagte sie nachher zu Onkel Aurelius, den sie in schwachen Stunden ihren Kandidaten nannte, und dieser zuckte die Achseln. Er hat nie viel gehabt, Slina. Fürs Geldverdienen war er nicht, und so eine kleine Pension ist schnell verbraucht. Wir könnten die Kleine vielleicht ganz für umsonst haben, meinte Slina zögernd. Denn der Hofrat bezahlte natürlich für seine Nichte ein kleines Kostgeld. Aurelius ging an seinen Schreibtisch und holte ein kleines Paket heraus. Hier ist das Geld, das Willi Pankow mir für Aureus Wohnung und Essen gegeben hat. Er hat mich immer Sie genannt und die Nase gerümpft, als ich herkam. Aber die Kleine solls nicht entgelten, und Sie können ihr etwas Nütz¬ liches für die paar Taler anschaffen, Stirn. Vielleicht kriege ich noch einen Lohn für meine Großmut. Er zwinkerte mit den Augen, und Slina wollte die ihren verschämt nieder¬ schlagen, doch Onkel Aurelius hatte sich schon von ihr gewandt, und die Verschämt¬ heit war nutzlos. Es waren noch vierzehn Tage bis zum Fest. In der Schule wurden Weih¬ nachtslieder gelernt und die Stunden gezählt, bis der Weihnachtsglanz kommen würde. Anneli kannte kein rechtes Weihnachtsfest. Die Frau Bäckermeisterin hatte ihr Wohl am Sankt Nikolaustag den Schuh mit Süßigkeiten gefüllt und ihr Weih¬ nachten etwas Spekulatius geschenkt, aber ein brennender Lichterbaum war in Virne- burg nicht Mode gewesen. Heute saß Anneli wieder neben ihres Onkels Zimmer, lernte ihre Aufgaben und schaute aus dem Fenster in das graue Winterwetter. Gab es denn gar keine Sonne mehr, keinen blauen Himmel, kein Eis und keinen Schnee? Mußte man immer lernen und immer in die Schule gehn? Christel hatte gesagt, das Leben ist lang¬ weilig, deshalb hatte sie es verlassen, und Cäsar schlief in der Erde. Der kleine braune Kerl mit den treuen Augen und dem lächerlichen Schwänzchen. Wo war er jetzt, und wo war Christel? Anneli war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie nicht gehört hatte, wie jemand zu ihrem Onkel eingetreten war. Schwester Lene hatte die kleine Nische durch einen Vorhang von der Stube getrennt, weil sie meinte, der Herr Hofrat wäre lieber ganz für sich, und vielleicht war es ihm wirklich angenehm. Denn er sprach noch immer viel mit sich, las seine geschriebn?» Sätze vor und dachte nicht an seine kleine Nichte. Gerade wie sie sich auch an sein Sprechen gewöhnt hatte und nur selten darauf achtete. Aber heute sprach eine andre Stimme als die ihres Onkels. Wahrhaftig, lieber Hofrat, Sie haben sich gut konserviert, ganz vorzüglich. Weiße Haare? Lieber Gott, die sind heutzutage sehr modern; Prinz Edmund ist noch nicht dreißig und ist schon gesprenkelt wie ein Perlhuhn. Sie wissen, der zweite Sohn Ihrer Königlichen Hoheit. Ein scharmanter Herr sonst, sehr liebens¬ würdig. Hat nach Ihnen gefragt, obgleich er Sie nicht kennt. Die alte Amour

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/450>, abgerufen am 04.07.2024.