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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Anastasms Grün

idealer und hyperidealer Geschichtsbetrachtung, wie K, Grün sagt, "in die
transzendentale Welt übermenschlicher Hoffnungen und rosigster Zukunfts¬
träume." Er feierte hier nach Gottschalks Wort "den Lenz der ganzen Mensch¬
heit." Vier poetische Visionen schildert er uns. Trotz ihrer einheitlichen Form
sind sie durchaus verschieden voneinander. Der allen gemeinsame Grundgedanke
ist der, daß der Freiheit, so wie sie eben der Dichter versteht, die Zukunft
der Welt gehören wird. In allen vier Bildern verbindet sich seine eigentlich
lyrische und anmutig schildernde Begabung mit der tief eingewurzelten Neigung
zum politischen Erfassen des Stoffes. Es sind, wie Gottschall sie kennzeichnet,
genial komponierte "allegorische Fresken von glänzendem Kolorit, mit denen der
Dichter die Propyläen der freien Zukunft ausschmückt; es ist eine träumerische
Musik des Gedankens, die zu immer vollem Akkorden anwächst und alle Disso¬
nanzen in mächtig ergreifender Harmonie auflöst."

Im ersten Teile, dem "Turm am Strande," führt er uns auf den Boden
Italiens. Ein gefangner venezianischer Dichter büßt in traurigen: Kerkerleben
seinen Freiheitstraum. Die sehnsüchtigen Klagen, schwärmerischen Hoffnungen
und wunderbaren Phantasien des Ärmsten, der uns an Byrons Gefangnen
von Chillon erinnert, werden hier in einer herrlichen Sprache, mit fesselnden,
ganz eignem Reiz, in einer Fülle von höchst anschaulichen Bildern dargestellt.
Wie schön ist zum Beispiel das scheinbar unrichtige Bild in der Stelle, wo
der Gefangne ein Schiff in der Ferne erblickt und voll Sehnsucht ausruft:

Ergreifend ist auch der Abschluß dieses ohne Zweifel gelungensten Teils der
Gesamtdichtung. Als der gefangne Dichter nämlich endlich aus seinem Kerker-
elend befreit wird, da sind alle, die ihm im Leben lieb und wert waren, tot,
und freiwillig kehrt er mit gebrochnem Herzen in sein Verlies zurück.

Wenn hier nicht nur die Einbildungskraft, sondern much unsre Empfin¬
dungen lebhaft angeregt werden, so ist beides viel weniger der Fall in dem
zweiten Teile, einer klösterlichen Elegie, betitelt: "Eine Fensterscheibe." Ähnlich
wie der Bruder Martin in Goethes Götz fühlt der Dichter die Unnatur des
Klvsterlebens, das er in einer Reihe von Bildern vorführt. Da werden wir
in die Messe geführt, ein fluchender, greiser Mönch tritt auf, wir sehen das
üppige Gelage der Mönche, die Reihe der Äbte, erfahren von dem verfehlten
Leben eines einst frohsinnigen Studenten, der im Kloster stirbt, u. a. Der
Dichtung fehlt die straffe Gliederung, weil sie der Einheit der Situation ent¬
behrt, und der Grundgedanke vom Widersinn des Klosterlebens hat Mühe, sich
durch die Vilderfülle hindurchzuarbeiten. Aber auch hier finden wir die hohen
Vorzüge der Grünheher Muse wieder. Bilder von höchster Schönheit und
Plastischer Wirkung. Schöner und schlagender zum Beispiel kann der Gedanke
von der geistigen Unfruchtbarkeit eines bloß abstrakten Glaubenslebens nicht
ausgedrückt werden als um der Stelle, wo der Dichter das Herz eines solchen
starrgläubigcn Priesters "eine Wüste ohne Quell und ohne Rose" nennt, ans
der "die graue, tote Pyramide Gott" hervorragt.


Anastasms Grün

idealer und hyperidealer Geschichtsbetrachtung, wie K, Grün sagt, „in die
transzendentale Welt übermenschlicher Hoffnungen und rosigster Zukunfts¬
träume." Er feierte hier nach Gottschalks Wort „den Lenz der ganzen Mensch¬
heit." Vier poetische Visionen schildert er uns. Trotz ihrer einheitlichen Form
sind sie durchaus verschieden voneinander. Der allen gemeinsame Grundgedanke
ist der, daß der Freiheit, so wie sie eben der Dichter versteht, die Zukunft
der Welt gehören wird. In allen vier Bildern verbindet sich seine eigentlich
lyrische und anmutig schildernde Begabung mit der tief eingewurzelten Neigung
zum politischen Erfassen des Stoffes. Es sind, wie Gottschall sie kennzeichnet,
genial komponierte „allegorische Fresken von glänzendem Kolorit, mit denen der
Dichter die Propyläen der freien Zukunft ausschmückt; es ist eine träumerische
Musik des Gedankens, die zu immer vollem Akkorden anwächst und alle Disso¬
nanzen in mächtig ergreifender Harmonie auflöst."

Im ersten Teile, dem „Turm am Strande," führt er uns auf den Boden
Italiens. Ein gefangner venezianischer Dichter büßt in traurigen: Kerkerleben
seinen Freiheitstraum. Die sehnsüchtigen Klagen, schwärmerischen Hoffnungen
und wunderbaren Phantasien des Ärmsten, der uns an Byrons Gefangnen
von Chillon erinnert, werden hier in einer herrlichen Sprache, mit fesselnden,
ganz eignem Reiz, in einer Fülle von höchst anschaulichen Bildern dargestellt.
Wie schön ist zum Beispiel das scheinbar unrichtige Bild in der Stelle, wo
der Gefangne ein Schiff in der Ferne erblickt und voll Sehnsucht ausruft:

Ergreifend ist auch der Abschluß dieses ohne Zweifel gelungensten Teils der
Gesamtdichtung. Als der gefangne Dichter nämlich endlich aus seinem Kerker-
elend befreit wird, da sind alle, die ihm im Leben lieb und wert waren, tot,
und freiwillig kehrt er mit gebrochnem Herzen in sein Verlies zurück.

Wenn hier nicht nur die Einbildungskraft, sondern much unsre Empfin¬
dungen lebhaft angeregt werden, so ist beides viel weniger der Fall in dem
zweiten Teile, einer klösterlichen Elegie, betitelt: „Eine Fensterscheibe." Ähnlich
wie der Bruder Martin in Goethes Götz fühlt der Dichter die Unnatur des
Klvsterlebens, das er in einer Reihe von Bildern vorführt. Da werden wir
in die Messe geführt, ein fluchender, greiser Mönch tritt auf, wir sehen das
üppige Gelage der Mönche, die Reihe der Äbte, erfahren von dem verfehlten
Leben eines einst frohsinnigen Studenten, der im Kloster stirbt, u. a. Der
Dichtung fehlt die straffe Gliederung, weil sie der Einheit der Situation ent¬
behrt, und der Grundgedanke vom Widersinn des Klosterlebens hat Mühe, sich
durch die Vilderfülle hindurchzuarbeiten. Aber auch hier finden wir die hohen
Vorzüge der Grünheher Muse wieder. Bilder von höchster Schönheit und
Plastischer Wirkung. Schöner und schlagender zum Beispiel kann der Gedanke
von der geistigen Unfruchtbarkeit eines bloß abstrakten Glaubenslebens nicht
ausgedrückt werden als um der Stelle, wo der Dichter das Herz eines solchen
starrgläubigcn Priesters „eine Wüste ohne Quell und ohne Rose" nennt, ans
der „die graue, tote Pyramide Gott" hervorragt.


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[0141] Anastasms Grün idealer und hyperidealer Geschichtsbetrachtung, wie K, Grün sagt, „in die transzendentale Welt übermenschlicher Hoffnungen und rosigster Zukunfts¬ träume." Er feierte hier nach Gottschalks Wort „den Lenz der ganzen Mensch¬ heit." Vier poetische Visionen schildert er uns. Trotz ihrer einheitlichen Form sind sie durchaus verschieden voneinander. Der allen gemeinsame Grundgedanke ist der, daß der Freiheit, so wie sie eben der Dichter versteht, die Zukunft der Welt gehören wird. In allen vier Bildern verbindet sich seine eigentlich lyrische und anmutig schildernde Begabung mit der tief eingewurzelten Neigung zum politischen Erfassen des Stoffes. Es sind, wie Gottschall sie kennzeichnet, genial komponierte „allegorische Fresken von glänzendem Kolorit, mit denen der Dichter die Propyläen der freien Zukunft ausschmückt; es ist eine träumerische Musik des Gedankens, die zu immer vollem Akkorden anwächst und alle Disso¬ nanzen in mächtig ergreifender Harmonie auflöst." Im ersten Teile, dem „Turm am Strande," führt er uns auf den Boden Italiens. Ein gefangner venezianischer Dichter büßt in traurigen: Kerkerleben seinen Freiheitstraum. Die sehnsüchtigen Klagen, schwärmerischen Hoffnungen und wunderbaren Phantasien des Ärmsten, der uns an Byrons Gefangnen von Chillon erinnert, werden hier in einer herrlichen Sprache, mit fesselnden, ganz eignem Reiz, in einer Fülle von höchst anschaulichen Bildern dargestellt. Wie schön ist zum Beispiel das scheinbar unrichtige Bild in der Stelle, wo der Gefangne ein Schiff in der Ferne erblickt und voll Sehnsucht ausruft: Ergreifend ist auch der Abschluß dieses ohne Zweifel gelungensten Teils der Gesamtdichtung. Als der gefangne Dichter nämlich endlich aus seinem Kerker- elend befreit wird, da sind alle, die ihm im Leben lieb und wert waren, tot, und freiwillig kehrt er mit gebrochnem Herzen in sein Verlies zurück. Wenn hier nicht nur die Einbildungskraft, sondern much unsre Empfin¬ dungen lebhaft angeregt werden, so ist beides viel weniger der Fall in dem zweiten Teile, einer klösterlichen Elegie, betitelt: „Eine Fensterscheibe." Ähnlich wie der Bruder Martin in Goethes Götz fühlt der Dichter die Unnatur des Klvsterlebens, das er in einer Reihe von Bildern vorführt. Da werden wir in die Messe geführt, ein fluchender, greiser Mönch tritt auf, wir sehen das üppige Gelage der Mönche, die Reihe der Äbte, erfahren von dem verfehlten Leben eines einst frohsinnigen Studenten, der im Kloster stirbt, u. a. Der Dichtung fehlt die straffe Gliederung, weil sie der Einheit der Situation ent¬ behrt, und der Grundgedanke vom Widersinn des Klosterlebens hat Mühe, sich durch die Vilderfülle hindurchzuarbeiten. Aber auch hier finden wir die hohen Vorzüge der Grünheher Muse wieder. Bilder von höchster Schönheit und Plastischer Wirkung. Schöner und schlagender zum Beispiel kann der Gedanke von der geistigen Unfruchtbarkeit eines bloß abstrakten Glaubenslebens nicht ausgedrückt werden als um der Stelle, wo der Dichter das Herz eines solchen starrgläubigcn Priesters „eine Wüste ohne Quell und ohne Rose" nennt, ans der „die graue, tote Pyramide Gott" hervorragt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/141>, abgerufen am 04.07.2024.