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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Mvnschenfrühling

Frau Rolands Stimme klang weich. Anneli hatte plötzlich Tränen in den
Augen, was Wohl daher kam, daß seit ihres Vaters Tode kein Mensch so sanft
mit ihr gesprochen hatte. Aber sie wischte sie verstohlen weg, und als der Kaffee
kam, das Weißbrot mit den Rosinen darin, da hätte sie sich leise in den Arm
kneifen mögen, weil sie immer wieder zweifeln mußte, daß sie in dieser fremden
Stadt so behaglich an einem kleinen Kaffeetisch sitzen und hören konnte, was Fred
Roland erzählte.

Er führte natürlich die Unterhaltung, weil er doch ein Junge und überdies
auch so klug war. Sogar seine Mutter betrachtete ihn mit Ehrerbietung, und
Anneli konnte kaum begreifen, daß er mit ihr, dem kleinen dummen Mädchen,
sprechen mochte.

Er zeigte ihr das Bild seines Urgroßvaters, der französischer Tambourmajor
gewesen, mit dem großen Kaiser Napoleon nach Deutschland gezogen und nicht
wieder weggegangen war. Freds Mutter hatte den alten Mann noch als Kind
gekannt und sich von ihm wundervolle Geschichten erzählen lassen. Von dem König
Ludwig, den der damals junge Soldat auf dem Revolutionsplatz hatte enthaupten
sehen, und von der Königin Marie Antoinette, die ebenfalls hatte sterben müssen,
weil das Volk sie nicht mehr hatte leiden können.

Ehrfurchtsvoll betrachtete Anneli eine kleine verblaßte, eben cmgetuschte Zeichnung,
die einen bärtigen Soldaten in grüner Uniform darstellte. Das war Urgroßvater
Roland, der alle diese Sachen erlebt hatte und noch unendlich viel mehr. Schlachten
in Spanien, in Rußland und in Deutschland, Siegesglanz und elende Niederlage.
Alles hatte er durchgekostet, bis er endlich uach Norddeutschland kam, dort von
vielen Wunden genas und als ehrsanier Schuster sein Leben beschloß.

Schade, daß dein Urgroßvater nicht mehr lebt! sagte Anneli, als Fred seine
Erzählung beendet hatte.

Sehr schade! bestätigte er eifrig. Mit dem hätte man noch sprechen und ihn
fragen können, was für ein Gesicht der König machte, als man ihm den Kopf
abschlug!

Fred! rief seine Mutter ermahnend; er aber wurde rot und trotzig zugleich.

Mutter, die hohen Herren taugen alle nicht viel. Ich weiß es aus der Welt¬
geschichte, und eine Republik, wo alle Leute gleich sind, ist das beste.

Auch in der Republik gibt es vornehme und geringe Leute, entgegnete Frau
Roland, aber das wollte Fred nicht glauben. Er schalt auf alle Kaiser und Könige
und endlich ans den Bürgermeister der kleinen Stadt, weil er behauptete, daß sich
dieser gerade so viel einbildete wie ein König.

Anneli verstand nicht, was er sagte, es war ihr auch einerlei. Sie glaubte
noch niemals so behaglich gesessen zu haben wie hier in diesem traulichen Stübchen
mit deu weißen Vorhängen und den Blumen an den Fenstern. Niemand ermahnte
sie oder war mit ihr unzufrieden, und sie brauchte nichts auswendig zu lernen.
Sie vergaß, wie unartig sie gewesen war, und daß die großen Mädchen gewiß
niemals wieder mit ihr sprechen würden.

Zwei Stunden dauerte dieser glückliche Zustand, dann brachte Frau Roland
die Kleine wieder auf das Schloß. Sie mußte noch zu Demoiselle Stahl, um ihr
gewaschne Morgenhauben zu bringen, und Anneli durfte das Körbchen mit seinem
kostbaren Inhalt tragen.

Vorher hatte Fred ihr noch seine Tauben gezeigt, für die er auf dem Boden
ein kleines Ställchen gezimmert hatte, und Anneli durfte die gelbe Kropftaube, die
ein so böses, und die blaue Möwe, die ein so gutes Herz hatte, bewundern. Und
zum Abschied schüttelte ihr der Junge kräftig die Hand.

So, nun darfst du auch einmal wiederkommen. Im ganzen kann ich keine
Mädchen leiden, aber daß du es uicht gleich in der ganzen Stadt ausposaunt hast,
ich wäre es gewesen, der dir den Gedanken mit der Knochenhand eingegeben hätte,
das habe ich doch anständig gefunden. Ich Habs ja nachher selbst in der Klasse-


Mvnschenfrühling

Frau Rolands Stimme klang weich. Anneli hatte plötzlich Tränen in den
Augen, was Wohl daher kam, daß seit ihres Vaters Tode kein Mensch so sanft
mit ihr gesprochen hatte. Aber sie wischte sie verstohlen weg, und als der Kaffee
kam, das Weißbrot mit den Rosinen darin, da hätte sie sich leise in den Arm
kneifen mögen, weil sie immer wieder zweifeln mußte, daß sie in dieser fremden
Stadt so behaglich an einem kleinen Kaffeetisch sitzen und hören konnte, was Fred
Roland erzählte.

Er führte natürlich die Unterhaltung, weil er doch ein Junge und überdies
auch so klug war. Sogar seine Mutter betrachtete ihn mit Ehrerbietung, und
Anneli konnte kaum begreifen, daß er mit ihr, dem kleinen dummen Mädchen,
sprechen mochte.

Er zeigte ihr das Bild seines Urgroßvaters, der französischer Tambourmajor
gewesen, mit dem großen Kaiser Napoleon nach Deutschland gezogen und nicht
wieder weggegangen war. Freds Mutter hatte den alten Mann noch als Kind
gekannt und sich von ihm wundervolle Geschichten erzählen lassen. Von dem König
Ludwig, den der damals junge Soldat auf dem Revolutionsplatz hatte enthaupten
sehen, und von der Königin Marie Antoinette, die ebenfalls hatte sterben müssen,
weil das Volk sie nicht mehr hatte leiden können.

Ehrfurchtsvoll betrachtete Anneli eine kleine verblaßte, eben cmgetuschte Zeichnung,
die einen bärtigen Soldaten in grüner Uniform darstellte. Das war Urgroßvater
Roland, der alle diese Sachen erlebt hatte und noch unendlich viel mehr. Schlachten
in Spanien, in Rußland und in Deutschland, Siegesglanz und elende Niederlage.
Alles hatte er durchgekostet, bis er endlich uach Norddeutschland kam, dort von
vielen Wunden genas und als ehrsanier Schuster sein Leben beschloß.

Schade, daß dein Urgroßvater nicht mehr lebt! sagte Anneli, als Fred seine
Erzählung beendet hatte.

Sehr schade! bestätigte er eifrig. Mit dem hätte man noch sprechen und ihn
fragen können, was für ein Gesicht der König machte, als man ihm den Kopf
abschlug!

Fred! rief seine Mutter ermahnend; er aber wurde rot und trotzig zugleich.

Mutter, die hohen Herren taugen alle nicht viel. Ich weiß es aus der Welt¬
geschichte, und eine Republik, wo alle Leute gleich sind, ist das beste.

Auch in der Republik gibt es vornehme und geringe Leute, entgegnete Frau
Roland, aber das wollte Fred nicht glauben. Er schalt auf alle Kaiser und Könige
und endlich ans den Bürgermeister der kleinen Stadt, weil er behauptete, daß sich
dieser gerade so viel einbildete wie ein König.

Anneli verstand nicht, was er sagte, es war ihr auch einerlei. Sie glaubte
noch niemals so behaglich gesessen zu haben wie hier in diesem traulichen Stübchen
mit deu weißen Vorhängen und den Blumen an den Fenstern. Niemand ermahnte
sie oder war mit ihr unzufrieden, und sie brauchte nichts auswendig zu lernen.
Sie vergaß, wie unartig sie gewesen war, und daß die großen Mädchen gewiß
niemals wieder mit ihr sprechen würden.

Zwei Stunden dauerte dieser glückliche Zustand, dann brachte Frau Roland
die Kleine wieder auf das Schloß. Sie mußte noch zu Demoiselle Stahl, um ihr
gewaschne Morgenhauben zu bringen, und Anneli durfte das Körbchen mit seinem
kostbaren Inhalt tragen.

Vorher hatte Fred ihr noch seine Tauben gezeigt, für die er auf dem Boden
ein kleines Ställchen gezimmert hatte, und Anneli durfte die gelbe Kropftaube, die
ein so böses, und die blaue Möwe, die ein so gutes Herz hatte, bewundern. Und
zum Abschied schüttelte ihr der Junge kräftig die Hand.

So, nun darfst du auch einmal wiederkommen. Im ganzen kann ich keine
Mädchen leiden, aber daß du es uicht gleich in der ganzen Stadt ausposaunt hast,
ich wäre es gewesen, der dir den Gedanken mit der Knochenhand eingegeben hätte,
das habe ich doch anständig gefunden. Ich Habs ja nachher selbst in der Klasse-


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[0166] Mvnschenfrühling Frau Rolands Stimme klang weich. Anneli hatte plötzlich Tränen in den Augen, was Wohl daher kam, daß seit ihres Vaters Tode kein Mensch so sanft mit ihr gesprochen hatte. Aber sie wischte sie verstohlen weg, und als der Kaffee kam, das Weißbrot mit den Rosinen darin, da hätte sie sich leise in den Arm kneifen mögen, weil sie immer wieder zweifeln mußte, daß sie in dieser fremden Stadt so behaglich an einem kleinen Kaffeetisch sitzen und hören konnte, was Fred Roland erzählte. Er führte natürlich die Unterhaltung, weil er doch ein Junge und überdies auch so klug war. Sogar seine Mutter betrachtete ihn mit Ehrerbietung, und Anneli konnte kaum begreifen, daß er mit ihr, dem kleinen dummen Mädchen, sprechen mochte. Er zeigte ihr das Bild seines Urgroßvaters, der französischer Tambourmajor gewesen, mit dem großen Kaiser Napoleon nach Deutschland gezogen und nicht wieder weggegangen war. Freds Mutter hatte den alten Mann noch als Kind gekannt und sich von ihm wundervolle Geschichten erzählen lassen. Von dem König Ludwig, den der damals junge Soldat auf dem Revolutionsplatz hatte enthaupten sehen, und von der Königin Marie Antoinette, die ebenfalls hatte sterben müssen, weil das Volk sie nicht mehr hatte leiden können. Ehrfurchtsvoll betrachtete Anneli eine kleine verblaßte, eben cmgetuschte Zeichnung, die einen bärtigen Soldaten in grüner Uniform darstellte. Das war Urgroßvater Roland, der alle diese Sachen erlebt hatte und noch unendlich viel mehr. Schlachten in Spanien, in Rußland und in Deutschland, Siegesglanz und elende Niederlage. Alles hatte er durchgekostet, bis er endlich uach Norddeutschland kam, dort von vielen Wunden genas und als ehrsanier Schuster sein Leben beschloß. Schade, daß dein Urgroßvater nicht mehr lebt! sagte Anneli, als Fred seine Erzählung beendet hatte. Sehr schade! bestätigte er eifrig. Mit dem hätte man noch sprechen und ihn fragen können, was für ein Gesicht der König machte, als man ihm den Kopf abschlug! Fred! rief seine Mutter ermahnend; er aber wurde rot und trotzig zugleich. Mutter, die hohen Herren taugen alle nicht viel. Ich weiß es aus der Welt¬ geschichte, und eine Republik, wo alle Leute gleich sind, ist das beste. Auch in der Republik gibt es vornehme und geringe Leute, entgegnete Frau Roland, aber das wollte Fred nicht glauben. Er schalt auf alle Kaiser und Könige und endlich ans den Bürgermeister der kleinen Stadt, weil er behauptete, daß sich dieser gerade so viel einbildete wie ein König. Anneli verstand nicht, was er sagte, es war ihr auch einerlei. Sie glaubte noch niemals so behaglich gesessen zu haben wie hier in diesem traulichen Stübchen mit deu weißen Vorhängen und den Blumen an den Fenstern. Niemand ermahnte sie oder war mit ihr unzufrieden, und sie brauchte nichts auswendig zu lernen. Sie vergaß, wie unartig sie gewesen war, und daß die großen Mädchen gewiß niemals wieder mit ihr sprechen würden. Zwei Stunden dauerte dieser glückliche Zustand, dann brachte Frau Roland die Kleine wieder auf das Schloß. Sie mußte noch zu Demoiselle Stahl, um ihr gewaschne Morgenhauben zu bringen, und Anneli durfte das Körbchen mit seinem kostbaren Inhalt tragen. Vorher hatte Fred ihr noch seine Tauben gezeigt, für die er auf dem Boden ein kleines Ställchen gezimmert hatte, und Anneli durfte die gelbe Kropftaube, die ein so böses, und die blaue Möwe, die ein so gutes Herz hatte, bewundern. Und zum Abschied schüttelte ihr der Junge kräftig die Hand. So, nun darfst du auch einmal wiederkommen. Im ganzen kann ich keine Mädchen leiden, aber daß du es uicht gleich in der ganzen Stadt ausposaunt hast, ich wäre es gewesen, der dir den Gedanken mit der Knochenhand eingegeben hätte, das habe ich doch anständig gefunden. Ich Habs ja nachher selbst in der Klasse-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/166>, abgerufen am 27.12.2024.