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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Vorgesetzten, die ihnen geläufig war, sondern sie hatten allesamt das ver¬
trauensvolle Bewußtsein, daß der Minister, der es nicht verschmähte, zehn- und
zwölfstündige Eiseubahnfahrten in der dritten und der vierten Wagenklasse zu machen,
um nach dem Rechten zu sehen und sich von dem Funktionieren der Dienstvorschriften
sowie von dem Pflichtenkreise der einzelnen Kategorien von Angestellten, bis zur
untersten hinab, aus eigner Anschauung und Erfahrung zu überzeugen, für ihr
Wohl tun werde, was mit dem Gesamtinteresse irgend vereinbar sei. Dieser von
dem verewigten Minister in reichem Umfange betätigten sozialen Fürsorge stand
eine unbeugsame Energie gegen jede Unbotmäßigkeit, Nachlässigkeit und Pflicht¬
verletzung zur Seite. Unter Butte wäre ein Eisenbahnstreik kaum denkbar ge¬
wesen, weil alle seine Angestellten hinreichende Beweise seiner Fürsorge empfangen
hatten, für die sie ihm dankbar waren, sodann aber auch, weil in ihnen allen die Über¬
zeugung lebte, daß er im gegebnen Falle irgendeiner Form der Auflehnung gegen¬
über keinen Spaß verstehn werde. Dies ist für seinen Nachfolger Wohl die schwierigste
Seite von Buttes Hinterlassenschaft. Tüchtige Eisenbahnfachmänner sind bei uns
gottlob nicht selten, um so seltner aber die Männer, die die große Zahl der Unter-
gebneu mit Vertrauen zu erfüllen, sie zugleich mit Wohlwollen und Energie zu be¬
herrschen verstehn. Es ist dies eine Eigenschaft, die bei höhern Offizieren viel eher
ausgebildet ist als in der Bureaukratie. Aus diesem Grunde war in vielen Kreisen
angenommen worden, der Posten werde mit einem hohen Offizier der Verkehrs¬
truppen besetzt werden. Es muß dahingestellt bleiben, welche Rücksicht aus¬
schlaggebend gewesen ist, sicherlich mit die auf die parlamentarische Betätigung.
Aber auch die wasserwirtschaftlichen Fragen mußten in Betracht gezogen werden,
und diese haben vielleicht mit dazu beigetragen, die Entscheidung auf den Präsi¬
denten Breitenbach zu lenken, dem die Verkehrsverhältnisse auf dem Rheine genau
bekannt sind, und der sich gerade dort schon große Verdienste erworben hat.

Seit längerer Zeit laufen auch Gerüchte von Veränderungen im Kultus¬
ministerium um. Sie haben in der jüngsten Zeit durch die Differenzen, in die
der Minister Stube zur nationalliberalen Partei des preußische" Abgeordnetenhauses
geraten war, erneute Nahrung erhalten. Es ist im Kultusministerium zur Genüge
bekannt, daß ein gegen die nationalliberale Partei zustande gebrachtes Schulgesetz
weder im Staatsministerium noch bei der Krone auf Zustimmung zu rechnen hätte.
Ein Konflikt mit der uationalliberalen Partei läge nicht in der Richtung der vom
Ministerpräsidenten vertretuen Gesamtpolitik, und zum Beispiel eine zweite Auflage
des Zedlitzschen Volksschulgesetzes würde sowohl bei der Krone als im Staats¬
ministerium völlig aussichtslos sein. Aber die Bedeutung des eigentlichen Differenz¬
punktes liegt nicht in dieser Richtung. Es handelt sich darum, ob die Rektoren
der Gemeindeschulen von der Regierung auf Vorschlag der Gemeinden angestellt
werden oder -- wie bisher -- von den Gemeinden ernannt werden sollen. Die
Gemeinden würden in den weitaus meisten Fällen die Rektoren aus der Zahl
ihrer Lehrer wählen. Das hat den großen Vorteil, daß ein Leiter einer solchen
Schule seine bisherigen Kollegen, seine Schüler und auch einen großen Teil der
Eltern genau kennt, wenigstens die Bevölkerungsschichten der betreffenden Gemeinden,
denen die Kinder entstammen. Die Regierung wiederum vertritt den Standpunkt,
daß gerade weil die Gemeinden die Rektoren meist aus ihren Lehrern wählen,
viele tüchtige Lehrer an ihrem Fortkommen gehindert würden; es sei notwendig
ü n ^.liege im Interesse der Lehrerschaft wie der Schulen, daß für die Rektor-
!!i ? °le geeignetsten Kräfte aus der gesamten Lehrerschaft ausgewählt werden
konnten. Lehrer, die sich zum Rektor eigneten, müßten auch Aussicht haben, es
^ können. Außerdem müsse die Regierung auch die
Möglichkeit haben, daß eine bei einer Schule vorhcmdne ungünstige Richtung nicht
durch Forterbung innerhalb em und derselben Gemeinde gleichsam verewigt werde,
es müsse die Möglichkeit besteh.,, durch Einführung frischen Blutes Abhilfe zu
schaffen.


Grenzboten II 1906 4z
Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Vorgesetzten, die ihnen geläufig war, sondern sie hatten allesamt das ver¬
trauensvolle Bewußtsein, daß der Minister, der es nicht verschmähte, zehn- und
zwölfstündige Eiseubahnfahrten in der dritten und der vierten Wagenklasse zu machen,
um nach dem Rechten zu sehen und sich von dem Funktionieren der Dienstvorschriften
sowie von dem Pflichtenkreise der einzelnen Kategorien von Angestellten, bis zur
untersten hinab, aus eigner Anschauung und Erfahrung zu überzeugen, für ihr
Wohl tun werde, was mit dem Gesamtinteresse irgend vereinbar sei. Dieser von
dem verewigten Minister in reichem Umfange betätigten sozialen Fürsorge stand
eine unbeugsame Energie gegen jede Unbotmäßigkeit, Nachlässigkeit und Pflicht¬
verletzung zur Seite. Unter Butte wäre ein Eisenbahnstreik kaum denkbar ge¬
wesen, weil alle seine Angestellten hinreichende Beweise seiner Fürsorge empfangen
hatten, für die sie ihm dankbar waren, sodann aber auch, weil in ihnen allen die Über¬
zeugung lebte, daß er im gegebnen Falle irgendeiner Form der Auflehnung gegen¬
über keinen Spaß verstehn werde. Dies ist für seinen Nachfolger Wohl die schwierigste
Seite von Buttes Hinterlassenschaft. Tüchtige Eisenbahnfachmänner sind bei uns
gottlob nicht selten, um so seltner aber die Männer, die die große Zahl der Unter-
gebneu mit Vertrauen zu erfüllen, sie zugleich mit Wohlwollen und Energie zu be¬
herrschen verstehn. Es ist dies eine Eigenschaft, die bei höhern Offizieren viel eher
ausgebildet ist als in der Bureaukratie. Aus diesem Grunde war in vielen Kreisen
angenommen worden, der Posten werde mit einem hohen Offizier der Verkehrs¬
truppen besetzt werden. Es muß dahingestellt bleiben, welche Rücksicht aus¬
schlaggebend gewesen ist, sicherlich mit die auf die parlamentarische Betätigung.
Aber auch die wasserwirtschaftlichen Fragen mußten in Betracht gezogen werden,
und diese haben vielleicht mit dazu beigetragen, die Entscheidung auf den Präsi¬
denten Breitenbach zu lenken, dem die Verkehrsverhältnisse auf dem Rheine genau
bekannt sind, und der sich gerade dort schon große Verdienste erworben hat.

Seit längerer Zeit laufen auch Gerüchte von Veränderungen im Kultus¬
ministerium um. Sie haben in der jüngsten Zeit durch die Differenzen, in die
der Minister Stube zur nationalliberalen Partei des preußische» Abgeordnetenhauses
geraten war, erneute Nahrung erhalten. Es ist im Kultusministerium zur Genüge
bekannt, daß ein gegen die nationalliberale Partei zustande gebrachtes Schulgesetz
weder im Staatsministerium noch bei der Krone auf Zustimmung zu rechnen hätte.
Ein Konflikt mit der uationalliberalen Partei läge nicht in der Richtung der vom
Ministerpräsidenten vertretuen Gesamtpolitik, und zum Beispiel eine zweite Auflage
des Zedlitzschen Volksschulgesetzes würde sowohl bei der Krone als im Staats¬
ministerium völlig aussichtslos sein. Aber die Bedeutung des eigentlichen Differenz¬
punktes liegt nicht in dieser Richtung. Es handelt sich darum, ob die Rektoren
der Gemeindeschulen von der Regierung auf Vorschlag der Gemeinden angestellt
werden oder — wie bisher — von den Gemeinden ernannt werden sollen. Die
Gemeinden würden in den weitaus meisten Fällen die Rektoren aus der Zahl
ihrer Lehrer wählen. Das hat den großen Vorteil, daß ein Leiter einer solchen
Schule seine bisherigen Kollegen, seine Schüler und auch einen großen Teil der
Eltern genau kennt, wenigstens die Bevölkerungsschichten der betreffenden Gemeinden,
denen die Kinder entstammen. Die Regierung wiederum vertritt den Standpunkt,
daß gerade weil die Gemeinden die Rektoren meist aus ihren Lehrern wählen,
viele tüchtige Lehrer an ihrem Fortkommen gehindert würden; es sei notwendig
ü n ^.liege im Interesse der Lehrerschaft wie der Schulen, daß für die Rektor-
!!i ? °le geeignetsten Kräfte aus der gesamten Lehrerschaft ausgewählt werden
konnten. Lehrer, die sich zum Rektor eigneten, müßten auch Aussicht haben, es
^ können. Außerdem müsse die Regierung auch die
Möglichkeit haben, daß eine bei einer Schule vorhcmdne ungünstige Richtung nicht
durch Forterbung innerhalb em und derselben Gemeinde gleichsam verewigt werde,
es müsse die Möglichkeit besteh.,, durch Einführung frischen Blutes Abhilfe zu
schaffen.


Grenzboten II 1906 4z
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[0349] Maßgebliches und Unmaßgebliches des Vorgesetzten, die ihnen geläufig war, sondern sie hatten allesamt das ver¬ trauensvolle Bewußtsein, daß der Minister, der es nicht verschmähte, zehn- und zwölfstündige Eiseubahnfahrten in der dritten und der vierten Wagenklasse zu machen, um nach dem Rechten zu sehen und sich von dem Funktionieren der Dienstvorschriften sowie von dem Pflichtenkreise der einzelnen Kategorien von Angestellten, bis zur untersten hinab, aus eigner Anschauung und Erfahrung zu überzeugen, für ihr Wohl tun werde, was mit dem Gesamtinteresse irgend vereinbar sei. Dieser von dem verewigten Minister in reichem Umfange betätigten sozialen Fürsorge stand eine unbeugsame Energie gegen jede Unbotmäßigkeit, Nachlässigkeit und Pflicht¬ verletzung zur Seite. Unter Butte wäre ein Eisenbahnstreik kaum denkbar ge¬ wesen, weil alle seine Angestellten hinreichende Beweise seiner Fürsorge empfangen hatten, für die sie ihm dankbar waren, sodann aber auch, weil in ihnen allen die Über¬ zeugung lebte, daß er im gegebnen Falle irgendeiner Form der Auflehnung gegen¬ über keinen Spaß verstehn werde. Dies ist für seinen Nachfolger Wohl die schwierigste Seite von Buttes Hinterlassenschaft. Tüchtige Eisenbahnfachmänner sind bei uns gottlob nicht selten, um so seltner aber die Männer, die die große Zahl der Unter- gebneu mit Vertrauen zu erfüllen, sie zugleich mit Wohlwollen und Energie zu be¬ herrschen verstehn. Es ist dies eine Eigenschaft, die bei höhern Offizieren viel eher ausgebildet ist als in der Bureaukratie. Aus diesem Grunde war in vielen Kreisen angenommen worden, der Posten werde mit einem hohen Offizier der Verkehrs¬ truppen besetzt werden. Es muß dahingestellt bleiben, welche Rücksicht aus¬ schlaggebend gewesen ist, sicherlich mit die auf die parlamentarische Betätigung. Aber auch die wasserwirtschaftlichen Fragen mußten in Betracht gezogen werden, und diese haben vielleicht mit dazu beigetragen, die Entscheidung auf den Präsi¬ denten Breitenbach zu lenken, dem die Verkehrsverhältnisse auf dem Rheine genau bekannt sind, und der sich gerade dort schon große Verdienste erworben hat. Seit längerer Zeit laufen auch Gerüchte von Veränderungen im Kultus¬ ministerium um. Sie haben in der jüngsten Zeit durch die Differenzen, in die der Minister Stube zur nationalliberalen Partei des preußische» Abgeordnetenhauses geraten war, erneute Nahrung erhalten. Es ist im Kultusministerium zur Genüge bekannt, daß ein gegen die nationalliberale Partei zustande gebrachtes Schulgesetz weder im Staatsministerium noch bei der Krone auf Zustimmung zu rechnen hätte. Ein Konflikt mit der uationalliberalen Partei läge nicht in der Richtung der vom Ministerpräsidenten vertretuen Gesamtpolitik, und zum Beispiel eine zweite Auflage des Zedlitzschen Volksschulgesetzes würde sowohl bei der Krone als im Staats¬ ministerium völlig aussichtslos sein. Aber die Bedeutung des eigentlichen Differenz¬ punktes liegt nicht in dieser Richtung. Es handelt sich darum, ob die Rektoren der Gemeindeschulen von der Regierung auf Vorschlag der Gemeinden angestellt werden oder — wie bisher — von den Gemeinden ernannt werden sollen. Die Gemeinden würden in den weitaus meisten Fällen die Rektoren aus der Zahl ihrer Lehrer wählen. Das hat den großen Vorteil, daß ein Leiter einer solchen Schule seine bisherigen Kollegen, seine Schüler und auch einen großen Teil der Eltern genau kennt, wenigstens die Bevölkerungsschichten der betreffenden Gemeinden, denen die Kinder entstammen. Die Regierung wiederum vertritt den Standpunkt, daß gerade weil die Gemeinden die Rektoren meist aus ihren Lehrern wählen, viele tüchtige Lehrer an ihrem Fortkommen gehindert würden; es sei notwendig ü n ^.liege im Interesse der Lehrerschaft wie der Schulen, daß für die Rektor- !!i ? °le geeignetsten Kräfte aus der gesamten Lehrerschaft ausgewählt werden konnten. Lehrer, die sich zum Rektor eigneten, müßten auch Aussicht haben, es ^ können. Außerdem müsse die Regierung auch die Möglichkeit haben, daß eine bei einer Schule vorhcmdne ungünstige Richtung nicht durch Forterbung innerhalb em und derselben Gemeinde gleichsam verewigt werde, es müsse die Möglichkeit besteh.,, durch Einführung frischen Blutes Abhilfe zu schaffen. Grenzboten II 1906 4z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/349>, abgerufen am 27.12.2024.