Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Stoff und Geist in der Philologie

M verstecken, ja zu ersticken droht. Wir haben gesehen, wie sowohl Sprach-
als Literaturforschung immer mehr nach der Seite der exakten Wissenschaft gra¬
vitieren und von den eigentlichen Geisteswissenschaften, Philosophie, Ästhetik.
Kulturgeschichte, immer mehr abrücken. Welches sind die Gründe dieser Er¬
scheinung?

Sie sind, soweit ich sehe, durch zwei Tendenzen bestimmt, die unser ganzes
modernes Leben beherrschen und miteinander in Verbindung stehn: durch die
gewaltige Entwicklung der exakten Wissenschaften und ihren Einfluß auf die
Methode der gesamten Forschung, sodann durch die Entfremdung der einzelnen
Zweige der Geisteswissenschaften von ihrer Zentralwissenschaft, der Philosophie.
Diese beiden Vorgänge haben es offenbar verschuldet, daß die Philologie, die
antike wie die moderne, die sich noch um die Mitte des neunzehnten Jahr¬
hunderts zu einer Herrscherin unter den Geisteswissenschaften zu entwickeln ver¬
sprach, jetzt teils zu einer dienenden Stellung verurteilt, teils durch innere
Zersplitterung in ihrer Einheit geschwächt ist. Diese Differenzierung vollzog
sich aber durchaus im Sinne der exakten Wissenschaften: aus der antiken
Philologie erwuchs die Archäologie, aus der modernen die Sprach- und Literatur¬
wissenschaft, und alle diese arbeiten durchaus mit der exakten Forschungsmethode;
sie sind Realwissenschaften geworden. Mit dieser Entwicklung nach der einen
Seite hin hat die nach der andern, der des Geisteslebens, nicht Schritt ge¬
halten, teils wegen der angedeuteten Isolierung der Philosophie, teils weil
die Philologie die Schulwissenschaft e^X'?'' geworden ist -- der Schul¬
meister ist aber der schlimmste Feind der Wissenschaft --, damit zu sehr an
der Außenseite der Dinge haften bleiben mußte und sich der Erforschung der
wesentlichsten Probleme nicht in der erwünschten Weise widmen kann. So
kam es, daß sowohl der psychologische Teil der Sprach- und Literatur¬
forschung als auch dessen vergleichende Behandlung über Gebühr vernachlässigt
wurden, sodaß mit der Verstofflichung die Entgeistigung der Philologie Hand
in Hand ging.

Wie kann nun das zu einer harmonischen Entwicklung notwendige Gleich¬
gewicht zwischen der geistigen und der stofflichen Seite wiederhergestellt werden?
Es wird nur dadurch geschehn können, daß die geistige, die esoterische Seite
in der Sprache wie in der Literatur energischer von der Philologie ge¬
pflegt, an die ältern bewährten Traditionen der Sprach- und der Literatur¬
philosophie wieder angeknüpft und damit die Philologie wieder mehr in
philosophisches Fahrwasser gelenkt wird. Die Sprachwissenschaft muß sich
wieder mit der Philosophie, die Literaturwissenschaft mit der Ästhetik versöhnen
und verbünden. Nur so kann die Philologie wieder mehr an innerer Einheit
gewinnen und zugleich zu einer in ihrem Wesen liegenden Wissenschaft von
der geistigen Kultur der Menschheit erhoben werden. Erst wenn auf feiten
der Sprachforscher nicht mehr einseitig vergleichende Laut- und Formenforschung,
sondern auch vergleichende syntaktische, semasiologische und stilistische Forschung
gepflegt werden wird, wenn auf feiten der Literaturforscher nicht mehr die
stoffliche und biographische Kleinforschung als Hauptaufgabe, sondern nur als
Mittel zum Zweck der Erforschung des geistigen Lebens der Individuen und


Stoff und Geist in der Philologie

M verstecken, ja zu ersticken droht. Wir haben gesehen, wie sowohl Sprach-
als Literaturforschung immer mehr nach der Seite der exakten Wissenschaft gra¬
vitieren und von den eigentlichen Geisteswissenschaften, Philosophie, Ästhetik.
Kulturgeschichte, immer mehr abrücken. Welches sind die Gründe dieser Er¬
scheinung?

Sie sind, soweit ich sehe, durch zwei Tendenzen bestimmt, die unser ganzes
modernes Leben beherrschen und miteinander in Verbindung stehn: durch die
gewaltige Entwicklung der exakten Wissenschaften und ihren Einfluß auf die
Methode der gesamten Forschung, sodann durch die Entfremdung der einzelnen
Zweige der Geisteswissenschaften von ihrer Zentralwissenschaft, der Philosophie.
Diese beiden Vorgänge haben es offenbar verschuldet, daß die Philologie, die
antike wie die moderne, die sich noch um die Mitte des neunzehnten Jahr¬
hunderts zu einer Herrscherin unter den Geisteswissenschaften zu entwickeln ver¬
sprach, jetzt teils zu einer dienenden Stellung verurteilt, teils durch innere
Zersplitterung in ihrer Einheit geschwächt ist. Diese Differenzierung vollzog
sich aber durchaus im Sinne der exakten Wissenschaften: aus der antiken
Philologie erwuchs die Archäologie, aus der modernen die Sprach- und Literatur¬
wissenschaft, und alle diese arbeiten durchaus mit der exakten Forschungsmethode;
sie sind Realwissenschaften geworden. Mit dieser Entwicklung nach der einen
Seite hin hat die nach der andern, der des Geisteslebens, nicht Schritt ge¬
halten, teils wegen der angedeuteten Isolierung der Philosophie, teils weil
die Philologie die Schulwissenschaft e^X'?'' geworden ist — der Schul¬
meister ist aber der schlimmste Feind der Wissenschaft —, damit zu sehr an
der Außenseite der Dinge haften bleiben mußte und sich der Erforschung der
wesentlichsten Probleme nicht in der erwünschten Weise widmen kann. So
kam es, daß sowohl der psychologische Teil der Sprach- und Literatur¬
forschung als auch dessen vergleichende Behandlung über Gebühr vernachlässigt
wurden, sodaß mit der Verstofflichung die Entgeistigung der Philologie Hand
in Hand ging.

Wie kann nun das zu einer harmonischen Entwicklung notwendige Gleich¬
gewicht zwischen der geistigen und der stofflichen Seite wiederhergestellt werden?
Es wird nur dadurch geschehn können, daß die geistige, die esoterische Seite
in der Sprache wie in der Literatur energischer von der Philologie ge¬
pflegt, an die ältern bewährten Traditionen der Sprach- und der Literatur¬
philosophie wieder angeknüpft und damit die Philologie wieder mehr in
philosophisches Fahrwasser gelenkt wird. Die Sprachwissenschaft muß sich
wieder mit der Philosophie, die Literaturwissenschaft mit der Ästhetik versöhnen
und verbünden. Nur so kann die Philologie wieder mehr an innerer Einheit
gewinnen und zugleich zu einer in ihrem Wesen liegenden Wissenschaft von
der geistigen Kultur der Menschheit erhoben werden. Erst wenn auf feiten
der Sprachforscher nicht mehr einseitig vergleichende Laut- und Formenforschung,
sondern auch vergleichende syntaktische, semasiologische und stilistische Forschung
gepflegt werden wird, wenn auf feiten der Literaturforscher nicht mehr die
stoffliche und biographische Kleinforschung als Hauptaufgabe, sondern nur als
Mittel zum Zweck der Erforschung des geistigen Lebens der Individuen und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299428"/>
          <fw type="header" place="top"> Stoff und Geist in der Philologie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1705" prev="#ID_1704"> M verstecken, ja zu ersticken droht. Wir haben gesehen, wie sowohl Sprach-<lb/>
als Literaturforschung immer mehr nach der Seite der exakten Wissenschaft gra¬<lb/>
vitieren und von den eigentlichen Geisteswissenschaften, Philosophie, Ästhetik.<lb/>
Kulturgeschichte, immer mehr abrücken. Welches sind die Gründe dieser Er¬<lb/>
scheinung?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1706"> Sie sind, soweit ich sehe, durch zwei Tendenzen bestimmt, die unser ganzes<lb/>
modernes Leben beherrschen und miteinander in Verbindung stehn: durch die<lb/>
gewaltige Entwicklung der exakten Wissenschaften und ihren Einfluß auf die<lb/>
Methode der gesamten Forschung, sodann durch die Entfremdung der einzelnen<lb/>
Zweige der Geisteswissenschaften von ihrer Zentralwissenschaft, der Philosophie.<lb/>
Diese beiden Vorgänge haben es offenbar verschuldet, daß die Philologie, die<lb/>
antike wie die moderne, die sich noch um die Mitte des neunzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts zu einer Herrscherin unter den Geisteswissenschaften zu entwickeln ver¬<lb/>
sprach, jetzt teils zu einer dienenden Stellung verurteilt, teils durch innere<lb/>
Zersplitterung in ihrer Einheit geschwächt ist. Diese Differenzierung vollzog<lb/>
sich aber durchaus im Sinne der exakten Wissenschaften: aus der antiken<lb/>
Philologie erwuchs die Archäologie, aus der modernen die Sprach- und Literatur¬<lb/>
wissenschaft, und alle diese arbeiten durchaus mit der exakten Forschungsmethode;<lb/>
sie sind Realwissenschaften geworden. Mit dieser Entwicklung nach der einen<lb/>
Seite hin hat die nach der andern, der des Geisteslebens, nicht Schritt ge¬<lb/>
halten, teils wegen der angedeuteten Isolierung der Philosophie, teils weil<lb/>
die Philologie die Schulwissenschaft e^X'?'' geworden ist &#x2014; der Schul¬<lb/>
meister ist aber der schlimmste Feind der Wissenschaft &#x2014;, damit zu sehr an<lb/>
der Außenseite der Dinge haften bleiben mußte und sich der Erforschung der<lb/>
wesentlichsten Probleme nicht in der erwünschten Weise widmen kann. So<lb/>
kam es, daß sowohl der psychologische Teil der Sprach- und Literatur¬<lb/>
forschung als auch dessen vergleichende Behandlung über Gebühr vernachlässigt<lb/>
wurden, sodaß mit der Verstofflichung die Entgeistigung der Philologie Hand<lb/>
in Hand ging.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1707" next="#ID_1708"> Wie kann nun das zu einer harmonischen Entwicklung notwendige Gleich¬<lb/>
gewicht zwischen der geistigen und der stofflichen Seite wiederhergestellt werden?<lb/>
Es wird nur dadurch geschehn können, daß die geistige, die esoterische Seite<lb/>
in der Sprache wie in der Literatur energischer von der Philologie ge¬<lb/>
pflegt, an die ältern bewährten Traditionen der Sprach- und der Literatur¬<lb/>
philosophie wieder angeknüpft und damit die Philologie wieder mehr in<lb/>
philosophisches Fahrwasser gelenkt wird. Die Sprachwissenschaft muß sich<lb/>
wieder mit der Philosophie, die Literaturwissenschaft mit der Ästhetik versöhnen<lb/>
und verbünden. Nur so kann die Philologie wieder mehr an innerer Einheit<lb/>
gewinnen und zugleich zu einer in ihrem Wesen liegenden Wissenschaft von<lb/>
der geistigen Kultur der Menschheit erhoben werden. Erst wenn auf feiten<lb/>
der Sprachforscher nicht mehr einseitig vergleichende Laut- und Formenforschung,<lb/>
sondern auch vergleichende syntaktische, semasiologische und stilistische Forschung<lb/>
gepflegt werden wird, wenn auf feiten der Literaturforscher nicht mehr die<lb/>
stoffliche und biographische Kleinforschung als Hauptaufgabe, sondern nur als<lb/>
Mittel zum Zweck der Erforschung des geistigen Lebens der Individuen und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0387] Stoff und Geist in der Philologie M verstecken, ja zu ersticken droht. Wir haben gesehen, wie sowohl Sprach- als Literaturforschung immer mehr nach der Seite der exakten Wissenschaft gra¬ vitieren und von den eigentlichen Geisteswissenschaften, Philosophie, Ästhetik. Kulturgeschichte, immer mehr abrücken. Welches sind die Gründe dieser Er¬ scheinung? Sie sind, soweit ich sehe, durch zwei Tendenzen bestimmt, die unser ganzes modernes Leben beherrschen und miteinander in Verbindung stehn: durch die gewaltige Entwicklung der exakten Wissenschaften und ihren Einfluß auf die Methode der gesamten Forschung, sodann durch die Entfremdung der einzelnen Zweige der Geisteswissenschaften von ihrer Zentralwissenschaft, der Philosophie. Diese beiden Vorgänge haben es offenbar verschuldet, daß die Philologie, die antike wie die moderne, die sich noch um die Mitte des neunzehnten Jahr¬ hunderts zu einer Herrscherin unter den Geisteswissenschaften zu entwickeln ver¬ sprach, jetzt teils zu einer dienenden Stellung verurteilt, teils durch innere Zersplitterung in ihrer Einheit geschwächt ist. Diese Differenzierung vollzog sich aber durchaus im Sinne der exakten Wissenschaften: aus der antiken Philologie erwuchs die Archäologie, aus der modernen die Sprach- und Literatur¬ wissenschaft, und alle diese arbeiten durchaus mit der exakten Forschungsmethode; sie sind Realwissenschaften geworden. Mit dieser Entwicklung nach der einen Seite hin hat die nach der andern, der des Geisteslebens, nicht Schritt ge¬ halten, teils wegen der angedeuteten Isolierung der Philosophie, teils weil die Philologie die Schulwissenschaft e^X'?'' geworden ist — der Schul¬ meister ist aber der schlimmste Feind der Wissenschaft —, damit zu sehr an der Außenseite der Dinge haften bleiben mußte und sich der Erforschung der wesentlichsten Probleme nicht in der erwünschten Weise widmen kann. So kam es, daß sowohl der psychologische Teil der Sprach- und Literatur¬ forschung als auch dessen vergleichende Behandlung über Gebühr vernachlässigt wurden, sodaß mit der Verstofflichung die Entgeistigung der Philologie Hand in Hand ging. Wie kann nun das zu einer harmonischen Entwicklung notwendige Gleich¬ gewicht zwischen der geistigen und der stofflichen Seite wiederhergestellt werden? Es wird nur dadurch geschehn können, daß die geistige, die esoterische Seite in der Sprache wie in der Literatur energischer von der Philologie ge¬ pflegt, an die ältern bewährten Traditionen der Sprach- und der Literatur¬ philosophie wieder angeknüpft und damit die Philologie wieder mehr in philosophisches Fahrwasser gelenkt wird. Die Sprachwissenschaft muß sich wieder mit der Philosophie, die Literaturwissenschaft mit der Ästhetik versöhnen und verbünden. Nur so kann die Philologie wieder mehr an innerer Einheit gewinnen und zugleich zu einer in ihrem Wesen liegenden Wissenschaft von der geistigen Kultur der Menschheit erhoben werden. Erst wenn auf feiten der Sprachforscher nicht mehr einseitig vergleichende Laut- und Formenforschung, sondern auch vergleichende syntaktische, semasiologische und stilistische Forschung gepflegt werden wird, wenn auf feiten der Literaturforscher nicht mehr die stoffliche und biographische Kleinforschung als Hauptaufgabe, sondern nur als Mittel zum Zweck der Erforschung des geistigen Lebens der Individuen und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/387
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/387>, abgerufen am 24.07.2024.