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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maul sieht, daß beide Standpunkte manches für sich und manches gegen sich
haben. Bei aller wünschenswerten und notwendigen Wahrung der Freiheit der
Gemeinden muß der Negierung ein gesetzlicher Einfluß auf die Besetzung dieser
Stellen doch gewahrt bleiben, wobei sich freilich nicht verkennen läßt, daß ein Rektor,
der auf seinen Posten im Gegensatze zu der Gemeinde berufen würde, innerhalb
deren und zu der Lehrerschaft, mit der er wirken soll, eine sehr schiefe Stellung
haben würde, schwerlich zum Vorteil der Schule. Es läßt sich darum sehr wohl
ein vorläufiges Auskunftsmittel dadurch finden, daß man diese Frage als noch nicht
spruchreif vertagt. Die richtige Lösung wird Wohl auch da in der Mitte liegen,
daß den Gemeinden als Regel das Ernennungsrecht für die Rektoren verbleibt,
daß jedoch für eine Anzahl näher festzustellender Fülle die Staatsbehörde das Recht
erhalten muß, sowohl auf die Anstellung der Rektoren einen Einfluß zu üben als
anch ihre Versetzung herbeizuführen. Man sollte annehmen, diese Punkte seien
nicht so schwer zu ordnen, daß sie nicht noch innerhalb des vorliegenden Gesetzes
zum Austrag gelangen könnten. Jedenfalls reichen sie nicht hin, zwischen der Re¬
gierung und der nationalliberalen Partei einen Gegensatz zu begründen, der völlig
außerhalb der Richtung der vom Ministerpräsidenten vcrtretncn Gesamtpolitik läge.

Aus diesem sehr naheliegenden Grunde hätte freilich die "Nationale Korrespon¬
denz" anch keine Ursache gehabt, den Gegensatz auf das Gebiet der Reichspolitik zu
übertragen und in einer breiten Aufzählung der Verdienste der Partei in der
Flottenfrage, der Steuerreform usw. deren Exodus gleich dem Ausmarsch einer
mißvergnügten Studentenschaft in Aussicht zu stellen. Soviel sollten unsre auf staat¬
lichem und nationalem Boden stehenden Parteien in den letzten vierzig Jahren doch
gelernt haben, daß ihr Einfluß auf den Gang der innern Politik an der Seite der
Regierung immer weit größer sein wird als in den Reihen einer grundsätzlichen
Opposition, die nach dem Rezept verfährt: "Ich kenne die Absichten der Regierung
nicht, aber ich mißbillige sie." Namentlich eine allgemeine Absage wegen Differenzen
mit einem einzelnen Ressort ist so lange wenig staatsklug, als man eben nur einem
einzelnen Ressort, zumal in einer verhältnismäßig untergeordneten Frage, nicht einer
allgemeinen Schwenkung der Regierungspolitik auf der ganzen Linie gegenübersteht.

Eine mit so vielem Geräusch in der Presse zum Ausdruck gebrachte Verstimmung
vermindert in solchem Falle unvermeidlich die Glaubwürdigkeit der darin enthaltnen
Drohung. Dies um so mehr, wenn sie im Namen einer Partei ausgesprochen wird,
die sich mit einer gewissen Vorliebe als regierungsfähig ansieht, die aber doch an der
Leistungsfähigkeit der deutschen Flotte, an der Beseitigung unsrer Finanzmisere usw.
mindestens dasselbe, wenn nicht ein größeres Interesse haben muß als die jeweilige
Regierung. Denn die Partei ist seit vierzig Jahren eine bleibende, die schon viele
Minister und Ministerien überdauert hat und deshalb nicht gleich einem schmollenden
Kinde die Grundlagen der Reichsexistenz in Frage stellen darf, weil ihr in einem
Landesgesetz ein Paragraph nicht behagt, über den ebenso Schulmänner von Beruf wie
liberale Politiker wirklich verschiedner Ansicht sein können. Die Form, in der die Ver¬
handlungen geführt worden sind, mag nicht immer glücklich gewesen sein; derlei
Fehler auszugleichen bieten sich Mittel und Wege genng. Aber eine nationale
Partei darf sich niemals zu der Drohung hinreißen lassen, daß sie in nationalen
Fragen nicht mehr mitspielen wolle, damit gäbe sie ihre eigne Existenzbasis auf.

Wer im Jahre 1900 für den Mai 1906 den Zusammentritt einer gewählten
russischen Volksvertretung angekündigt hätte, würde damit schwerlich irgendwelchen
Glauben gefunden haben. Die viele Jahre lang in Rußland verbreitete Anschauung,
daß große innere Reformen nur als Folge eines unglücklichen Krieges zu erwarten
seien, während ein Krieg mit siegreichem oder auch nur erträglichem Ausgange
immer nur zur Befestigung des herrschenden Systems dienen werde, hat allem
Anschein nach Recht behalten. Wenn es wirklich gelingen sollte, Rußland für die
Dauer in ein konstitutionelles Staatswesen umzuwandeln, würde das Hauptverdienst
der Siegeskunst und der Siegeskraft der Japaner zukommen, die damit auf die
Gesamtverhältnisse Europas einen Einfluß von der größten Tragweite genommen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maul sieht, daß beide Standpunkte manches für sich und manches gegen sich
haben. Bei aller wünschenswerten und notwendigen Wahrung der Freiheit der
Gemeinden muß der Negierung ein gesetzlicher Einfluß auf die Besetzung dieser
Stellen doch gewahrt bleiben, wobei sich freilich nicht verkennen läßt, daß ein Rektor,
der auf seinen Posten im Gegensatze zu der Gemeinde berufen würde, innerhalb
deren und zu der Lehrerschaft, mit der er wirken soll, eine sehr schiefe Stellung
haben würde, schwerlich zum Vorteil der Schule. Es läßt sich darum sehr wohl
ein vorläufiges Auskunftsmittel dadurch finden, daß man diese Frage als noch nicht
spruchreif vertagt. Die richtige Lösung wird Wohl auch da in der Mitte liegen,
daß den Gemeinden als Regel das Ernennungsrecht für die Rektoren verbleibt,
daß jedoch für eine Anzahl näher festzustellender Fülle die Staatsbehörde das Recht
erhalten muß, sowohl auf die Anstellung der Rektoren einen Einfluß zu üben als
anch ihre Versetzung herbeizuführen. Man sollte annehmen, diese Punkte seien
nicht so schwer zu ordnen, daß sie nicht noch innerhalb des vorliegenden Gesetzes
zum Austrag gelangen könnten. Jedenfalls reichen sie nicht hin, zwischen der Re¬
gierung und der nationalliberalen Partei einen Gegensatz zu begründen, der völlig
außerhalb der Richtung der vom Ministerpräsidenten vcrtretncn Gesamtpolitik läge.

Aus diesem sehr naheliegenden Grunde hätte freilich die „Nationale Korrespon¬
denz" anch keine Ursache gehabt, den Gegensatz auf das Gebiet der Reichspolitik zu
übertragen und in einer breiten Aufzählung der Verdienste der Partei in der
Flottenfrage, der Steuerreform usw. deren Exodus gleich dem Ausmarsch einer
mißvergnügten Studentenschaft in Aussicht zu stellen. Soviel sollten unsre auf staat¬
lichem und nationalem Boden stehenden Parteien in den letzten vierzig Jahren doch
gelernt haben, daß ihr Einfluß auf den Gang der innern Politik an der Seite der
Regierung immer weit größer sein wird als in den Reihen einer grundsätzlichen
Opposition, die nach dem Rezept verfährt: „Ich kenne die Absichten der Regierung
nicht, aber ich mißbillige sie." Namentlich eine allgemeine Absage wegen Differenzen
mit einem einzelnen Ressort ist so lange wenig staatsklug, als man eben nur einem
einzelnen Ressort, zumal in einer verhältnismäßig untergeordneten Frage, nicht einer
allgemeinen Schwenkung der Regierungspolitik auf der ganzen Linie gegenübersteht.

Eine mit so vielem Geräusch in der Presse zum Ausdruck gebrachte Verstimmung
vermindert in solchem Falle unvermeidlich die Glaubwürdigkeit der darin enthaltnen
Drohung. Dies um so mehr, wenn sie im Namen einer Partei ausgesprochen wird,
die sich mit einer gewissen Vorliebe als regierungsfähig ansieht, die aber doch an der
Leistungsfähigkeit der deutschen Flotte, an der Beseitigung unsrer Finanzmisere usw.
mindestens dasselbe, wenn nicht ein größeres Interesse haben muß als die jeweilige
Regierung. Denn die Partei ist seit vierzig Jahren eine bleibende, die schon viele
Minister und Ministerien überdauert hat und deshalb nicht gleich einem schmollenden
Kinde die Grundlagen der Reichsexistenz in Frage stellen darf, weil ihr in einem
Landesgesetz ein Paragraph nicht behagt, über den ebenso Schulmänner von Beruf wie
liberale Politiker wirklich verschiedner Ansicht sein können. Die Form, in der die Ver¬
handlungen geführt worden sind, mag nicht immer glücklich gewesen sein; derlei
Fehler auszugleichen bieten sich Mittel und Wege genng. Aber eine nationale
Partei darf sich niemals zu der Drohung hinreißen lassen, daß sie in nationalen
Fragen nicht mehr mitspielen wolle, damit gäbe sie ihre eigne Existenzbasis auf.

Wer im Jahre 1900 für den Mai 1906 den Zusammentritt einer gewählten
russischen Volksvertretung angekündigt hätte, würde damit schwerlich irgendwelchen
Glauben gefunden haben. Die viele Jahre lang in Rußland verbreitete Anschauung,
daß große innere Reformen nur als Folge eines unglücklichen Krieges zu erwarten
seien, während ein Krieg mit siegreichem oder auch nur erträglichem Ausgange
immer nur zur Befestigung des herrschenden Systems dienen werde, hat allem
Anschein nach Recht behalten. Wenn es wirklich gelingen sollte, Rußland für die
Dauer in ein konstitutionelles Staatswesen umzuwandeln, würde das Hauptverdienst
der Siegeskunst und der Siegeskraft der Japaner zukommen, die damit auf die
Gesamtverhältnisse Europas einen Einfluß von der größten Tragweite genommen


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[0350] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maul sieht, daß beide Standpunkte manches für sich und manches gegen sich haben. Bei aller wünschenswerten und notwendigen Wahrung der Freiheit der Gemeinden muß der Negierung ein gesetzlicher Einfluß auf die Besetzung dieser Stellen doch gewahrt bleiben, wobei sich freilich nicht verkennen läßt, daß ein Rektor, der auf seinen Posten im Gegensatze zu der Gemeinde berufen würde, innerhalb deren und zu der Lehrerschaft, mit der er wirken soll, eine sehr schiefe Stellung haben würde, schwerlich zum Vorteil der Schule. Es läßt sich darum sehr wohl ein vorläufiges Auskunftsmittel dadurch finden, daß man diese Frage als noch nicht spruchreif vertagt. Die richtige Lösung wird Wohl auch da in der Mitte liegen, daß den Gemeinden als Regel das Ernennungsrecht für die Rektoren verbleibt, daß jedoch für eine Anzahl näher festzustellender Fülle die Staatsbehörde das Recht erhalten muß, sowohl auf die Anstellung der Rektoren einen Einfluß zu üben als anch ihre Versetzung herbeizuführen. Man sollte annehmen, diese Punkte seien nicht so schwer zu ordnen, daß sie nicht noch innerhalb des vorliegenden Gesetzes zum Austrag gelangen könnten. Jedenfalls reichen sie nicht hin, zwischen der Re¬ gierung und der nationalliberalen Partei einen Gegensatz zu begründen, der völlig außerhalb der Richtung der vom Ministerpräsidenten vcrtretncn Gesamtpolitik läge. Aus diesem sehr naheliegenden Grunde hätte freilich die „Nationale Korrespon¬ denz" anch keine Ursache gehabt, den Gegensatz auf das Gebiet der Reichspolitik zu übertragen und in einer breiten Aufzählung der Verdienste der Partei in der Flottenfrage, der Steuerreform usw. deren Exodus gleich dem Ausmarsch einer mißvergnügten Studentenschaft in Aussicht zu stellen. Soviel sollten unsre auf staat¬ lichem und nationalem Boden stehenden Parteien in den letzten vierzig Jahren doch gelernt haben, daß ihr Einfluß auf den Gang der innern Politik an der Seite der Regierung immer weit größer sein wird als in den Reihen einer grundsätzlichen Opposition, die nach dem Rezept verfährt: „Ich kenne die Absichten der Regierung nicht, aber ich mißbillige sie." Namentlich eine allgemeine Absage wegen Differenzen mit einem einzelnen Ressort ist so lange wenig staatsklug, als man eben nur einem einzelnen Ressort, zumal in einer verhältnismäßig untergeordneten Frage, nicht einer allgemeinen Schwenkung der Regierungspolitik auf der ganzen Linie gegenübersteht. Eine mit so vielem Geräusch in der Presse zum Ausdruck gebrachte Verstimmung vermindert in solchem Falle unvermeidlich die Glaubwürdigkeit der darin enthaltnen Drohung. Dies um so mehr, wenn sie im Namen einer Partei ausgesprochen wird, die sich mit einer gewissen Vorliebe als regierungsfähig ansieht, die aber doch an der Leistungsfähigkeit der deutschen Flotte, an der Beseitigung unsrer Finanzmisere usw. mindestens dasselbe, wenn nicht ein größeres Interesse haben muß als die jeweilige Regierung. Denn die Partei ist seit vierzig Jahren eine bleibende, die schon viele Minister und Ministerien überdauert hat und deshalb nicht gleich einem schmollenden Kinde die Grundlagen der Reichsexistenz in Frage stellen darf, weil ihr in einem Landesgesetz ein Paragraph nicht behagt, über den ebenso Schulmänner von Beruf wie liberale Politiker wirklich verschiedner Ansicht sein können. Die Form, in der die Ver¬ handlungen geführt worden sind, mag nicht immer glücklich gewesen sein; derlei Fehler auszugleichen bieten sich Mittel und Wege genng. Aber eine nationale Partei darf sich niemals zu der Drohung hinreißen lassen, daß sie in nationalen Fragen nicht mehr mitspielen wolle, damit gäbe sie ihre eigne Existenzbasis auf. Wer im Jahre 1900 für den Mai 1906 den Zusammentritt einer gewählten russischen Volksvertretung angekündigt hätte, würde damit schwerlich irgendwelchen Glauben gefunden haben. Die viele Jahre lang in Rußland verbreitete Anschauung, daß große innere Reformen nur als Folge eines unglücklichen Krieges zu erwarten seien, während ein Krieg mit siegreichem oder auch nur erträglichem Ausgange immer nur zur Befestigung des herrschenden Systems dienen werde, hat allem Anschein nach Recht behalten. Wenn es wirklich gelingen sollte, Rußland für die Dauer in ein konstitutionelles Staatswesen umzuwandeln, würde das Hauptverdienst der Siegeskunst und der Siegeskraft der Japaner zukommen, die damit auf die Gesamtverhältnisse Europas einen Einfluß von der größten Tragweite genommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/350>, abgerufen am 30.06.2024.