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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Christentum und Airche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Die Richtung auf solche Betätigung der Religion wurde durch den Umstund ge¬
fördert, daß die Masse seiner Bekenner ans fleißigen und sparsamen Kleinbürgern
bestand. So schafft "der Calvinismus durch rationale Anspannung der Arbeit¬
leistung ohne genießende Hingabe an den Arbeitertrag den Boden für die kom¬
mende Blüte des Kapitalismus, der von Holland, dem hugenottischen Frankreich
und vor allem von England und Amerika ausgeht". Mit der Freiheit, wie sie
von manchen heutigen Liberalen verstanden wird, hat der reformierte Republi¬
kanismus nichts zu schaffen. "Der leitende Staatsmann Neuenglands, Winthrop
(gestorben 1649), definiert in einer seiner Staatsschriftcn: vivit lidert^ is libert^
de> etat, ordo, >vkiek is Aponi, Me> unä Konest. Und vor ihm hatte Hooker
erklärt, es sei das natürliche Recht der Edeln, Weisen und Tugendhaften, die
Sklavenseelen (edeln, >öl,i<zu a-ro ot servile clisxositivn) zu regieren." Das ent¬
spreche durchaus, meint Troeltsch, dem aristokratischen Gedanken der calvinischen
Prüdestination. Nach Preisgabe der kirchlichen Kultur sei die Masse der pro¬
testantischen Gebildeten heute mit Darwin und Renan beim kirchenfeindlichen
Individualismus angelangt. "Ob das alles ein so großer und reiner Fortschritt
ist, wie die Lobredner der individualistischen Kultur meinen, und wie die vom
Druck der kirchlichen Kultur Befreiten es zunächst wirklich empfanden, das ist
hier nicht zu erörtern." Wenn Troeltsch meint, der praktische Amerikaner em¬
pfinde den Widerspruch zwischen Kirchenglauben und Wissenschaft nicht, weil er,
eben als Praktiker, zu rationalistischer Konseqnenzmacherei nicht neige, und weil
er noch zu wenig gesättigt sei mit den Ideen, "die auch von der wissenschaft¬
lichen Seite her die Dogmatik auflösen", so möchte ich dazu bemerken, daß
die Volksmasse auch in der Alten Welt in diesem Sinne amerikanisch ist, daß
nur die denkenden den Widerspruch wirklich empfinden, und daß der Unglaube
der Massen, auch vieler Gebildeten, nur gedankenloses Nachplappern ist, das
man beliebt, weil man aus irgendeinem weniger idealen Grunde mit der Kirche
und ihren Leitern zerfallen ist. Goethe ist nach Troeltsch keineswegs ausschließlich
antikisierender Ästhet gewesen, sondern "eine neue Kombination der uralten Elemente
der europäischen Kultur, der Antike und des Christentums". Das Christentum,
schreibt er im Zusammenhange damit, "hat nie ohne Ergänzungen und Hinzu¬
ziehungen existiert". Sehr richtig! Ich habe oft daran erinnert, daß Jesus
seine Jünger das Salz der Erde nennt, womit gesagt ist, daß seine Religion
eine Würze, aber nicht die alles andre ersetzende Speise für die Menschenseele
ist, und gezeigt, daß das Christentum, wenn es wohltätig wirken soll, sowohl
der Antike als der weltlichen Kultur bedarf. Aber diese Elemente dürfen
wiederum nicht auf die Mitwirkung des Christentums verzichten wollen. Die
christliche Liebestätigkeit nennt Troeltsch unentbehrlich, und sie ist nicht das
einzige, womit die Kirche der Welt dient.

(Schluß folgt)




Christentum und Airche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Die Richtung auf solche Betätigung der Religion wurde durch den Umstund ge¬
fördert, daß die Masse seiner Bekenner ans fleißigen und sparsamen Kleinbürgern
bestand. So schafft „der Calvinismus durch rationale Anspannung der Arbeit¬
leistung ohne genießende Hingabe an den Arbeitertrag den Boden für die kom¬
mende Blüte des Kapitalismus, der von Holland, dem hugenottischen Frankreich
und vor allem von England und Amerika ausgeht". Mit der Freiheit, wie sie
von manchen heutigen Liberalen verstanden wird, hat der reformierte Republi¬
kanismus nichts zu schaffen. „Der leitende Staatsmann Neuenglands, Winthrop
(gestorben 1649), definiert in einer seiner Staatsschriftcn: vivit lidert^ is libert^
de> etat, ordo, >vkiek is Aponi, Me> unä Konest. Und vor ihm hatte Hooker
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Sklavenseelen (edeln, >öl,i<zu a-ro ot servile clisxositivn) zu regieren." Das ent¬
spreche durchaus, meint Troeltsch, dem aristokratischen Gedanken der calvinischen
Prüdestination. Nach Preisgabe der kirchlichen Kultur sei die Masse der pro¬
testantischen Gebildeten heute mit Darwin und Renan beim kirchenfeindlichen
Individualismus angelangt. „Ob das alles ein so großer und reiner Fortschritt
ist, wie die Lobredner der individualistischen Kultur meinen, und wie die vom
Druck der kirchlichen Kultur Befreiten es zunächst wirklich empfanden, das ist
hier nicht zu erörtern." Wenn Troeltsch meint, der praktische Amerikaner em¬
pfinde den Widerspruch zwischen Kirchenglauben und Wissenschaft nicht, weil er,
eben als Praktiker, zu rationalistischer Konseqnenzmacherei nicht neige, und weil
er noch zu wenig gesättigt sei mit den Ideen, „die auch von der wissenschaft¬
lichen Seite her die Dogmatik auflösen", so möchte ich dazu bemerken, daß
die Volksmasse auch in der Alten Welt in diesem Sinne amerikanisch ist, daß
nur die denkenden den Widerspruch wirklich empfinden, und daß der Unglaube
der Massen, auch vieler Gebildeten, nur gedankenloses Nachplappern ist, das
man beliebt, weil man aus irgendeinem weniger idealen Grunde mit der Kirche
und ihren Leitern zerfallen ist. Goethe ist nach Troeltsch keineswegs ausschließlich
antikisierender Ästhet gewesen, sondern „eine neue Kombination der uralten Elemente
der europäischen Kultur, der Antike und des Christentums". Das Christentum,
schreibt er im Zusammenhange damit, „hat nie ohne Ergänzungen und Hinzu¬
ziehungen existiert". Sehr richtig! Ich habe oft daran erinnert, daß Jesus
seine Jünger das Salz der Erde nennt, womit gesagt ist, daß seine Religion
eine Würze, aber nicht die alles andre ersetzende Speise für die Menschenseele
ist, und gezeigt, daß das Christentum, wenn es wohltätig wirken soll, sowohl
der Antike als der weltlichen Kultur bedarf. Aber diese Elemente dürfen
wiederum nicht auf die Mitwirkung des Christentums verzichten wollen. Die
christliche Liebestätigkeit nennt Troeltsch unentbehrlich, und sie ist nicht das
einzige, womit die Kirche der Welt dient.

(Schluß folgt)




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[0214] Christentum und Airche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Die Richtung auf solche Betätigung der Religion wurde durch den Umstund ge¬ fördert, daß die Masse seiner Bekenner ans fleißigen und sparsamen Kleinbürgern bestand. So schafft „der Calvinismus durch rationale Anspannung der Arbeit¬ leistung ohne genießende Hingabe an den Arbeitertrag den Boden für die kom¬ mende Blüte des Kapitalismus, der von Holland, dem hugenottischen Frankreich und vor allem von England und Amerika ausgeht". Mit der Freiheit, wie sie von manchen heutigen Liberalen verstanden wird, hat der reformierte Republi¬ kanismus nichts zu schaffen. „Der leitende Staatsmann Neuenglands, Winthrop (gestorben 1649), definiert in einer seiner Staatsschriftcn: vivit lidert^ is libert^ de> etat, ordo, >vkiek is Aponi, Me> unä Konest. Und vor ihm hatte Hooker erklärt, es sei das natürliche Recht der Edeln, Weisen und Tugendhaften, die Sklavenseelen (edeln, >öl,i<zu a-ro ot servile clisxositivn) zu regieren." Das ent¬ spreche durchaus, meint Troeltsch, dem aristokratischen Gedanken der calvinischen Prüdestination. Nach Preisgabe der kirchlichen Kultur sei die Masse der pro¬ testantischen Gebildeten heute mit Darwin und Renan beim kirchenfeindlichen Individualismus angelangt. „Ob das alles ein so großer und reiner Fortschritt ist, wie die Lobredner der individualistischen Kultur meinen, und wie die vom Druck der kirchlichen Kultur Befreiten es zunächst wirklich empfanden, das ist hier nicht zu erörtern." Wenn Troeltsch meint, der praktische Amerikaner em¬ pfinde den Widerspruch zwischen Kirchenglauben und Wissenschaft nicht, weil er, eben als Praktiker, zu rationalistischer Konseqnenzmacherei nicht neige, und weil er noch zu wenig gesättigt sei mit den Ideen, „die auch von der wissenschaft¬ lichen Seite her die Dogmatik auflösen", so möchte ich dazu bemerken, daß die Volksmasse auch in der Alten Welt in diesem Sinne amerikanisch ist, daß nur die denkenden den Widerspruch wirklich empfinden, und daß der Unglaube der Massen, auch vieler Gebildeten, nur gedankenloses Nachplappern ist, das man beliebt, weil man aus irgendeinem weniger idealen Grunde mit der Kirche und ihren Leitern zerfallen ist. Goethe ist nach Troeltsch keineswegs ausschließlich antikisierender Ästhet gewesen, sondern „eine neue Kombination der uralten Elemente der europäischen Kultur, der Antike und des Christentums". Das Christentum, schreibt er im Zusammenhange damit, „hat nie ohne Ergänzungen und Hinzu¬ ziehungen existiert". Sehr richtig! Ich habe oft daran erinnert, daß Jesus seine Jünger das Salz der Erde nennt, womit gesagt ist, daß seine Religion eine Würze, aber nicht die alles andre ersetzende Speise für die Menschenseele ist, und gezeigt, daß das Christentum, wenn es wohltätig wirken soll, sowohl der Antike als der weltlichen Kultur bedarf. Aber diese Elemente dürfen wiederum nicht auf die Mitwirkung des Christentums verzichten wollen. Die christliche Liebestätigkeit nennt Troeltsch unentbehrlich, und sie ist nicht das einzige, womit die Kirche der Welt dient. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/214>, abgerufen am 27.12.2024.