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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Zur Reform des Armenwesens

Auf dem Gebiete des Armenwesens in Deutschland standen sich seit Jahr¬
zehnten zwei Auffassungen feindlich gegenüber; die eine wollte die Heimats¬
gemeinde, die andre die Aufenthaltsgemeinde zur Grundlage nehmen. Der
Kampf zwischen ihnen endete mit der Niederlage des alten deutschen Heimat-
Prinzips, an dem nur Bayern festhielt, während im übrigen das Deutsche
Reich -- mit Ausnahme Elsaß-Lothringens") -- dem Beispiele Preußens folgte
und den Grundsatz der Aufenthaltsgemeinde annahm. In Preußen bestand
bekanntlich die Freizügigkeit schon seit den Gesetzen vom 31. Dezember 1842
zu Recht; in deren Konsequenz hatte man erkannt, daß auf dem Gebiete des
Armenwesens das Festhalten am Heimatprinzip bei gleichzeitiger Freizügigkeit
unzweckmäßig sei, daß man vielmehr die Fürsorgepflicht der Gemeinde zuweisen
müsse, in der der Unterstützungsbedürftige einen "angemessen befristeten Auf¬
enthalt" gehabt habe. Dieselben Erwägungen führten nach dem Erlaß des
Bundesgesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 auch im Reiche
dazu, das preußische System anzunehmen, wonach der Erwerb und der Verlust
des Unterstützungswohnsitzes durch mehrjährigen Aufenthalt erfolgen, weil sich
nur dieses System dem Grundsatz der vollen Freiheit des Aufenthalts und
der Niederlassung anzupassen schien. Hiernach machte das Bundesgesetz vom
6. Juni 1870 die Unterstützungspflicht zu einer Zwcmgspslicht des Orts¬
armenverbandes, worin der Hilfsbedürftige nach beendigtem vierundzwanzigsten
Lebensjahre zwei Jahre lang seinen Aufenthalt gehabt hat -- Unterstützungs¬
wohnsitz; Ehefrauen teilen den Unterstützungswohnsitz des Mannes, Kinder
den der Eltern. Verloren geht der Unterstützungswohnsitz durch zweijährige
ununterbrochne Abwesenheit nach beendigtem vierundzwanzigsten Lebensjahre
oder durch Erwerbung eines anderweitigen Unterstützungswohnsitzes. Hat ein
Hilfsbedürftiger keinen Unterstützungswohnsitz, so ist der Landarmenverband,
in dessen Bezirk die Hilfsbedürftigkeit hervortritt, unterstützungspflichtig. Be¬
sondre Bestimmungen sind über das Gesinde, die Gesellen, die Gewerbegehilfen
und die Lehrlinge getroffen worden; bei deren Erkrankung muß immer der Orts¬
armenverband des Dienstortes bis zur Dauer von sechs Wochen die Last der
Fürsorge tragen.

Die ungeahnte Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeit während der
ersten Jahre nach dem französischen Kriege brachte in Deutschland eine außer¬
ordentlich starke Bewegung der arbeitenden Bevölkerung in Gang; das Ab- und
das Zuströmen zwischen den verschiednen Gebieten, insbesondre der Zug vom
Lande nach den Großstädten erreichten eine bisher nicht dagewesne Höhe. Als
dann der wirtschaftliche Rückschlag eintrat, steigerten sich in raschem Tempo die
Anforderungen an die öffentliche Armenpflege, und die Verteilung der Armen¬
lasten zwischen Stadt und Land rief die lebhaftesten Beschwerden hervor. Auf
Kongressen und in Vereinsversammlungen, in Petitionen, in den Verhandlungen
des Reichstags und der Landtage der einzelnen Bundesstaaten, überall ertönten



Die ganz eigentümlichen Verhältnisse Elsaß-Lothringens können hier um so mehr außer
Betracht bleiben, als in der Sitzung des Landssausschusses vom 26. Januar 1906 der Statt¬
halter ihre baldige Änderung in Aussicht gestellt hat.
Zur Reform des Armenwesens

Auf dem Gebiete des Armenwesens in Deutschland standen sich seit Jahr¬
zehnten zwei Auffassungen feindlich gegenüber; die eine wollte die Heimats¬
gemeinde, die andre die Aufenthaltsgemeinde zur Grundlage nehmen. Der
Kampf zwischen ihnen endete mit der Niederlage des alten deutschen Heimat-
Prinzips, an dem nur Bayern festhielt, während im übrigen das Deutsche
Reich — mit Ausnahme Elsaß-Lothringens") — dem Beispiele Preußens folgte
und den Grundsatz der Aufenthaltsgemeinde annahm. In Preußen bestand
bekanntlich die Freizügigkeit schon seit den Gesetzen vom 31. Dezember 1842
zu Recht; in deren Konsequenz hatte man erkannt, daß auf dem Gebiete des
Armenwesens das Festhalten am Heimatprinzip bei gleichzeitiger Freizügigkeit
unzweckmäßig sei, daß man vielmehr die Fürsorgepflicht der Gemeinde zuweisen
müsse, in der der Unterstützungsbedürftige einen „angemessen befristeten Auf¬
enthalt" gehabt habe. Dieselben Erwägungen führten nach dem Erlaß des
Bundesgesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 auch im Reiche
dazu, das preußische System anzunehmen, wonach der Erwerb und der Verlust
des Unterstützungswohnsitzes durch mehrjährigen Aufenthalt erfolgen, weil sich
nur dieses System dem Grundsatz der vollen Freiheit des Aufenthalts und
der Niederlassung anzupassen schien. Hiernach machte das Bundesgesetz vom
6. Juni 1870 die Unterstützungspflicht zu einer Zwcmgspslicht des Orts¬
armenverbandes, worin der Hilfsbedürftige nach beendigtem vierundzwanzigsten
Lebensjahre zwei Jahre lang seinen Aufenthalt gehabt hat — Unterstützungs¬
wohnsitz; Ehefrauen teilen den Unterstützungswohnsitz des Mannes, Kinder
den der Eltern. Verloren geht der Unterstützungswohnsitz durch zweijährige
ununterbrochne Abwesenheit nach beendigtem vierundzwanzigsten Lebensjahre
oder durch Erwerbung eines anderweitigen Unterstützungswohnsitzes. Hat ein
Hilfsbedürftiger keinen Unterstützungswohnsitz, so ist der Landarmenverband,
in dessen Bezirk die Hilfsbedürftigkeit hervortritt, unterstützungspflichtig. Be¬
sondre Bestimmungen sind über das Gesinde, die Gesellen, die Gewerbegehilfen
und die Lehrlinge getroffen worden; bei deren Erkrankung muß immer der Orts¬
armenverband des Dienstortes bis zur Dauer von sechs Wochen die Last der
Fürsorge tragen.

Die ungeahnte Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeit während der
ersten Jahre nach dem französischen Kriege brachte in Deutschland eine außer¬
ordentlich starke Bewegung der arbeitenden Bevölkerung in Gang; das Ab- und
das Zuströmen zwischen den verschiednen Gebieten, insbesondre der Zug vom
Lande nach den Großstädten erreichten eine bisher nicht dagewesne Höhe. Als
dann der wirtschaftliche Rückschlag eintrat, steigerten sich in raschem Tempo die
Anforderungen an die öffentliche Armenpflege, und die Verteilung der Armen¬
lasten zwischen Stadt und Land rief die lebhaftesten Beschwerden hervor. Auf
Kongressen und in Vereinsversammlungen, in Petitionen, in den Verhandlungen
des Reichstags und der Landtage der einzelnen Bundesstaaten, überall ertönten



Die ganz eigentümlichen Verhältnisse Elsaß-Lothringens können hier um so mehr außer
Betracht bleiben, als in der Sitzung des Landssausschusses vom 26. Januar 1906 der Statt¬
halter ihre baldige Änderung in Aussicht gestellt hat.
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[0306] Zur Reform des Armenwesens Auf dem Gebiete des Armenwesens in Deutschland standen sich seit Jahr¬ zehnten zwei Auffassungen feindlich gegenüber; die eine wollte die Heimats¬ gemeinde, die andre die Aufenthaltsgemeinde zur Grundlage nehmen. Der Kampf zwischen ihnen endete mit der Niederlage des alten deutschen Heimat- Prinzips, an dem nur Bayern festhielt, während im übrigen das Deutsche Reich — mit Ausnahme Elsaß-Lothringens") — dem Beispiele Preußens folgte und den Grundsatz der Aufenthaltsgemeinde annahm. In Preußen bestand bekanntlich die Freizügigkeit schon seit den Gesetzen vom 31. Dezember 1842 zu Recht; in deren Konsequenz hatte man erkannt, daß auf dem Gebiete des Armenwesens das Festhalten am Heimatprinzip bei gleichzeitiger Freizügigkeit unzweckmäßig sei, daß man vielmehr die Fürsorgepflicht der Gemeinde zuweisen müsse, in der der Unterstützungsbedürftige einen „angemessen befristeten Auf¬ enthalt" gehabt habe. Dieselben Erwägungen führten nach dem Erlaß des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 auch im Reiche dazu, das preußische System anzunehmen, wonach der Erwerb und der Verlust des Unterstützungswohnsitzes durch mehrjährigen Aufenthalt erfolgen, weil sich nur dieses System dem Grundsatz der vollen Freiheit des Aufenthalts und der Niederlassung anzupassen schien. Hiernach machte das Bundesgesetz vom 6. Juni 1870 die Unterstützungspflicht zu einer Zwcmgspslicht des Orts¬ armenverbandes, worin der Hilfsbedürftige nach beendigtem vierundzwanzigsten Lebensjahre zwei Jahre lang seinen Aufenthalt gehabt hat — Unterstützungs¬ wohnsitz; Ehefrauen teilen den Unterstützungswohnsitz des Mannes, Kinder den der Eltern. Verloren geht der Unterstützungswohnsitz durch zweijährige ununterbrochne Abwesenheit nach beendigtem vierundzwanzigsten Lebensjahre oder durch Erwerbung eines anderweitigen Unterstützungswohnsitzes. Hat ein Hilfsbedürftiger keinen Unterstützungswohnsitz, so ist der Landarmenverband, in dessen Bezirk die Hilfsbedürftigkeit hervortritt, unterstützungspflichtig. Be¬ sondre Bestimmungen sind über das Gesinde, die Gesellen, die Gewerbegehilfen und die Lehrlinge getroffen worden; bei deren Erkrankung muß immer der Orts¬ armenverband des Dienstortes bis zur Dauer von sechs Wochen die Last der Fürsorge tragen. Die ungeahnte Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeit während der ersten Jahre nach dem französischen Kriege brachte in Deutschland eine außer¬ ordentlich starke Bewegung der arbeitenden Bevölkerung in Gang; das Ab- und das Zuströmen zwischen den verschiednen Gebieten, insbesondre der Zug vom Lande nach den Großstädten erreichten eine bisher nicht dagewesne Höhe. Als dann der wirtschaftliche Rückschlag eintrat, steigerten sich in raschem Tempo die Anforderungen an die öffentliche Armenpflege, und die Verteilung der Armen¬ lasten zwischen Stadt und Land rief die lebhaftesten Beschwerden hervor. Auf Kongressen und in Vereinsversammlungen, in Petitionen, in den Verhandlungen des Reichstags und der Landtage der einzelnen Bundesstaaten, überall ertönten Die ganz eigentümlichen Verhältnisse Elsaß-Lothringens können hier um so mehr außer Betracht bleiben, als in der Sitzung des Landssausschusses vom 26. Januar 1906 der Statt¬ halter ihre baldige Änderung in Aussicht gestellt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/306>, abgerufen am 27.12.2024.