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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Anlaß beim. Aber keiner der beiden Monarchen denkt daran, diese Begegnung für
eine neue politische Aktion auszubeuten oder sie als Gegenconp irgendwelcher Art zu
behandeln. Es sind zwei alte Freunde, die sich wiedersehen, dieser Besuch sollte deshalb
eigentlich viel weniger Anlaß zu Kommentaren bieten als irgendeine andre fürstliche
Begegnung, die in den letzten Jahren geschehn oder -- unterblieben ist.

Vielleicht hat Kaiser Wilhelms Wiener Reise mich noch einen ganz andern Ur¬
sprung. Seit Jahren hat König Karl von Rumänien Anspruch auf einen Gegenbesuch
des Deutschen Kaisers. Längst war dieser zugesagt, und wie in einzelnen Kreisen ver¬
lautet, für die Feier des vierzigjährige" Negierungsjubiläums des Königs in Aussicht
genommen worden. Der schonungsbedürftige Gesundheitszustand des rumänischen
Monarchen hat die Ausführung dieser Absicht unmöglich gemacht. Selbstverständlich
würde eine solche Reise auch zu einer Begegnung mit dem Kaiser Franz Joseph
geführt haben. Nun gelangt wenigstens diese zur Ausführung. Sie kann bei dem
Charakter des persönlichen Verhältnisses beider Herrscher zueinander absolut nichts
auffälliges haben, es liegen ihr keinerlei Pläne, keine politischen Zwecke zugrunde,
wohl aber das Bedürfnis einer mündlichen Aussprache inmitten einer ernsten und
vielbewegten Zeit über Fragen, die beide Souveräne gemeinsam interessieren. Die
Ungarn, die sich über diesen Besuch aufregen und ihn mißfällig kritisieren, haben
augenscheinlich vergessen, daß die Zeit, in der sie Deutschland vielen Dank wußten,
und in der sie die enge Anlehnung der Habsburgischen Monarchie an Deutschland
als eine politische und wirtschaftliche Notwendigkeit für Ungarn ansahen, noch keines¬
wegs weit zurückliegt. Vielleicht erinnern sich ihre Wortführer wieder daran, wenn
sie hinreichend entnüchtert sind, um begreifen zu können, daß die in Rußland ein-
getretnen Veränderungen und die neue Orientierung der russischen Politik für
Rußlands Nachbarn unendlich wichtiger ist als alles Posieren des magyarischen
Chauvinismus. In anerkennenswerter Weise haben sich in diesen letzten Tagen die
ungarischen Minister angelegen sein lassen, den Argwohn ihrer Landsleute in bezug
auf Deutschland zu zerstreuen und dem Bündnis sowie der Bündnistreue den alten
historischen Platz einzuräumen.

Kaum ist Herr von Jswolsky, der neue russische Minister des Auswärtigen,
für diesen Posten statt für die Berliner Botschaft ernannt worden, so gefallen sich
deutsche Blätter leider darin, ihn als "Deutschenhasser" auszugeben, während
sie ihm zugleich bescheinigen, daß er "ein ausgezeichneter Diplomat" sei. Ein
solcher Diplomat ist doch niemals ein "Hasser". Ein "ausgezeichneter" Diplomat
ist nur ein solcher, der es versteht, aus allen Blüten Honig zu fangen. Bismarck
pflegte zu sagen, daß die Eitelkeit eine Hypothek auf den Charakter sei, Haß wäre
eine noch viel stärkere Belastung jeder stantsmännischen Begabung. Einen Minister
des Auswärtigen, der "haßt", könnte zudem Nußland gegenwärtig am allerwenigsten
gebrauchen. Von einem leider nicht geringen Teil unsrer Presse wird in dieser
Beziehung mit ebensoviel Leichtsinn wie Unwissenheit und kindischer Naivität ver¬
fahren. Als Herr von Jswolsky im vorigen Herbst wiederholt in Berlin war, gab
er seinen dortigen Bekannten gegenüber, die in der vornehmer" Berliner Gesellschaft
ziemlich zahlreich sind, seiner Freude, auf den Berliner Posten zu kommen, in un-
umwundner Weise Ausdruck, was damals auch in der Presse bekannt geworden
ist. Die diesseitige Zustimmung war schon erbeten und mit großer Bereitwilligkeit
erteilt worden. Unser neuer Botschafter in Petersburg, Herr vou Schoen, hatte
in Kopenhagen mit seinem russischen Kollegen Jswolsky sehr gute Beziehungen
unterhalten, und man war berechtigt, in Jswolskys Ernennung nach Berlin den
Ausdruck der Absicht des Kaisers Nikolaus zu sehen, mit Deutschland auf einen
wirklich intimen Fuß zu komme". Die Ernennung Jswolskys zum Minister des
Auswärtigen -- statt zum Berliner Botschafter -- ist jedenfalls nichts weniger als
der Ausdruck der entgegengesetzten Absicht. Es war Zeit, daß die auswärtige Politik
Rußlands wieder in die Hände eines wirklichen Staatsmanns gelegt wurde, als der
sich Graf Lambsdorff bekanntlich nicht erwiesen hat. Vielleicht geht die Behauptung


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Anlaß beim. Aber keiner der beiden Monarchen denkt daran, diese Begegnung für
eine neue politische Aktion auszubeuten oder sie als Gegenconp irgendwelcher Art zu
behandeln. Es sind zwei alte Freunde, die sich wiedersehen, dieser Besuch sollte deshalb
eigentlich viel weniger Anlaß zu Kommentaren bieten als irgendeine andre fürstliche
Begegnung, die in den letzten Jahren geschehn oder — unterblieben ist.

Vielleicht hat Kaiser Wilhelms Wiener Reise mich noch einen ganz andern Ur¬
sprung. Seit Jahren hat König Karl von Rumänien Anspruch auf einen Gegenbesuch
des Deutschen Kaisers. Längst war dieser zugesagt, und wie in einzelnen Kreisen ver¬
lautet, für die Feier des vierzigjährige» Negierungsjubiläums des Königs in Aussicht
genommen worden. Der schonungsbedürftige Gesundheitszustand des rumänischen
Monarchen hat die Ausführung dieser Absicht unmöglich gemacht. Selbstverständlich
würde eine solche Reise auch zu einer Begegnung mit dem Kaiser Franz Joseph
geführt haben. Nun gelangt wenigstens diese zur Ausführung. Sie kann bei dem
Charakter des persönlichen Verhältnisses beider Herrscher zueinander absolut nichts
auffälliges haben, es liegen ihr keinerlei Pläne, keine politischen Zwecke zugrunde,
wohl aber das Bedürfnis einer mündlichen Aussprache inmitten einer ernsten und
vielbewegten Zeit über Fragen, die beide Souveräne gemeinsam interessieren. Die
Ungarn, die sich über diesen Besuch aufregen und ihn mißfällig kritisieren, haben
augenscheinlich vergessen, daß die Zeit, in der sie Deutschland vielen Dank wußten,
und in der sie die enge Anlehnung der Habsburgischen Monarchie an Deutschland
als eine politische und wirtschaftliche Notwendigkeit für Ungarn ansahen, noch keines¬
wegs weit zurückliegt. Vielleicht erinnern sich ihre Wortführer wieder daran, wenn
sie hinreichend entnüchtert sind, um begreifen zu können, daß die in Rußland ein-
getretnen Veränderungen und die neue Orientierung der russischen Politik für
Rußlands Nachbarn unendlich wichtiger ist als alles Posieren des magyarischen
Chauvinismus. In anerkennenswerter Weise haben sich in diesen letzten Tagen die
ungarischen Minister angelegen sein lassen, den Argwohn ihrer Landsleute in bezug
auf Deutschland zu zerstreuen und dem Bündnis sowie der Bündnistreue den alten
historischen Platz einzuräumen.

Kaum ist Herr von Jswolsky, der neue russische Minister des Auswärtigen,
für diesen Posten statt für die Berliner Botschaft ernannt worden, so gefallen sich
deutsche Blätter leider darin, ihn als „Deutschenhasser" auszugeben, während
sie ihm zugleich bescheinigen, daß er „ein ausgezeichneter Diplomat" sei. Ein
solcher Diplomat ist doch niemals ein „Hasser". Ein „ausgezeichneter" Diplomat
ist nur ein solcher, der es versteht, aus allen Blüten Honig zu fangen. Bismarck
pflegte zu sagen, daß die Eitelkeit eine Hypothek auf den Charakter sei, Haß wäre
eine noch viel stärkere Belastung jeder stantsmännischen Begabung. Einen Minister
des Auswärtigen, der „haßt", könnte zudem Nußland gegenwärtig am allerwenigsten
gebrauchen. Von einem leider nicht geringen Teil unsrer Presse wird in dieser
Beziehung mit ebensoviel Leichtsinn wie Unwissenheit und kindischer Naivität ver¬
fahren. Als Herr von Jswolsky im vorigen Herbst wiederholt in Berlin war, gab
er seinen dortigen Bekannten gegenüber, die in der vornehmer» Berliner Gesellschaft
ziemlich zahlreich sind, seiner Freude, auf den Berliner Posten zu kommen, in un-
umwundner Weise Ausdruck, was damals auch in der Presse bekannt geworden
ist. Die diesseitige Zustimmung war schon erbeten und mit großer Bereitwilligkeit
erteilt worden. Unser neuer Botschafter in Petersburg, Herr vou Schoen, hatte
in Kopenhagen mit seinem russischen Kollegen Jswolsky sehr gute Beziehungen
unterhalten, und man war berechtigt, in Jswolskys Ernennung nach Berlin den
Ausdruck der Absicht des Kaisers Nikolaus zu sehen, mit Deutschland auf einen
wirklich intimen Fuß zu komme». Die Ernennung Jswolskys zum Minister des
Auswärtigen — statt zum Berliner Botschafter — ist jedenfalls nichts weniger als
der Ausdruck der entgegengesetzten Absicht. Es war Zeit, daß die auswärtige Politik
Rußlands wieder in die Hände eines wirklichen Staatsmanns gelegt wurde, als der
sich Graf Lambsdorff bekanntlich nicht erwiesen hat. Vielleicht geht die Behauptung


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[0404] Maßgebliches und Unmaßgebliches Anlaß beim. Aber keiner der beiden Monarchen denkt daran, diese Begegnung für eine neue politische Aktion auszubeuten oder sie als Gegenconp irgendwelcher Art zu behandeln. Es sind zwei alte Freunde, die sich wiedersehen, dieser Besuch sollte deshalb eigentlich viel weniger Anlaß zu Kommentaren bieten als irgendeine andre fürstliche Begegnung, die in den letzten Jahren geschehn oder — unterblieben ist. Vielleicht hat Kaiser Wilhelms Wiener Reise mich noch einen ganz andern Ur¬ sprung. Seit Jahren hat König Karl von Rumänien Anspruch auf einen Gegenbesuch des Deutschen Kaisers. Längst war dieser zugesagt, und wie in einzelnen Kreisen ver¬ lautet, für die Feier des vierzigjährige» Negierungsjubiläums des Königs in Aussicht genommen worden. Der schonungsbedürftige Gesundheitszustand des rumänischen Monarchen hat die Ausführung dieser Absicht unmöglich gemacht. Selbstverständlich würde eine solche Reise auch zu einer Begegnung mit dem Kaiser Franz Joseph geführt haben. Nun gelangt wenigstens diese zur Ausführung. Sie kann bei dem Charakter des persönlichen Verhältnisses beider Herrscher zueinander absolut nichts auffälliges haben, es liegen ihr keinerlei Pläne, keine politischen Zwecke zugrunde, wohl aber das Bedürfnis einer mündlichen Aussprache inmitten einer ernsten und vielbewegten Zeit über Fragen, die beide Souveräne gemeinsam interessieren. Die Ungarn, die sich über diesen Besuch aufregen und ihn mißfällig kritisieren, haben augenscheinlich vergessen, daß die Zeit, in der sie Deutschland vielen Dank wußten, und in der sie die enge Anlehnung der Habsburgischen Monarchie an Deutschland als eine politische und wirtschaftliche Notwendigkeit für Ungarn ansahen, noch keines¬ wegs weit zurückliegt. Vielleicht erinnern sich ihre Wortführer wieder daran, wenn sie hinreichend entnüchtert sind, um begreifen zu können, daß die in Rußland ein- getretnen Veränderungen und die neue Orientierung der russischen Politik für Rußlands Nachbarn unendlich wichtiger ist als alles Posieren des magyarischen Chauvinismus. In anerkennenswerter Weise haben sich in diesen letzten Tagen die ungarischen Minister angelegen sein lassen, den Argwohn ihrer Landsleute in bezug auf Deutschland zu zerstreuen und dem Bündnis sowie der Bündnistreue den alten historischen Platz einzuräumen. Kaum ist Herr von Jswolsky, der neue russische Minister des Auswärtigen, für diesen Posten statt für die Berliner Botschaft ernannt worden, so gefallen sich deutsche Blätter leider darin, ihn als „Deutschenhasser" auszugeben, während sie ihm zugleich bescheinigen, daß er „ein ausgezeichneter Diplomat" sei. Ein solcher Diplomat ist doch niemals ein „Hasser". Ein „ausgezeichneter" Diplomat ist nur ein solcher, der es versteht, aus allen Blüten Honig zu fangen. Bismarck pflegte zu sagen, daß die Eitelkeit eine Hypothek auf den Charakter sei, Haß wäre eine noch viel stärkere Belastung jeder stantsmännischen Begabung. Einen Minister des Auswärtigen, der „haßt", könnte zudem Nußland gegenwärtig am allerwenigsten gebrauchen. Von einem leider nicht geringen Teil unsrer Presse wird in dieser Beziehung mit ebensoviel Leichtsinn wie Unwissenheit und kindischer Naivität ver¬ fahren. Als Herr von Jswolsky im vorigen Herbst wiederholt in Berlin war, gab er seinen dortigen Bekannten gegenüber, die in der vornehmer» Berliner Gesellschaft ziemlich zahlreich sind, seiner Freude, auf den Berliner Posten zu kommen, in un- umwundner Weise Ausdruck, was damals auch in der Presse bekannt geworden ist. Die diesseitige Zustimmung war schon erbeten und mit großer Bereitwilligkeit erteilt worden. Unser neuer Botschafter in Petersburg, Herr vou Schoen, hatte in Kopenhagen mit seinem russischen Kollegen Jswolsky sehr gute Beziehungen unterhalten, und man war berechtigt, in Jswolskys Ernennung nach Berlin den Ausdruck der Absicht des Kaisers Nikolaus zu sehen, mit Deutschland auf einen wirklich intimen Fuß zu komme». Die Ernennung Jswolskys zum Minister des Auswärtigen — statt zum Berliner Botschafter — ist jedenfalls nichts weniger als der Ausdruck der entgegengesetzten Absicht. Es war Zeit, daß die auswärtige Politik Rußlands wieder in die Hände eines wirklichen Staatsmanns gelegt wurde, als der sich Graf Lambsdorff bekanntlich nicht erwiesen hat. Vielleicht geht die Behauptung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/404>, abgerufen am 04.07.2024.